Bundestagssitzung 170 vom 18. April 1997
Rechtschreibreform
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich rufe den Tagesordnungspunkt 17 auf: Beratung des Antrags der Abgeordneten Detlef Kleinert (Hannover), Norbert Geis, Reinhold Robbe und weiterer Abgeordneter.
Rechtschreibung in der Bundesrepublik Deutschland – Drucksache 13/7028 –
Überweisungsvorschlag: Rechtsausschuß (federführend) Auswärtiger Ausschuß Innenausschuß Ausschuß für Bildung, Wissenschaft, Forschung, Technologie und Technikfolgenabschätzung
Nach einer interfraktionellen Vereinbarung ist für die Aussprache eine halbe Stunde vorgesehen. – Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist das so beschlossen. Ich eröffne die Aussprache und gebe dem Abgeordneten Franz Peter Basten das Wort.
Franz Peter Basten (CDU/CSU): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen und Herren! Ich will der Versuchung widerstehen, mich in den Streit darüber einzumischen, ob die neue Rechtschreibung schöner, logischer, gebildeter, zeitgemäßer oder gescheiter ist als das, was bisher gilt. Ob sie allerdings einer von der Sache her gebotenen, unausweichlichen Notwendigkeit entspricht – dafür fehlen mir bis zur Stunde überzeugende Beweise. Sie kommt mir eher schlicht überflüssig vor. Und ich stehe mit diesem Urteil weiß Gott nicht allein. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Ob man Kuß in Zukunft mit ss oder, wie bisher, mit "ß" schreibt, ist vielleicht eher eine Temperamentsfrage, die mit vorrückendem Alter anders entschieden wird als in jungen Jahren. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Hauptsache, machen!) Wenn man allerdings Kommuniqué zukünftig Kommunikee schreibt, ist damit nach meinem Geschmack ein Verlust an Eleganz verbunden. Die neue Schreibweise kommt mir eher platt und ungebildet vor. Bei einigen Worttrennungen aber schüttelt es mich, zum Beispiel wenn es statt Ex-trakt Ext-rakt, statt Infil-tration Infilt-ration, statt Konzen-tration Konzent-ration oder statt Sa-krament Sak-rament heißen soll. (Heiterkeit bei der F.D.P.) Meine sehr verehrten Damen und Herren, der Geist Gottes weht, wo er will – jedenfalls nicht unbedingt und zu allen Zeiten bei den deutschen Kultusministern. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Die Reform wurde Anfang Dezember 1995 von den Kultusministern beschlossen und Mitte Dezember 1995 von den Ministerpräsidenten abgesegnet. Bis zur Einspruchsfrist am 5. März 1996 hat kein deutsches Parlament widersprochen, keines der 16 Länderparlamente und auch nicht der Deutsche Bundestag. Die Bundesregierung soll zustimmend genickt haben. Auch das muß um der Wahrheit willen am heutigen Tage deutlich festgestellt werden. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Weiß man, welches Mitglied der Bundesregierung?) Nach einer Phase des Tiefschlafs von fast einem Jahr kam dann der Aufstand der deutschen Dichter. Noch länger hat der Bundestag gebraucht bis zu seinem Gruppenantrag vom Februar 1997. Die Länderparlamente ruhen noch immer in Frieden. Kultusminister Zehetmair hat zu Recht festgestellt, daß der Konferenzbeschluß vom Dezember 1995 regele, wie das deutsche Volk schreibt. Wie das deutsche Volk schreibt, hat etwas damit zu tun, daß die Sprache, auch die geschriebene, ein grundlegendes Identitätsmerkmal des gesamten deutschen Volkes ist, wie Rupert Scholz es zutreffend formuliert. Menschliche Sprache markiert äußerlich den alles entscheidenden qualitativen Sprung von der übrigen Schöpfung zum Menschen. Sprache ist für die Persönlichkeit des Menschen, für sein Wesen, für sein Menschsein schlechthin konstitutiv. Deshalb sind, ob nun zu spät gekommen oder nicht, Verfassungsfragen aufgerufen, die sich mit dem Hinweis auf die Uhr nicht beiseite schieben lassen. Grundrechte sind betroffen. Fragen nach dem Gesetzesvorbehalt für wesentliche Grundentscheidungen, welche die Bevölkerung betreffen, sind aufgeworfen. Dies gilt freilich auch dann, wenn man die Reform für überflüssig hält. Sie entfaltet schließlich wesentliche Wirkungen. Die Verfassung kommt im übrigen nie zu spät. Entweder werden Fehlentscheidungen rechtzeitig durch den Gesetzgeber korrigiert, oder Verfassungs- und Verwaltungsgerichte korrigieren selbst. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Wenn in dem Zusammenhang Kultusministerien davon sprechen, die verbindliche Regel gelte nur für die Schule, außerhalb der Schule könne jeder schreiben, wie er wolle, also alt oder neu, (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Unerhört!) dann ist das eine Lachnummer. (Beifall bei der F.D.P.) Denn vor dem Hintergrund der von zahllosen Lehrergenerationen mit Inbrunst gepredigten Schulweisheit, daß wir nicht für die Schule, sondern für das Leben lernen, stellt sich die Frage nach dem Sinn – oder besser: nach dem Unsinn – dieser Reform nur noch um so schärfer. (Zustimmung bei der F.D.P.) Goethe, der nach Meinung eines renommierten deutschen Germanistikprofessors die Rechtschreibreform ebenfalls für überflüssig halten würde, (Heiterkeit) hatte es viel einfacher. Dem jungen Frankfurter Goethe hat dessen Schreiblehrer die für Frankfurt geltende südwestdeutsche Norm beigebracht. Später, in Weimar, hat Goethe geschrieben, wie in Leipzig und Dresden geschrieben wurde. Das Meißenische galt in jener Zeit als vorbildlich. Die Kultusminister können allerdings nicht