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Christian Melsa
23.04.2001 21.54
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Demonstration des Scheiterns

Gleich am nächsten Tag fand ich beim Lesen einiger weniger Artikel im Abendblatt wieder einige Auffälligkeiten. Ich schrieb dazu wiederum etwas, damit es nicht hinterher hieße, es handele sich um kein grundsätzliches Phänomen.

Subject: Demonstration des Scheiterns
Date: Mon, 23 Apr 2001 03:18:08 +0200
From: Christian Melsa
To: briefe@abendblatt.de

Nachschlag:

Bei der Lektüre des aktuellen Abendblatt-Wochenendjournals bin ich wieder auf ein paar orthographische Sonderbarkeiten gestoßen. Ich führe Ihnen das aus, damit Sie nicht eventuell etwa meinen, der konkrete Anlaß meines letzten Briefes („Spottreif“) sei eine Ausnahmeerscheinung gewesen, daher hier ein „kleines“ Supplement (die Materie gebietet die Ausführlichkeit). Nehmen wir zunächst einmal den Titelartikel „In der Kaserne wird nicht gekuschelt“. Dort finde ich das Wort „wehrkraftzersetzend“ – seltsam, müßte das nicht nach Reformregeln obligatorisch getrennt geschrieben werden? Von der Existenz eines Verbs, das im Infinitiv „wehrkraftzersetzen“ lautet, wird doch wohl kaum ausgegangen. Der erste Bestandteil kann auch nicht für eine Wortgruppe stehen. Weiter unten im selben Artikel begegnet man wiederum einem „allein stehend“. Hm. Ja, was denn nun? Gut, solche Wörter wie „aufsehenerregend“ sind in den neuesten Wörterbüchern inzwischen wieder restauriert, man muß annehmen, weil sie als ganze Ausdrücke steigerbar bzw. erweiterbar sind, obwohl es eine solche Regel im Reformwerk (noch) nicht gibt. Allerdings ist auch „schwerbehindert“ wieder zugelassen (hätte wg. §36 (5) eigentlich auch nie getrennt geschrieben werden dürfen, da nicht auf Infinitiv „schwer behindern“ beruhend, steht aber trotzdem schon so in der offiziellen Wörterliste der Neuregelung), warum sollte man dann nicht auch „alleinstehend“ schreiben? Beides sind verbreitete, klassifizierende Begriffe, wie z.b. auch „fleischfressend“ (gleichfalls wieder erlaubt), die alle übrigens schwerlich als steiger- oder erweiterbar angesehen werden können. Witzigerweise hat man „sogenannt“ bisher dennoch nicht wiederhergestellt. Was für geheimnisvolle allgemeingültige, womöglich segensreich vereinfachende Kriterien mögen wohl dahinter stecken? Aus der Neuregelung geht doch zwingend hervor, daß adjektivisch gebrauchte Zusammensetzungen mit Partizipien immer getrennt geschrieben werden – es sei denn, der erste Bestandteil steht für eine Wortgruppe, ist eine der knapp 100 Partikeln aus §34 (1) oder ein verblaßtes Substantiv, bildet im Infinitiv mit dem Verb eine untrennbare Zusammensetzung, kommt einzeln als Wort nicht vor oder ist nicht steiger- bzw. erweiterbar. Bestechend simpel, nicht wahr? Sollte jeder Hauptschüler problemlos kapieren können und aufseufzen vor Wonne des Dankes für diese