Re: Rückkehr zur alten Rechtschreibung unsinnig?
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Rainer Petersen
Liebe Forumsteilnehmer,
gerade habe ich mich zur Teilnahme am Forum registriert und den Benutzerregeln zugestimmt, dass ich nichts Böses oder Hass ausdrückendes schreiben werde. Anlass waren die zahlreichen, durchaus nachdenklich stimmenden wie auch berechtigten und erheiternden Beiträge im Forum. Aber eine Partei gründen...?
Ihr Hass auf die Rechtschreibreform sprengt doch gebündelt betrachtet einige Grenzen, ...
Willkommen unter den Forumsteilnehmern, lieber Herr Petersen! Nun, das mit der Parteigründung war wohl eher ein Gedanke am Rande...
Ihre Bemerkung zum hier wahrnehmbaren Haß auf die Rechtschreibreform hat mich überrascht; meinen Sie das wirklich ernst? Natürlich gibt es hin und wieder ironische oder bissige Bemerkungen, aber der überwiegende Tenor der Diskussion ist m. E. sehr sachbezogen. Ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn Sie ein oder zwei Beispiele nennen können, bei denen Ihnen der Haß" besonders aufgefallen ist, denn ich plädiere immer für eine sehr sachbezogene Diskussion ohne Polemik; an die Kategorie Haß" habe ich bislang nie gedacht. Zitat: ... wobei man natürlich nicht vergessen sollte, dass durch die NEUE Rechtschreibung einiges an Sprachkultur verlorengegangen ist, was auch ich teilweise bedauere.
Ich denke, daß das einer der entscheidenden Aspekte ist: Man darf bei dieser Rechtschreibreform eben nicht nur an rechtschreibliche, sondern man muß auch an sprachliche Aspekte denken. Wie etwa sollen die Kinder die Sprache richtig erlernen, wenn die Struktur derselben von der Rechtschreibung verstellt wird?
Dies geschieht insbesondere bei den neuen Getrenntschreibungen. Ich halte es beispielsweise für unverantwortlich und unzumutbar, Kindern die (Neu-) Schreibung »so genannt« für das Adjektiv »sogenannt« beizubringen, die offenbar aus dem Adverb »so« und dem Partizip »genannt« besteht (schon die unterschiedlichen Wortarten zeigen eigentlich, daß es sprachlich so nicht aufgeht). Wenn man sich einmal überlegt, wie die deutsche Sprache funktioniert, dann merkt man, daß bei »so genannt« ein bezugsloses »so« auftaucht -- so wie bei »so genannt« wird dieses Wort sonst nie verwendet, denn der Bezugspunkt für ein »so« liegt (fast) immer in einem anderen Satz oder Satzteil und nicht in demselben (es sei denn, er wird explizit genannt, wie etwa in diesem Satz).
Man könnte sagen, daß damit lediglich eine neue Verwendung des Wortes »so« entstanden sei, wie sich ja auch sonst der Sprachgebrauch im Laufe der Zeit ändere (Beispiel: »Das macht keinen Sinn«). Aber diese Änderung geht nicht auf eine schleichende Entwicklung der Gewohnheiten, sondern auf die Rechtschreibreform zurück, und da frage ich mich, ob eine Rechtschreibreform das darf: Darf eine Rechtschreibreform die Grammatik einer Sprache verändern? Darf eine Rechtschreibreform die Bedeutung von Wörtern einer Sprache verändern? Darf eine Rechtschreibreform den Wortschatz einer Sprache verändern? Meines Erachtens muß die Antwort auf diese drei konkreten Fragen nein lauten. Was meinen Sie, lieber Herr Petersen? Zitat: Da ich als akademisch geprüfter Dolmetscher/Übersetzer recht stolz auf mein Wissen über die zahlreich gelernten Regeln der alten Rechtschreibung war, fühle ich mich nun veranlasst, gerade den Parteigründern/Vereinsgründern/Miesmachern an anderen Stellen in diesem Forum einige Bedenken mitzuteilen:
Nur zu! Bitte bringen Sie bei passender Gelegenheit weitere Argumente für die Untermauerung Ihres Standpunktes an! Zitat: Seit rund acht Jahren gebe ich Nachhilfeunterricht in Deutsch (alle Klassen-/Schulstufen ab 5. Klasse) und hatte es während der allmählichen Umstellung auf die neue Rechtschreibung nicht immer leicht, die (fehlende) Logik einiger Neuregelungen nachzuvollziehen.
Was schlagen Sie vor, das bezüglich der in der Neuregelung fehlenden Logik unternommen werden soll? Dazu aber zunächst: Was verstehen Sie darunter konkret; an welchen Stellen ist Ihnen dieser Mangel aufgefallen? Zitat: Dennoch ist eine Rückkehr zur alten Schreibform nicht mehr erstrebenswert, denn:
1. Die Fehler aus einigen Zeitungsartikeln, die hier zu Recht lächerlich gemacht werden, sind in solcher oder ähnlicher Form auch schon in der alten Rechtschreibung gemacht worden.