so tun, als würden sie in Goethes Zeiten leben. Heute ist das Bedürfnis nach einheitlichen Regeln und Verbindlichkeiten unbestritten. Das entspricht den gewandelten Anschauungen, aber auch den völlig veränderten Anforderungen an Funktionen von Sprache, insbesondere der geschriebenen Sprache. Aber das alles entfaltet Rechtswirkungen. Da muß an Grundrechten sowie Rechtsstaats- und Demokratieprinzipien Maß genommen werden. Diese Hürden können auch durch exekutive Omnipotenzgefühle von 16 Kultusministern nicht überwunden werden. Wenn das Bundesverfassungsgericht den Gesetzesvorbehalt bereits für die Einführung des Sexualkundeunterrichts reklamiert hat und wenn das Bundesverwaltungsgericht sogar für die Einführung einer Pflichtfremdsprache in der Orientierungsstufe eine gesetzliche Grundlage verlangt, dann muß die Frage, wie das Volk schreibt, im Hinblick auf eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage zumindest einer ernsthaften Prüfung unterzogen werden. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Diese Frage aufgeworfen zu haben ist die verdienstvolle Initiative des Kollegen Kleinert zum Gruppenantrag, dem sich namhafte Kolleginnen und Kollegen angeschlossen haben. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Damit ist die parlamentarische Debatte eröffnet. Nicht abschließend beantwortet ist allerdings die Frage, ob die Gesetzgebungskompetenz der Länder oder sogar des Bundes gegeben ist. Professor Rupert Scholz vertritt mit beachtlichen Hinweisen die Auffassung, die Frage, wie das Volk schreibe, und die Angelegenheit der mit Sprache verbundenen Identität des Volkes könnten nur von dem für das ganze Volk zuständigen Gesetzgebungsorgan entschieden werden. Das ist der Deutsche Bundestag. Ich habe in diesem Punkte keine abschließende Meinung. Ich bin im Hinblick auf das Vorliegen einer Bundeskompetenz für die gesamte Rechtschreibreform eher skeptisch. Aber ich stelle folgende Überlegung an: Wenn eine Länderkompetenz für die Rechtschreibreform gegeben ist, dann kann sie sich nur aus einer allgemeinen Länderkompetenz für die Sprache ableiten. Besteht aber eine solche, dann können 16 Länderparlamente souverän über Sprache entscheiden. Sie könnten dann – wie sie Sexualkundeunterricht einführen oder nicht – auch unterschiedliche Regelungen für das finden, was an der Sprache richtig oder falsch zu sein hat. Es gibt aber nur eine deutsche Sprache und keine Ländersprachen. Daraus könnte man die Schlußfolgerung ziehen, daß kraft Natur der Sache nur der Bund für die Regeln der deutschen Sprache in Deutschland Gesetzgebungskompetenz besitzt. Die Gesetzgebungskompetenz kraft Natur der Sache ist zwar in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnt, jedoch als Verfassungsgrundsatz durch das Bundesverfassungsgericht längst anerkannt. Ich nenne einen anderen Ansatzpunkt, der zumindest in einem speziellen Zusammenhang Bundeskompetenz im Hinblick auf deutsche Sprache offenkundig macht. Der Bund besitzt über Art. 74 Abs. 1 Nr. 1 des Grundgesetzes die konkurrierende Gesetzgebungskompetenz über die Gerichtsverfassung. Von dieser Kompetenz ist durch das Gerichtsverfassungsgesetz Gebrauch gemacht. $ 184 GVG lautet: Die Gerichtssprache ist deutsch. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Interessanter Gesichtspunkt!) Wenn also der Bundesgesetzgeber über die Kompetenz verfügt, die deutsche Sprache als Gerichtssprache anzuordnen, dann schließt das denknotwendig auch die Entscheidungskompetenz darüber mit ein, in welcher Schreibweise und äußerer Darstellungsform die Gerichtssprache Deutsch zuzulassen ist. (Hildebrecht Braun [Augsburg] [F.D.P.]: Wenn es Thüringisch wäre!) – Warten Sie ab. – Läge die Entscheidungskompetenz über die Gerichtssprache nicht beim Bund, sondern bei den Ländern, so könnte niemand den Sächsischen Landtag daran hindern, zu bestimmen, daß zum Beispiel alle Entscheidungen des sächsischen Verfassungsgerichtshofes in Sächsisch abzufassen seien. Ich könnte mir durchaus Leute vorstellen, die das mit einer konsequenten Fortentwicklung der föderalen Struktur Deutschlands begründen würden. In Rheinland-Pfalz, meinem Heimatland, müßte das Ganze wohl dreisprachig erfolgen: in Moselfränkisch, in Rheinhessisch und in Pfälzisch. Aber Spaß beiseite. Alles, was sich der karikierenden Versuchung so aufdrängt wie diese Rechtschreibereform, sollte eher dreimal gründlich hinterfragt werden. Ich wage keine abschließende verfassungsrechtliche Beurteilung. Eines jedoch wird offenbar: Landesregierungen, Länderparlamente, Bundesregierung und Bundestag sind in ihrem Kompetenzbereich betroffen und müssen zusammenwirken. Denn so, wie sich die Kultusminister in exekutiver Ausschließlichkeit die Regelung vorgestellt haben, kann sie sich wohl nicht vollziehen. Ich rate daher den Landesregierungen dazu, von der Durchsetzung der Beschlüsse einstweilen abzulassen und sich mit der Bundesregierung zusammenzusetzen. Der Bundesregierung gilt mein Rat, auf die Landesregierungen zuzugehen. Die Parlamente müssen sich unterdessen mit der Sache auseinandersetzen. Der Umgang mit der deutschen Sprache gelingt nur im Konsens. Ich bin sicher, daß sich die Ausschußberatungen im Deutschen Bundestag an dieser Leitlinie orientieren werden. Vielen herzlichen Dank. (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe das Wort der Abgeordneten Liesel Hartenstein.
Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich möchte in dieser Debatte nicht zu den juristischen und schon gar nicht zu den verfassungsrechtlichen Fragen Stellung nehmen. Das werden andere Kollegen tun, die dies besser können. Mein Vorredner hat ja schon einige Bemerkungen dazu gemacht. Ich denke jedoch, daß der interfraktionelle Antrag zur Rechtschreibreform und die heutige Debatte ihren Sinn verfehlen würden, wenn nicht auch zur Sache selbst einiges gesagt werden könnte. Deshalb gleich meine erste Feststellung. Die Bedeutung und die Dimension dieser Reform sind in der Politik und auch in der Öffentlichkeit lange Zeit weit unterschätzt worden. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN) Nur so ist es zu erklären, daß sich erst nach dem Beschluß der Kultusministerkonferenz und der Ministerpräsidenten der Länder und zum Teil erst in jüngster Zeit der Protest eine Stimme verschafft hat – der Protest zahlreicher namhafter Schriftsteller, darunter Günter Grass, Siegfried Lenz, Martin Walser, der Widerspruch bekannter Verlage und Printmedien und vor allen Dingen der Protest, der darin seinen Niederschlag findet, daß wir auf unseren Schreibtischen Hunderte von Elternbriefen vorfinden, daß Bürgerinitiativen entstehen und sogar Volksbegehren gefordert werden. Nur so, nämlich aus dieser Unterschätzung heraus, ist es auch zu erklären, daß sich die Kultusministerkonferenz auf den Standpunkt stellen konnte, bei der Neufassung der Rechtschreibung sei eine Regelung durch Verwaltungsvorschriften ausreichend, ähnlich wie bei Richtlinien oder Lehrplänen. Hierin, so meine ich, steckt eine erhebliche Verkennung dessen, was mit dieser Reform geschieht, und sogar (Beifall bei der SPD und der F.D.P.) – ich will noch einen Schritt weitergehen – eine grundsätzliche Verkennung dessen, was Sprache, auch geschriebene Sprache, für unsere Gesellschaft bedeutet. Die Erklärung der KMK vom 27. Februar dieses Jahres bleibt noch ganz auf dieser Linie. Es handle sich, so wird gesagt, nur um eine maßvolle Anpassung einer Konvention mit dem Ziel einer Bereinigung und der Herstellung einer neuen Übersichtlichkeit. Die Neuregelung berühre nicht die Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger. Der Befassung durch die Parlamente bedürfe es nicht. Ich widerspreche dem nachdrücklich. (Beifall bei der SPD sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU, des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN und der F.D.P.) Wenn die Debatte heute eines bewirken kann, dann dies, das Vorhaben der Rechtschreibreform aus dem Klima der Unerheblichkeit herauszuführen, in das es durch das bisherige Verfahren hineinmanövriert worden ist. Wir müssen uns wieder an eine Grundwahrheit erinnern, die lautet: Sprache ist nicht nur das zentrale Kommunikationsmittel zwischen den Menschen, sondern Sprache ist Ausdrucksmittel für Lebensgehalte. Sie ist das Ausdrucksmittel schlechthin, mit dem der Mensch die Welt einzufangen versucht und mit dessen Hilfe er sich mit ihr auseinandersetzt. Von der Sprache als eigenem, lebendigem, historisch gewachsenem Organismus ist in der Erklärung der KMK aber viel zuwenig, fast gar nicht die Rede. Ich bedauere das. In der Sprache, auch im Schriftbild spiegelt sich die Fülle der geographischen, kulturellen und sozialen Verflechtungen, spiegeln sich vor allem auch die vielfältigen Einflußfaktoren unserer Geschichte wider. Es scheint fast, als ob solche Gesichtspunkte völlig außen vor geblieben seien. Ich komme darauf bei dem Stichwort Fremdwörter noch einmal zurück. Mit dem Reformunterfangen, so meine ich, wird der Körper unserer Sprache verändert. Er erleidet Eingriffe. Er wird verformt. Dies soll nicht wichtig sein? Meine zweite Feststellung lautet daher: Die Rechtschreibreform betrifft 100 Prozent unserer Bevölkerung, also über 80 Millionen Menschen. Nimmt man Österreich und den deutschsprachigen Teil der Schweiz hinzu, dann sind es 95 Millionen Menschen. Alle sollen sich nun einfach umstellen, ihren Sprach- und Schreibgebrauch verändern, nach dem Jahre 2005 sogar in die Ecke der Falschschreiber geraten? Und das alles deshalb, weil einige Dutzend Wissenschaftler und Politiker verfügen, daß eine Menge von dem, was bisher allgemeinverbindlich war, anders zu sein habe. Die Argumente für die verordneten Änderungen sind zum großen Teil nicht überzeugend und treffen – glaubt man den Umfragen – bei einem großen Teil der Bevölkerung auf Unverständnis. Das ist nicht verwunderlich. Natürlich muß eingeräumt werden, daß die deutsche Sprache – und auch ihr schriftliches Erscheinungsbild, also die Orthographie – eine Menge Ungereimtheiten enthält. Wer wollte das bestreiten? Ich wiederhole: Sprache ist nun einmal keine abstrakte Konstruktion, die mit mathematischen Formeln vergleichbar wäre. Die KMK sagt, die Reform solle a) Inkonsequenzen beseitigen, b) das Regelwerk transparenter machen, c) das Erlernen des richtigen Schreibens erleichtern. Es verstärkt sich aber der Eindruck, daß diese Ziele auf weiten Strecken nicht erreicht werden können. (Beifall bei der F.D.P.) Erstes simples Beispiel. Warum in aller Welt, frage ich, soll aus dem Stengel einer Glockenblume jetzt plötzlich ein Stängel werden, als ob irgend jemand an eine Eisen- oder Holzstange dächte, wenn er dieses Wort verwendet? Ich meine, das ist wirklichkeitsfremd, pure Theorie und deshalb schlicht überflüssig. In das sogenannte Stammprinzip sind die Reformer nachgerade verliebt. Deshalb soll aus dem beliebten Quentchen Glück, das wir alle so sehr brauchen, ein Quäntchen werden, und zwar in Anlehnung an das Quantum, obwohl die sprachhistorische Ableitung mir sagt, das stimme nicht; denn das Wort kommt nicht von Quantum, sondern von Quent, einer kleinen in Deutschland bis in das 19. Jahrhundert gebräuchlichen Maßeinheit. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Sehr aufmerksam!) Zweites Beispiel. Man muß sich wirklich fragen, wozu eine doch recht willkürlich anmutende Verstümmelung von Fremdwörtern eigentlich gut sein soll. Das Känguruh darf sein h nicht behalten, obwohl jedes Kind weiß, daß es sich um ein exotisches Tier handelt. Der Thunfisch hat mit dem deutschen Wort tun überhaupt nichts zu tun; aber das h muß weg. Wieso eigentlich? Gerade heute – jetzt wird es wieder ernst –, im Zeitalter des Massentourismus, der Globalisierung und der offenen Grenzen, wo fast jedes Kind zumindest Englisch lernt, soll die Schreibweise von Fremdwörtern eingedeutscht werden. Gerade heute, wo die enge Vermischung der Kulturen im Zug der Zeit liegt und dies in vielen Bereichen von der Sprache aufgenommen wird, sollen die Spuren in der Rechtschreibung verwischt werden. Das ist für mich schlicht ein Anachronismus. Warum soll man der deutschen Sprache nicht ansehen, daß sie zahllose Wörter beispielsweise in der Sportwelt aus England übernommen hat oder daß sie das Ketchup, den Cocktail und das Okay von den Amerikanern geliehen hat. Ganz zu schweigen von der französischen Sprachinvasion des 17. und 18. Jahrhunderts? Die Kommode, das Menü, das Dessert, den Friseur, das Portemonnaie, das Restaurant – das alles haben uns die Franzosen geliefert, mitsamt der Mode. Das ist doch ein Stück unserer Geschichte. Davon wollen wir uns überhaupt nicht verabschieden. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. – Ulrich Irmer [F.D.P.]: Nicht zu vergessen die Spaghetti!) – Auch das. Das Wort ist aber nicht aus dem Französischen, soviel ich weiß. Eines der Hauptargumente lautet, die Rechtschreibreform solle das Erlernen des richtigen Schreibens erleichtern. Kann mir jemand sagen, warum es leichter sein soll, das Wort Necessaire jetzt mit vier s und einem ä zu schreiben statt in der gewohnten französischen Schreibweise? Ich weiß es nicht. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P.) Konsequent bleibt die Reform auch hier nicht. Denn die Schreibweise vieler schwieriger Fremdwörter bleibt erhalten: Chrysantheme, Rhythmus usw. Etwas folgenreicher noch erscheint mir die Reform, wenn es um das totgewünschte "ß" und um die Zeichensetzung geht. Daß lange oder kurze Silben große Bedeutungsunterschiede markieren können, wissen wir: Er trinkt den Wein in Maßen ist etwas ganz anderes, als wenn es heißt Er trinkt den Wein in Massen. (Heiterkeit) Das sind sicherlich zwei Paar Stiefel. Aber darum geht es jetzt nicht. Vielmehr geht es darum, daß das "ß" nach der neuen Regelung zwar erhalten bleibt, aber seine Anwendung eher komplizierter wird, nicht einfacher. Eine der größten Fehlerquellen in der deutschen Rechtschreibung hat man beispielsweise darin entdeckt, daß es den Schülern und vielen Erwachsenen schwerfällt –, die Schreibweise des Artikels das und der Konjunktion daß" ordentlich zu unterscheiden. Der erste Versuch war also: Weg damit! Da dies doch nicht sonderlich ratsam erschien, heißt die salomonische Lösung jetzt: Die Konjunktion daß" wird mit ss geschrieben. Das bedeutet aber, daß kein Weg daran vorbeiführt, den Unterschied zwischen einem Artikel und einer einen Nebensatz einleitenden Konjunktion erlernen zu müssen. Wo bleibt da die Erleichterung? Ich habe den Eindruck, unsere Schüler begreifen das. Wir sollten sie doch nicht unterschätzen. Hochproblematisch ist meines Erachtens die Reduzierung der Anzahl der Kommaregeln von 52 auf neun. Das möchte ich doch noch kurz vortragen. Nicht daß hier keine vertretbaren Vereinfachungen möglich wären – die gibt es wohl. Aber wenn man das Kind mit dem Bade ausschüttet, dann entstehen einschneidende Konsequenzen für die gesamte Struktur unserer Sprache und für das Ausdrucksvermögen. Denn die Zeichensetzung markiert ja die geistige Gliederung des Satzes, Überordnungen und Unterordnungen, Einfügungen usw. Je komplexer ein Gedanke ist, desto komplexer werden halt auch die Sätze und desto unverzichtbarer die Satzzeichen zu ihrer Gliederung. Ich frage – danke, Herr Präsident, für die Toleranz; ich bin gleich fertig –: Wie sollte man einen Thomas Mann, einen Heinrich von Kleist oder einen Immanuel Kant verstehen, wenn die Sätze nicht durch Satzzeichen gegliedert wären? Es ist ja eine Verarmung, wenn wir das einfach abschaffen. (Beifall bei der F.D.P. – Katrin Fuchs [Verl] [SPD]: Das finde ich allerdings auch!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, trotz Ihrer Begeisterung: Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Kurzum: Das radikale Wegstreichen von mehr als drei Vierteln der Kommaregeln führt zu einer schwereren Verständlichkeit der Sprache, vielleicht zu fatalen Mißverständnissen. Es reduziert die Ausdrucksmöglichkeiten. Was das Gravierendste ist – erlauben Sie mir noch, das zu sagen, Herr Präsident –: Simplere Satzkonstruktionen machen letztlich auch das Denken ärmer. Das sollten wir nicht vergessen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Frau Kollegin, Sie müssen zum Ende kommen.
Dr. Liesel Hartenstein (SPD): Das tue ich. Die Sprache formt auch die Gesellschaft. Das sollten wir als Fazit festhalten. Sie wird als Muttersprache an die nächsten Generationen weitergegeben. Deshalb ist eine Änderung des Schriftgebrauchs auch eine Änderung des Sprachgebrauchs. Eine Rechtschreibreform kann daher kein bloßer Verwaltungsakt sein, sondern betrifft die Gesellschaft im Kern, auch jeden einzelnen. So gesehen ginge es vielleicht doch um ein Grundrecht. Danke schön. (Beifall bei der SPD, der CDU/CSU und der F.D.P. sowie der Abg. Dr. Christa Luft [PDS])
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe das Wort dem Abgeordneten Dr. Helmut Lippelt.
Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Frau Hartenstein, ich habe mich sehr über Ihre lebendige Sprache gefreut. Aber die Amtssprache in der Begründung des Antrags, den Sie unterstützt haben, können Sie wohl nicht vertreten. Lesen Sie das einmal richtig durch! (Dr. Liesel Hartenstein [SPD]: Also müssen wir das umschreiben!) Ich habe in alten Familienbriefen geblättert. Wenn meine Urgroßeltern durch Thüren und Thore gingen, gingen sie durch ein Thal von Thränen; denn hinter jedes t mußten sie ein h, das berühmte Dehnungs-h, setzen. Meine Großeltern durften darauf verzichten, mußten aber den Merkvers lernen: Tränen weint man ohne h, der Thron steht unbeschädigt da. Denn auf alle hs wollte Wilhelm II. gern verzichten, nur beim Thron, da hörte der Spaß auf. Das kommt mir so ein bißchen vor wie diese Diskussion, in der man sich jetzt zum Souverän über die Sprache erklärt. (Beifall des Abg. Volker Beck [Köln] [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN] – Zuruf des Abg. Walter Hirche [F.D.P.]) – Sie kriegen noch Ihr Fett weg. Als sich der selige Konrad Duden 1872 daranmachte, eine einheitliche Rechtschreibung zu schaffen – der Einheit des Reiches sollte die Einheit der Rechtschreibung folgen –, ging er von einem löblichen Grundsatz aus: Man solle schreiben, wie man spricht. Auch das ging nicht ganz ohne Ausnahmen. In der Zeit des beweglichen Letternsatzes hatte man für das st nur eine schmale Letter. Deshalb mußten wir alle den Merkvers lernen: Trenne niemals s vom t, das tut weh. Deshalb muß sich der bedauernswerte Kollege Heistermann bis heute Hei-stermann trennen, während sich der progressive Kollege Wiefels-pütz immer trennen durfte, wie er sich spricht. Die jetzige Rechtschreibreform hatte ein hehres Ziel: Der letzte große Anachronismus, den es nur noch in Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt, sollte im Zeitalter der Globalisierung aufgegeben werden: die Großschreibung zugunsten der gemäßigten Kleinschreibung. So ist es in England und überall in der Welt. Aber da kamen den Kultusministern wilhelminische Bedenken. So blieb nur ein kleines Reförmchen übrig. Aber auch das ist es wert, mit den Kultusministern – von Zehetmair, CSU, bis Holzapfel, SPD – verteidigt zu werden; denn es erspart den Lehrern immer noch viel rote Tinte und den Schülern Monate unnötiger Regelpaukerei, in denen sie ihre Intelligenz in einer sich dramatisch verändernden Welt wichtigeren Gegenständen des Lebens zuwenden dürfen. Das ist das Problem, Frau Hartenstein. Wir alle lernen Rechtschreibung im Alter von fünf bis zehn Jahren. Dann denken wir: Das ist das einzig Richtige. Aber die Sprache – Sie sagten es doch – verändert sich, deshalb muß gelegentlich eine Regelvereinfachung her. Das ist das Mühsame. (Walter Hirche [F.D.P.]: Das ist keine Vereinfachung!) – Ja, das denken Sie, weil Sie sich nicht damit beschäftigt haben (Walter Hirche [F.D.P.]: Natürlich, Herr Lippelt!) Zwei Beispiele: Kollege Heis-termann darf sich endlich auch trennen, wie er sich spricht, und zweitens und viel wichtiger – jetzt komme ich auf Ihr Thema –: Unsere Schüler dürfen endlich das tun, was englische und amerikanische Schüler – ebenso wie Grass, Walser und andere Dichter, die jetzt ebenfalls wilhelminisch lärmen – schon immer taten: Sie dürfen die Kommata nach Sinnzusammenhängen setzen und die Regelpaukerei vom erweiterten und einfachen Infinitiv, vom Infinitiv mit zu und um zu vergessen. Wie nötig und sinnvoll dies ist, zeigt der vorgelegte Antrag. Ich zitiere aus der Begründung. Da findet sich der ganze Absatz 3 als ein sich über zwölf Zeilen erstreckender Bandwurmsatz. Und wie das dann bei solcher Art von Sätzen ist, ohne entsprechende Kommasetzung ist er kaum verständlich. Also konzentrieren sich die Verfasser so sehr auf die Kommata, daß ihnen der Sinnzusammenhang verlorengeht. So – Herr Hirche, selbst Sie haben es nicht bemerkt – lesen wir dann – auf die tragende Konstruktion des Hauptsatzes verkürzt –: Der geäußerten Ansicht . . . wird dem Zusammenhang . . . nicht gerecht. Deutsche Sprach, schwere Sprach, Herr Kollege Kleinert. (Ulrich Irmer [F.D.P.]: Das ist eine Frage des Stils, nicht der Rechtschreibung!) – Verzeihen Sie, Sie haben es immer noch nicht kapiert. Hier wird Ansicht mit einem maskulinen Artikel gebraucht.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege Lippelt, Ihre Redezeit ist abgelaufen. (Zurufe von der CDU/CSU und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN: Das ist aber schade!)
Dr. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Okay. (Dr. Wolfgang Weng [Gerlingen] [F.D.P.]: Beantragen Sie doch, Ihre Redezeit zu verlängern! Wir stimmen zu! – Beifall bei der PDS) Herr Präsident, ich beantrage noch eine Minute Redezeit. (Heiterkeit und Beifall im ganzen Hause)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Eine Minute. Helmut Lippelt (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Richtig dagegen ist der Artikel des drittletzten Absatzes: Die Ansicht des Bundesverfassungsgerichts . . . geht davon aus, daß die Benutzer zumindest zweier . . . unterschiedlicher Rechtschreibungen ohne Störung des gesellschaftlichen Miteinanders auf mehrere Jahre miteinander leben . . . könnten. Gemeint ist die Liberalität, zwei Rechtschreibungen nebeneinander existieren zu lassen. Aber da sagen die Verfasser: Dieser Ansicht wird nicht gefolgt. Zu Deutsch: Die Gesellschaft bricht unter diesem kleinen Reförmchen zusammen. Nein, diesem Antrag, vor allem aber der verknöcherten Sprache der Begründung, wird in diesem Hause hoffentlich nicht gefolgt. (Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD und der PDS)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe dem Abgeordneten Detlef Kleinert das Wort.
Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Herr Präsident! Meine sehr verehrten Damen, meine Herren! So schön wie Frau Hartenstein und Herr Basten kann ich mich zur Sache selbst hier nicht einlassen. Ich bin ja von Herrn Lippelt auch wegen meiner Satzkonstruktionen eben schon gerügt worden. Aber auch in diesem Punkt seien Sie doch so nett und lassen ein bißchen Liberalität walten. Der eine drückt sich eben etwas komplizierter aus und der andere etwas leichter. Nur, Beliebigkeit ist vielleicht der deutschen Sprache doch nicht ganz angemessen. In einigen Nebensätzen klang das bei Ihnen so an: sich wichtigeren Dingen zuwenden; zwei Sprachen über einige Jahre nebeneinander haben. Es handelt sich ja nicht um ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts, das Sie hier zitiert haben, sondern um einen Beschluß, mit dem die Klage in dem Zeitpunkt aus den ausgeführten Gründen nicht für zulässig gehalten worden ist. Wir werden einmal sehen, ob wir in diesem Zusammenhang noch zu einem Urteil, das naturgemäß insgesamt gründlicher erarbeitet wird, kommen. Bedauernswert ist es, daß diejenigen – nämlich unsere Kultusminister –, die für die politische Bildung unserer nachwachsenden Generation in besonderer Weise zuständig sind, hier mit einer unbegreiflichen Großzügigkeit an allem vorbeigehen, was schon ganz speziell im Hinblick auf kultusministerielle Aktivitäten vom Verfassungsgericht und von anderen oberen Bundesgerichten gesagt worden ist. Wir haben den Wesentlichkeitsgrundsatz. Den müßte man eigentlich gar nicht so kompliziert als Wesentlichkeitsgrundsatz formulieren. Vielmehr müßte jedem, der in unserer Demokratie großgeworden ist, klar sein, daß Dinge von erheblicher Bedeutung für uns alle – das ist schon dargestellt worden – nicht einfach so mir nichts dir nichts im undurchsichtigen Bereich von Erlassen und Verordnungen der Tätigkeitsfreude von Ministerialbeamten anheimgegeben werden dürfen, sondern daß man zu diesem Zweck die Bürger Vertretungen in den Parlamenten hat wählen lassen, die sich auch mit dieser Frage beschäftigen sollten. Daß das nicht geschehen ist, ist bedauerlich. Aber was heißt hier bedauerlich? Wir tun es ja gerade. Es ist notwendig und auch nicht zu spät. Es ist schon gesagt worden: Für die Verfassung ist es nie zu spät. Wenn ich mich in der Sache selbst mangels ausreichender germanistischer und philologischer Kenntnisse nicht einlasse, dann erkenne ich doch jedenfalls das, was alle Bürger betrifft. Durch eine ganz penible, detaillierte neue Ordnung wird über Jahrzehnte eine neue Unordnung geschaffen. Das kann doch nicht Sinn der Veranstaltung sein. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der SPD) Das kann es nicht sein! Diese Unordnung entsteht so leicht, wenn man in sehr kleinen Kränzchen so eine Reform ausknobelt und nach jahrzehntelangen Konferenzen zum Schluß nicht zugeben möchte – Herr Lippelt, Sie haben ja selbst gesagt, daß einmal Größeres angedacht worden war –, daß das alles vergebens war. Darum hat man dann diesen völlig unzulänglichen Kompromiß beschlossen und will ihn möglichst unauffällig und ohne die notwendige Beteiligung der Volksvertretungen in die Tat umsetzen. Es ist nun einmal das Rechtsstaatsprinzip in Art. 20 Abs. 3 und das Demokratieprinzip in Art. 20 Abs. 2 Satz 1 in unserer Verfassung festgeschrieben. Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern richtet sich gemäß Art. 28 des Grundgesetzes nach eben diesen Prinzipien. Das sind die Punkte, die uns Veranlassung geben, uns jetzt wirklich in einem transparenten und ordentlichen Verfahren zu unterrichten, wie das alles zustande gekommen ist und wie wir damit zum Wohle aller betroffenen Bürger umgehen sollen. Da soll uns niemand, der 20 Jahre lang an so einer Sorte von Reform herumgearbeitet hat, sagen, wir kämen zu spät, wenn wir jetzt nach den ersten Veröffentlichungen im Herbst letzten Jahres und den ersten sachkundigen Äußerungen dazu die rechtliche Seite der Sache betrachten, weil die Verfasser dies bedauerlicherweise unterlassen haben. Es offenbart schon einen erheblichen Mangel an wünschenswerter Aufrichtigkeit, wenn die gleichen Kultusminister, die genau wissen, was sie hier anrichten, und deshalb möglichst schnell vollendete Tatsachen schaffen möchten, sagen: Wir sind nur für die Schule zuständig, und woanders können die Schüler schreiben, wie sie wollen. – Das ist doch nicht die Lebenswirklichkeit. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU) Der liberale Abgeordnete Dr. Stephani hat am 7. April 1880 – es ist erst wenig mehr als hundert Jahre her – im Deutschen Reichstag gesagt: Allerdings sind zur Zeit diese Verordnungen ja beschränkt auf Anordnungen für die Schule, in der Hauptsache wenigstens. Indes wird man doch anerkennen müssen, daß es ganz unmöglich ist, so die Schule vom Leben zu trennen, daß nicht mit diesen Verfügungen die außerhalb der Schule Stehenden ebenso stark in Mitleidenschaft gezogen werden wie die Schulen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, denken Sie an Ihre Redezeit.
Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): So sprach unser Kollege damals im Reichstag. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Das ist die Wirklichkeit. Deshalb fühlen wir uns dringend veranlaßt, hier unsere Pflicht zu tun zusammen mit all denen, die sich in Initiativen zusammengeschlossen haben, um sich gegen etwas zu wehren, das zu wenig Nutzen bringt, um so viel Aufwand und Milliardenkosten zu rechtfertigen, und dafür zu sorgen, daß wir klarer sehen und zu einem vernünftigen Ergebnis kommen.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Herr Kollege, Ihre Redezeit ist abgelaufen.
Detlef Kleinert (Hannover) (F.D.P.): Das vernünftige Ergebnis ist meiner Auffassung nach darin zu sehen, daß sich die deutsche Sprache pfleglich und behutsam im Zusammenwirken aller weiterentwickelt, die sich überhaupt dafür interessieren und damit beschäftigen, so wie das bisher auch ohne Kultusministerbeschlüsse möglich gewesen ist. (Beifall bei der F.D.P. und der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich gebe der Abgeordneten Maritta Böttcher das Wort.