Erleichterung gegenüber der schlimmen alten Rechtschreibung... Doch wo besteht in bezug darauf der Unterschied zwischen „allein stehend“ und „wehrkraftzersetzend“? Ist es nicht grotesk, ausgerechnet allseits bekannte Begriffe unscharf getrennt zu schreiben, als wäre die Kenntnis dieser Wörter einem Durchschnittsschreiber nicht zuzutrauen? Wie könnte er aber dann auf die Idee kommen, sie zu schreiben? Offensichtlich einzig und allein in Schuldiktaten. Als Leser zumindest muß man sie ja auch kennen, sonst wäre es sogar total unmöglich, die getrennte Schreibweise korrekt zu verstehen. Könnte natürlich auch sein, daß ich ganz falsch damit liege, mich an der Reformregelung zu orientieren, vielleicht müßte ich Ihre besondere Hausorthographie und deren möglicherweise vorhandenen übergeordneten Regeln kennen, um diese (vermeintliche?) Unebenheit zu begreifen. Es ist nur schwierig, da eine klare Linie zu entdecken: Einerseits meint man eine Tendenz zu den bisherigen Schreibweisen der alten Rechtschreibung ausmachen zu können, doch andererseits verwendet das Abendblatt selbst dort, wo die Reformschreibung ausdrücklich Varianten zuläßt, die ungewöhnliche Version: beispielsweise „Potenzial“. Eigentlich müßte man also Schüler davor warnen, das Abendblatt zu lesen, da sie dort mit Schreibweisen konfrontiert werden, die von dem abweichen, was ihnen in der Schule beigebracht und dort von ihnen erwartet wird (allerdings auch nur dort). Ähnlich bedenklich, als würden sie auf die gefährliche Idee kommen, sich ein Buch in traditioneller Orthographie aus der Bücherhalle zu leihen! Im Abendblatt und den meisten anderen Zeitungen finden sie im Gegensatz dazu jedoch weder Fisch noch Fleisch vor. Das alles ist seit 1996 (verstärkt seit 1999) für Schüler ja leider ein orthographischer Verwirrungsherd. Man könnte dieses Problem zwar ganz einfach beseitigen, indem in der Schule die moderne, reale Schriftsprache unterrichtet wird, die in Büchern in riesiger Mehrheit vorkommt und die bekanntlich auch die große Mehrheit der Sprachteilnehmer in bewußter Entscheidung anwendet, aber aus irgendeinem Grund schreckt man an unseren Bildungsstätten vor Sinn und Vernunft zurück. Man wird die aus vielerlei Gründen auch an den Schulen gestiegenen Fehlerzahlen (die neue Rechtschreibung ist ja nicht toleranter als die alte, im Gegenteil) mit einer reduzierten Gewichtung der Rechtschreibleistungen kompensieren müssen, wenn die Notenschnitte nicht insgesamt absacken sollen. Das hätte man natürlich auch ohne Kosten, Schaden und Ärger der Reform tun können. In Wirklichkeit steigen die Lehrer allerdings selber nicht mehr durch und streichen daher weniger Fehler an (können außerdem deshalb aber auch keinen zufriedenstellenden diesbezüglichen Unterricht durchführen), und die Korrekturhandhabung der Übergangszeit bis 2005 verschleiert logischerweise zusätzlich mangelnde Rechtschreibungsbeherrschung der Pennäler.