Das bringt m. E. lediglich zum Ausdruck, daß, solange es Rechtschreibregeln gibt, auch Rechtschreibfehler gemacht werden und es insbesondere immer jemanden geben wird, der sie nicht oder nur bruchstückhaft beherrscht. Daraus folgt aber zweierlei: Zum einen ist es irreführend, eine die Rechtschreibung verändernde Reform (und eben nicht, wie von Herrn Ickler zwischenbemerkt, lediglich eine Verbesserung der Regeldarstellung und -auslegung zu veranlassen) mit der Motivation durchzuführen, sie solle gleichzeitig behutsam sein und eine massive Fehlerreduzierung erreichen (und außerdem sind dann vorher und nachher nicht mehr vergleichbar, weil sich die gemachten Fehler auf andere Regeln beziehen). Zum anderen zeigt sich daran konkret, daß es eben mit der durch die 1996er Reform vesprochenen Vereinfachung nicht so weit her ist, wie es versprochen wurde.
Diese Sammlung von Beispielen könnte man leicht als Anti-Propaganda mißverstehen; das ist sie aber nicht. Vielmehr handelt es sich in meinen Augen um eine Entlarvung der mit der Reform verbundenen Versprechen als Propaganda (wem dieses Wort nicht paßt, kann gern ein anderes einsetzen; es läuft aber vermutlich aufs gleiche hinaus). Zitat: 2. Das Schulsystem hat sich größtenteils auf die neue Rechtschreibung umgestellt, sodass den Schülern oder den Rechtschreibung neu lernenden Erwachsenen bei Rückkehr zur alten absolute Verwirrung drohte, da
- die Regelung der Schreibung von ss/ß nun logischer nachvollziehbar geworden ist (langer/kurzer Vokal etc.),
- die Groß- und Kleinschreibung wesentlich konsequenter und folgerichtiger geregelt ist
- und trotz der verbleibenden Ungereimtheiten im neuen Regelwerk die Menge der somit zu lernenden Ausnahmen geringer ist als bei der alten Rechtschreibung.
Dazu: - Nur von den wirklich von der Pike auf die Reformschreibung lernenden Schüler würde etwas Neues verlangt werden, nicht aber von den umlernenden Erwachsenen, da sie die alte (besser: herkömmliche) Orthographie kennen und die meisten ihrer Bücher (wenn sie denn welche besitzen) in dieser gedruckt sind.
- Daher ist auch nicht zu erwarten, daß irgend jemandem eine absolute Verwirrung droht, denn dieser Zustand liegt bereits vor: Man findet in der Öffentlichkeit und in aktuell zu kaufenden Büchern ein sehr breites Spektrum verschiedener Schreibungen vor, und quasi keine davon entspricht zu 100% der Neuregelung; außerdem darf bezweifelt werdem, daß die Schulkinder diese 100% Reformschreibung beigebracht bekommen (was eigentlich der Fall sein sollte), da dies davon abhängt, wie gut die jeweilige Lehrkraft es beherrscht.
- Die Regelung der Schreibung von ss/ß ist m. E. nur scheinbar logischer nachvollziehbar geworden, weil sich zum einen an den vielen Beispielen zeigt, daß sie in der Anwendung trotz des so einfachen Prinzips (»langer/kurzer Vokal etc.« -- worauf bezieht sich das etc.? Das ist wichtig!) zu vielen neuen Fehlern führt, zum anderen sich ihre Regeldarstellung enorm verkompliziert hat -- wegen der Lautorientierung müssen alle Ausnahmen explizit erwähnt werden (das ist m. E. das etc.)! Für eine komplette Erfassung aller Fälle muß man die Paragraphen 2, 4 (für 'ss' oder 's'), 23 und 25 (für 'ß' oder 's') des Regelwerkes bemühen. Vergleichen Sie das einmal mit der Darstellung der herkömmlichen Schreibung bei Herrn Ickler (§§ 3 und 4)!
Das Problem mit der reformierten ss/ß-Regel liegt m. E. darin, daß sie das Problem nur verschoben hat: Wie ich gerade angab, müssen dabei die Alternativen "'ss' oder 's'" bzw. "'ß' oder 's'" geprüft werden, d. h. eine mögliche Schreibung mit 's' ist immer ein Problem. Bei der herkömmlichen Schreibung gibt es nur die Alternative "'ß' oder 's'", weil der Fall des 'ss' nur als echtes Silbengelenk vorkommt und also durch eine Trennprobe leicht zu identifizieren ist. -- Für eine ausführliche Darstellung meiner Sicht auf die reformierte S-Laut-Schreibung siehe die Sammlung: Probleme der ss/ß-Schreibung (letzte Seite, Beitrag Kritik auf zwei Ebenen sowie ergänzende Bemerkungen).