Maritta Böttcher (PDS): Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Nachdem noch 1994 ein breiter gesellschaftlicher Konsens in Deutschland, Österreich und der Schweiz über die Notwendigkeit einer Rechtschreibreform herrschte, (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Ministerialer Konsens!) soll nun der Bundestag über einen Antrag befinden, in dessen Begründung davon ausgegangen wird, daß Regelungen in dieser Frage von so wesentlicher Bedeutung sind, daß sie nicht ohne Mitwirkung der Parlamente entschieden werden können. Für die Amtssprache des Bundes ist demzufolge der Bundestag und für die Amtssprache der Länder sind die Länderparlamente zuständig. Gleichzeitig wird die Auffassung vertreten, daß die Rechtschreibung einer gesetzlichen Regelung nicht bedürfe. Also was denn nun? Worüber sollen wir eigentlich entscheiden? In der Geschichte gibt es jedenfalls kein Beispiel dafür, daß Parlamente Rechtschreibreformen beschlossen oder boykottiert hätten. Seit 1901 gab es ungefähr 100 Rechtschreibreformprogramme und -forderungen, um die unnötig kompliziert gewordene Rechtschreibung zu vereinfachen. 1954 gab der Sprachwissenschaftler Lutz Mackensen ein Rechtschreibwörterbuch heraus, in dem alte Zöpfe abgeschnitten und Neuschreibungen ohne amtliche Legitimierung aufgenommen waren. Daß die vorliegende Reform nur die gröbsten Mißstände beseitigt und ein radikaler Neuanfang vermieden wurde, wird selbst von den Reformern nicht bestritten. Neuerungen wie die gemäßigte Kleinschreibung oder das konsequente Eindeutschen von gängigen Fremdwörtern konnten auch diesmal nicht durchgesetzt werden. Die Probleme, die diesbezüglich aber in der weiteren Entwicklung zu lösen sind, können durch Parlamentsbeschlüsse weder befördert noch verhindert werden. Im Gegensatz zum Regelwerk von 1901, dessen politische Basis das Kaiserreich war, wo Regeln erlassen werden konnten, bei denen von vornherein feststand, daß sie von der Mehrheit nicht beherrscht werden, haben wir es heute mit demokratisch verfaßten Gesellschaften in Deutschland, Österreich und der Schweiz zu tun. Hermann Zabel ist in der Auffassung zuzustimmen, daß aus dem Demokratiegebot auch Konsequenzen für die Rechtschreibung folgen: Rechtschreibregeln dürfen und können sich nicht ausschließlich an den Bedürfnissen von Schreibspezialisten orientieren, sondern müssen so strukturiert sein, daß sie nur die bis zum Abschluß der Pflichtschulzeit vermittelten Fähigkeiten voraussetzen. Aufbauend auf diesen Basisregeln müssen Möglichkeiten der differenzierten Rechtschreibung und Zeichensetzung enthalten sein, um den Anforderungen von Schreibprofis Rechnung zu tragen. Dieses Problem wird auch von den Reformern gesehen, weshalb eine zwischenstaatliche Kommission eingerichtet wurde, die die Aufgabe hat, die Umsetzung der Reform in Wörterbüchern und Schulbüchern zu analysieren und sachlich abzuarbeiten. (Detlef Kleinert [Hannover] [F.D.P.]: Hat sich vertagt!) Im übrigen – das wurde hier deutlich – wird seit über 20 Jahren über diese Reform diskutiert. Das ist eigentlich ein Armutszeugnis. Kultusministerkonferenz und Bundesinnenministerium sind seit 1950 in Sachen Rechtschreibreform tätig, ohne daß Mitglieder des Bundestages daran Anstoß genommen hätten. In den betroffenen Nachbarländern versteht übrigens kein Mensch den Wirbel, der in Deutschland um die Reform, die ihren Namen nicht verdient, um das Reförmchen gemacht wird. Weder Grundrechte der Bürgerinnen und Bürger noch die deutsche Sprache sind bedroht. Aus linguistischer Sicht – das gebe ich gerne zu – kann man geteilter Meinung sein. Da wäre allerdings mehr Reform besser gewesen. Danke. (Beifall bei der PDS)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Meine verehrten Kollegen, mir ist gesagt worden, daß ein Antrag auf Verlängerung der Debattenzeit gestellt werden soll. Ich mache darauf aufmerksam, daß wir die vereinbarte Redezeit durch Hinnehmen von Redezeitüberschreitungen schon um eine Viertelstunde überzogen haben. Nun frage ich, ob Anträge gestellt werden. – Das ist offenbar nicht der Fall. (Widerspruch bei der F.D.P.) – Ich frage noch einmal, ob Anträge gestellt werden. – Ich sehe und höre keinen Antrag. Dann schließe ich die Aussprache. (Zurufe von der F.D.P.) – Bitte schön?
Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Ich stelle den Antrag auf Verlängerung der Debattenzeit zu diesem Punkt. (Zuruf von der SPD: Er hat die Aussprache geschlossen!)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Um wieviel Zeit?
Carl-Ludwig Thiele (F.D.P.): Zehn Minuten. (Widerspruch bei der SPD)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Gibt es weitere Anträge zur Geschäftsordnung? – Das ist nicht der Fall. Dann treten wir in die Abstimmung ein. Wer dem Antrag auf Verlängerung der Debattenzeit um zehn Minuten zustimmt, den bitte ich um das Handzeichen. – Gegenprobe! – Das erste war die Mehrheit. Dann ist das so beschlossen. Liegen Wortmeldungen vor? – Herr Kollege Häfner, bitte, Sie haben das Wort.