Den Artikel „Das Schandmaul von Peine“ über Oliver Kalkofe habe ich danach gelesen. Es ist ja nicht so, daß ich gezielt nach diesen Rechtschreibmerkwürdigkeiten suche. Sie tauchen beim ganz normalen Lesen auf, fast immer an Stellen, die von der Reform berührt sind. Ich finde also, schon rot hervorgehoben als Artikelzitat, Kalkofes Ausspruch: „Ich finds nicht mehr witzig, einfach nur 'ficken' zu rufen. Das war Anfang der 90er-Jahre noch schockierend. Heute grölt ja schon der Saal, wenn einer ein Schild hoch hält, auf dem das Wort steht.“ Abgesehen davon, daß ich dem Fernsehmenschen in dieser Einschätzung zustimme, wundere ich mich doch über das fehlende Apostroph bei „finds“, das Schülern als Fehler gewertet werden müßte (die Reform hat sogar noch zusätzliche Apostrophsetzungen eingeführt), und die Schreibweise „hoch hält“. Natürlich ist „hoch“ steigerbar, man könnte das Schild schließlich noch höher halten, daher ist die Schreibweise tatsächlich reformkonform. Allerdings soll ja damit nicht gesagt werden, daß das Schild tatsächlich besonders hoch gehalten worden sei, also z.B. 4 m über dem Boden oder so, sondern es ist gemeint, daß das Schild in eine nur relativ höhere Position befördert wird. Das „hoch“ ist integraler Bestandteil der Tätigkeit selbst, für die das Verb der sprachliche Ausdruck sein soll – wie es die gewöhnliche Schreibweise „hochhalten“ ja auch eindeutig und unkompliziert vermittelt (derlei kannte man bisher als Ergebnisverbzusatz, wurde von der Reform abgeschafft, zumindest in der verschrifteten Form der Sprache; er fristet ein verdecktes, unpraktikabel entstelltes, halbgares Schattendasein bei Verbindungen mit bestimmten Partikeln gemäß §34 (1) E1 und Adjektiven gemäß §34 (2.2), wobei fraglich ist, ob „hoch halten“ demnach nicht doch falsch wäre, was aber wieder mit §34 E3 (3) kollidieren würde... Warum einfach, wenn es auch umständlich geht, scheint das Motto der Reformer gewesen zu sein). Solche schriftlichen Feinheiten können in Gesetzestexten ziemlich relevant für den Ausgang einer Gerichtsverhandlung sein. Denn fein ist der Unterschied ja nur in der Schrift, die Aussage jedoch wird davon oft sogar extrem beeinflußt. Es scheint eine gewisse Menge Leute zu geben, die glauben, es sei für Kinder (also Schreibenlernende) eine Überforderung, den Unterschied zu begreifen, obwohl er in der Rede doch auch durch Betonung ausgedrückt wird; bzw. „hoch halten“ sei aus mysteriösen Gründen viel einfacher zu schreiben als „hochhalten“ – auch wenn die zugrundeliegenden Reformregeln wahnsinnig kompliziert sind. Derart kompliziert, daß sie für Kinder oder Rechtschreibschwache aller Art allerdings völlig zweifellos eine Überforderung darstellen (zumal sie im Ergebnis der natürlichen Sprachentwicklung zuwiderlaufen, also offensichtlich nicht aus sprachlicher Intuition enstanden sind). Na ja, immerhin – so wird man von den Reformern vertröstet – ginge der Sinn meist aus dem Kontext hervor. Das gilt aber ja nur, wenn es überhaupt einen schriftlichen Kontext gibt, das ist aber in einigen Textsorten nicht der Fall (Hinweisschilder, Aphorismen z.B.), auf die die Reform natürlich aber trotzdem angewandt werden soll, wenn es nach dem Willen ihrer Fürstreiter ginge. Oft ist aber auch trotz Kontext nicht ganz klar, was mit neuerdings auch in völlig unterschiedlichen Bedeutungen undifferenziert getrennt (oder, aus der willkürlichen Künstlichkeit der Neuregelung heraus, zusammen) geschriebenen Wörtern gemeint sein soll, dazu gleich ein Beispiel aus demselben Artikel: "[...] und Schlachter wird, wer gerne Tiere tot haut.“ Zunächst ist es seltsam, warum hier überhaupt Getrenntschreibung vorliegt, denn kann man Tiere noch toter hauen? Der erste Bestandteil ist also nicht steigerbar. Will Heike Gätjen, die Autorin des Artikels, mir Leser damit mitteilen, daß die Tiere bereits tot sind, wenn sie gehauen werden? In diesem Fall wäre die syntaktische Anordnung des Satzes allerdings etwas komisch, normalerweise würde man dann schreiben: „wer gerne toteTiere haut.“ Und man weiß ja nie, ob die Getrennt-/Zusammenschreibung im Abendblatt wirklich den Regeln der Reform folgt, bei „wehrkraftzersetzend“ war das ja auch nicht der Fall... Was für eine wirre Handhabung, was für eine üble Sprachkultur! Doch anscheinend hat man sich beim Abendblatt dazu entschlossen, die Parole „Augen zu und durch“ umzusetzen, man will einfach daran glauben, die Rechtschreibung sei einfacher geworden, und sei das Gegenteil noch so offensichtlich (vor überbrandendem Leserlob nach Muster der FAZ scheint man ja komischerweise Angst zu haben). Das ließe aber nicht gerade den Schluß zu, beim Abendblatt werde ernsthaft investigativer Journalismus betrieben. Solcher sollte den Menschen die selbst- oder auch fremdauferlegten Scheuklappen doch gerade hinwegreißen, anstatt Desinformation zu pflegen oder sich an staatlicher Lügenpropaganda zu beteiligen. Ich hoffe, man besinnt sich wirklich bald in Ihrer Redaktion, in den Schwesterredaktionen Ihres Verlags, eines Besseren.