- Die Groß- und Kleinschreibung ist in einigen Fällen in grammatisch unhaltbarer Weise geregelt; folgende Schreibungen fallen beispielweise darunter: Leid tun, Not tun, Recht haben, Feind sein, im Voraus, morgen Abend. Alle hier großgeschriebenen Wörter erfüllen nicht die geltenden (d. h., die reformierten!) Regeln für die Großschreibung, weil sie in den hier aufgeführten Fällen keine Substantive sind. Sie werden also den Regeln zum Trotz groß geschrieben (bzw. sind die Regeln, die ihre Großschreibung verlangen, fehlerhaft -- grammatisch gesehen).
- Was die Anzahl der zu lernenden Ausnahmen bei herkömmlichen und der reformierten Rechtschreibung betrifft, wage ich kein Urteil abzugeben. Was sich aber bezüglich einer zu lernenden Anzahl von Schreibungen im reformierten Regelwerk hervorheben läßt, ist die Regel § 34 (1): Hier werden (in einer sogenannten geschlossenen Liste) genau 92 -- ich nenne sie einfach mal so -- Anfagsbestandteile von Verben genannt, bei deren Vorliegen zusammengeschrieben wird. Man muß also, um diese eine Regel richtig zu machen, selbige 92 Partikel auswendig kennen, wenn man nicht ständig nachschlagen will. Außerdem ist diese Liste unvollständig: Herr Ickler hat darauf hingewiesen, daß man außerdem im amtlichen Wörterverzeichnis noch Zusammenschreibungen mit drunter-" und drüber-" findet (vgl. den Diskussionstrang dtv-Wahrig-Eisenberg, speziell den Beitrag Ungereimtes). -- Halten Sie das für lehr- bzw. lernbar, Herr Petersen?
Zitat: Die auf der Homepage der Zeit veröffentlichte Erläuterung und Begründung (von Dieter E. Zimmer), wo in der Wochenzeitung die alte und neue Rechtschreibung angewandt wird, ist für mich eigentlich der bestbegründetste Kompromiss in dieser Beziehung.
Den Kommentar von Herrn Ickler zur Dieter-E.-Zimmerschen Hausorthographie der ZEIT findet man unter http://www.rechtschreibreform.com/Seiten2/Wissenschaft/951IcklerZEIT.html (siehe die Rubrik Aufsätze am linken Seitenrand; aber bitte nicht auf das Auf klicken -- dann gelangt man auf die falsche Seite --, sondern auf sätze). Zitat: Auch ich habe hier und da manchmal Unsicherheiten und jemanden, der seine Sprache hundertprozentig beherrscht, gibt es einfach nicht. Haben Sie noch nie Flüchtigkeitsfehler gemacht?
Eben. Das macht alles nichts und ist damit irrelevant -- sowohl bezüglich der herkömmlichen wie der reformierten Rechtschreibung. Ich erwarte aber, daß ich beim Befolgen der Rechtschreibregeln sprachlich brauchbare und sinnvolle -- und vor allem keine falschen! -- Sätze zu Papier bringe. Bei der reformierten Rechtschreibung entstehen die Fehler aber nun einmal nicht nur dadurch, daß ich sie aus Unwissenheit oder Unkonzentriertheit mache -- die Regeln schreiben sie mir vor! Zitat: Mit allem gebührenden Respekt: auch Sie hier sind längst nicht so konservativ, wie Sie den Anschein erwecken, denn die meisten Forumsbeiträge machen regelmäßig keinen korrekten Gebrauch des Präteritums und ziehen den bastardisierten und mittlerweile auch von einigen Grammatik-Veröffentlichungen akzeptierten Gebrauch des Perfekts vor.
Wenn wir zur alten Rechtschreibung zurückkehren wollen, dann bitte richtig.
Bitte nehmen Sie mir die Pingeligkeit nicht übel, aber es geht bei der Rücknahme der Rechtschreibreform wirklich nur darum, die Rechtschreibregeln zu korrigieren, nicht um eine Sprachkorrektur! Zitat: Hoffe, niemanden an den Karren gefahren zu haben, denn, wie gesagt respektiere ich Ihren vorbildlichen Einsatz.
Ich hoffe, Sie durch meine ausführlichen Antworten nicht verschreckt zu haben, und auch ich ... Zitat: [b]in gespannt auf Reaktionen. Viele Punkte ließen sich weiter ausführen, doch das, was mir am meisten am Herzen lag, wollte ich einmal auf diese Weise zur Diskussion stellen.
Und ich füge hinzu: Daß ich die neue Rechtschreibung nicht mag, ist wohl klar -- aber nur, weil ich sie für danebengelungen halte. Von Haß kann keine Rede sein (auch wenn einem gelgentlich die Wut kommt -- aber die bezieht sich auf die Politik und ihren [Nicht-] Umgang mit dem Problem), hier geht es um Argumente! Zitat: Liebe Grüße aus Niedersachsen
Rainer Petersen
Grüße retour aus Jena!
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Jan-Martin Wagner
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