Gerald Häfner (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN): Verehrter Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Zunächst bedanke ich mich herzlich für die Möglichkeit, nun doch hier zu sprechen. Ich will mich deutlich kürzer fassen, als die jetzt beschlossene zusätzliche Debattenzeit erlauben würde. Ich möchte nur deutlich machen, daß ich in dieser Frage eine völlig andere Auffassung vertrete als mein geschätzter Fraktionskollege Helmut Lippelt, (Dr. Helmut Lippelt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Und die Fraktion, Gerald; das mußt du schon sagen!) dessen Beitrag ich nichtsdestotrotz gerade in sprachlicher, aber auch in gedanklicher Hinsicht sehr goutiert habe. Mir ist vor allen Dingen folgendes wichtig: Die deutsche Sprache hat sich bisher, wenn wir einmal von weit zurückliegenden sprachregulierenden Maßnahmen – etwas im Jahre 1901 – absehen, nicht deshalb entwickelt, weil Kommissionen, Minister, Regierungen irgend etwas vorgeschrieben haben. Sprache gehört ihrem Wesen nach nicht Kommissionen, gehört nicht Regierungen, sondern gehört den Menschen, und sie entwickelt sich ständig mit diesen und durch diese Menschen. (Beifall bei der F.D.P.) Sprache verändert sich. Daß ich heute Foto häufig mit F schreibe und es noch in meiner Schulzeit mit Ph geschrieben hätte, liegt nicht daran, daß mir ein Minister vorgeschrieben hätte, ich solle das künftig anders schreiben. Vielmehr liegt es daran, daß sich die Sprache und auch die Schreibweise verändert haben. Bisher hat der Duden solche Veränderungen beobachtend aufgezeichnet, und ihm war irgendwann zu entnehmen: Jetzt sind zwei Schreibweisen möglich. Irgendwann hieß es dann: Inzwischen ist diese oder jene Schreibweise üblich. Das war alles von einer ministeriellen Vorschrift weit entfernt. Jetzt haben wir den erstmaligen und, wie ich finde, bemerkenswerten Vorgang, daß die Exekutive der Länder glaubt, Sprache bzw. Schrift amtlich regulieren zu müssen. Dazu sage ich ganz deutlich: Das ist noch nicht einmal eine Reform, die irgend etwas verbessert; Beispiele dazu sind vielfach gebracht worden. Es ist vielmehr eine Reform, die vieles verschlimmert, (Zustimmung bei der F.D.P.) weil es doch keinem Menschen einleuchtet, warum ich in Zukunft zum Beispiel hoch begabt auseinander, hochgebildet aber zusammen, hoch qualifiziert wieder auseinander, dafür hochgelehrt wieder zusammenschreiben soll. All dies ist vollständig unsinnig und leuchtet keinem Menschen ein. Es leuchtet auch keinem Menschen ein, warum ich bisher fließen, floß" und Fluß" jeweils mit scharfem S geschrieben habe, zukünftig aber – der Vereinfachung und der Erleichterung wegen, wie man uns erzählt – fließen nach wie vor mit scharfem S, dagegen floss mit Doppel-s und Fluss auch mit Doppel-s schreiben muß. Es fehlt die Logik, es fehlt die Klarheit. Auch beim sogenannten Stammwortprinzip sind die Vorschriften widersinnig. Sie alle kennen das Wort einbleuen. Niemand wird mich vergewaltigen, dies künftig mit "ä" zu schreiben, wo das Wort doch von bleuen, also schlagen, kommt, was zum Beispiel noch in dem Wort Pleuel als Wortstamm lebt und mit der Farbe blau, wie man uns vormachen will, überhaupt nichts zu tun hat – allenfalls im Ergebnis, aber keinesfalls im Prozeß. – Also, das sind vollständig unsinnige Pseudo-Reformen. Es ärgert mich, daß hier nach einer Methode, die wir in der Politik leider oft haben, nämlich nach dem Motto Augen zu und durch oder Kopf in den Sand, ignoriert wird, daß 90 Prozent der Menschen im Land sagen: Wir wollen das nicht, daß auch die Österreicher sagen: Wir haben das eigentlich nie wirklich gewollt; wenn Deutschland das nicht macht, machen wir das auch nicht, daß die Schweizer in ähnlicher Richtung diskutieren, daß in immer mehr Bundesländern gegen diese erklärende Reform Volksbegehren laufen und daß nur eine kleinere Kommission und die Minister den Kopf in den Sand stecken und sagen: Watt mut, dat mutt. Ich sage: Das sollten wir nicht zulassen. Ich bin – nebenbei – auch nicht der Meinung, daß der Bundestag über die Rechtschreibung entscheiden sollte. Ich bin vielmehr der Auffassung, daß es Bereiche gibt, bei denen sich die Politik zurückhalten muß; es gibt drei Bereiche, die die Politik nichts angehen. Dazu gehört unsere Sprache. Die wird sich weiterhin frei entwickeln und verändern, wenn wir Politiker nur die Finger davonlassen. Das setzt aber voraus, daß endlich auch die Kultusminister davon ablassen, und das setzt voraus, daß wir über den Antrag und über unsere Handlungsmöglichkeiten in vernünftiger Weise beraten, weshalb auch wir uns für dessen Überweisung aussprechen. Ich bedanke mich. (Beifall bei der F.D.P. sowie bei Abgeordneten der CDU/CSU und der SPD)
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Ich erteile dem Abgeordneten Irmer das Wort.
Ulrich Irmer (F.D.P.): Herr Präsident! Ich möchte mich nicht zur Sache äußern; ich möchte vielmehr den Antrag stellen, daß der Antrag, der hier eingebracht worden ist, an die in der Tagesordnung vorgesehenen Ausschüsse überwiesen wird.
Vizepräsident Dr. Burkhard Hirsch: Es liegt ein weiterer Antrag zur Geschäftsordnung vor. Bitte, Herr Weng.
Dr. Wolfgang Weng (Gerlingen) (F.D.P.): Herr Präsident! Unter den Geschäftsführungen der Fraktionen und der Gruppe bestand Einmütigkeit, daß als zusätzlicher mitberatender Ausschuß der Haushaltsausschuß des Bundestages vorgesehen werden soll. Ich möchte dies hier beantragen.
Dr. Burkhard Hirsch: Gibt es weitere Wortmeldungen oder Anträge? – Das ist erfreulicherweise nicht der Fall. Damit schließe ich die Aussprache. Interfraktionell wird die Überweisung der Vorlage auf der Drucksache 13/7028 an die in der Tagesordnung aufgeführten Ausschüsse sowie an den Haushaltsausschuß vorgeschlagen. – Ich sehe und höre keinen Widerspruch. Dann ist es so beschlossen. Wir sind damit am Ende unserer Tagesordnung. Ich berufe die nächste Sitzung des Bundestages auf Mittwoch, den 23. April 1997, 13 Uhr ein. Die Sitzung ist geschlossen. (Schluß der Sitzung: 13.52 Uhr)
|