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Christian Melsa
23.04.2001 21.42
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Spottreif

Subject: Spottreif
Date: Sat, 21 Apr 2001 04:47:39 +0200
From: Christian Melsa
To: briefe@abendblatt.de

In der Abendblatt-Ausgabe von heute, dem 20. April 2001, stieß ich wieder einmal auf ein besonders kurioses Objekt von Rechtschreibfehler: Auf der ersten Seite gleich, im Artikel „Benzinkrise in Deutschland“, liest man etwas von „Spottmärkten“. Diese Schreibweise wäre natürlich niemals vorgekommen, gäbe es nicht den grandiosen „Tipp“, den die Reformer in unbegreiflichem Dilettantismus auf das deutsche Verb „tippen“ beziehen, obwohl gemäß ihres eigenen Regelwerks nach §4(1) das Wort eindeutig mit nur einem p geschrieben werden müßte, denn tatsächlich handelt es sich ja um ein importiertes englisches Wort wie auch „Chip“, „Slip“ usw., das in der Bedeutung „Ratschlag“, „Hinweis“ gebraucht wird. Das Verb „tippen“ im Sinne von „einen Ratschlag umsetzen“ (also bei Pferderennen z.B.) erst wird mit zwei p geschrieben, was auch gemäß §4(1) E1 wäre; ebenso natürlich das gewöhnliche „tippen“, z.B. auf einer Tastatur, daher auch völlig korrekt: „Tippfehler“. Da kaum ein Mensch die neuen Regeln wirklich kennt, schließen viele Schreiber (oft unbewußt) die Analogie, man müsse nun wegen der englischen Herkunft auch „topp“ oder „fitt“ schreiben, und genau so wird es wohl auch zu den unfreiwillig komischen „Spottmärkten“ gekommen sein. (Ein kurzer Vergleich mit der Online-Version desselben Artikels zeigt, daß auch dort der Fehler vorhanden ist, ein „weitersteigen“ ein paar Wörter vorher aber in der Papierausgabe als „weiter steigen“ steht...)

Ich frage mich, wie lange Ihre Zeitung noch den Blödsinn namens „Rechtschreibreform“ mitmachen will, die Heinz-Rudolf Kunze recht treffend mit einer „behördlich angeordneten Verunreinigung des Trinkwassers“ verglichen hat. Mit seriösem Journalismus ist das kaum zu vereinbaren, man muß ja beinahe schon davon ausgehen, daß die Redakteure derart hinter dem Mond leben, daß sie von der Fülle von Nachteilen der Rechtschreibreform noch überhaupt nichts gehört haben, oder daß es ihnen an Sprachkompetenz so sehr mangelt, daß die Nachteile für sie nicht nachvollziehbar sind. Die Begründung, man wolle die Schulkinder nicht mit einer von ihrem Lehrplan abweichenden Orthographie verwirren, ist völlig unsinnig, da die Presse meist ohnehin schon auf Normebene in Einzelheiten von der Reform abweicht; zudem ist es auch nicht wirklich kinderfreundlich, wenn man aktiv mit dafür sorgt, daß das umfangreichste und insgesamt komplizierteste deutsche Rechtschreibregelwerk aller Zeiten sich durchsetzt (der wahrheitsverfälschenden Zahlenspielerei „aus 212 sind 110 Regeln geworden“ werden Sie doch hoffentlich nicht auf den Leim gegangen sein – die Zahlen beziehen sich nicht auf eigentliche Regeln, sondern schlicht auf Kennziffern). Außerdem leben die Kinder dank der Reform ohnehin in einer permanenten Rechtschreibverunsicherung, da sich die Milliarden Bücher und Magazine in „alter“ Rechtschreibung in öffentlichen und privaten Bibliotheken selbstverständlich nicht einfach so wegzaubern lassen – wäre ja auch schade drum. Darüber hinaus hat kaum eine Zeitung die „neue“ Rechtschreibung (die in Wirklichkeit eine ziemliche Archaisierung der Schriftsprache bewirkt, also alles andere als fortschrittlich ist) auch nur auf annähernd professionellem Niveau im Griff: So taucht auf Seite 3 derselben Ausgabe des Hamburger Abendblatts im Artikel „Raus aus der Opferrolle“ gleich zweimal die Schreibweise „zur Zeit“ auf, obwohl die Reform zwingend „zurzeit“ vorschreibt, was eigentlich kein großes Geheimnis ist. In jeder Ausgabe des Abendblatts entdecke ich Vergleichbares in beachtlicher Menge. Eine gewisse Tendenz zur „alten“ Rechtschreibung schillert hier hindurch, die offiziell allerdings schamhaft (warum auch immer) verschwiegen wird. Man gibt sich wohl lieber „fortschrittlich“, wobei der willkürlichen Etikettierung „Fortschritt“ nach der großen Desillusion bei den neuen Technologiewerten der Börse wohl inzwischen insgesamt ein größeres Mißtrauen entgegengebracht werden dürfte. Die irrationale Jahr-2000-Hysterie und der daraus psychologisch bedingte unkritische Zeitgeist, der pauschal und sachblind überall den Zwang zur Veränderung sieht (egal wie, Hauptsache anders), um „fit für die Zukunft“ zu sein, flaut in der Gesellschaft bereits wieder ab, glücklicherweise. Bei der Rechtschreibreform, die, wo immer sie Änderung bewirkt, auch überflüssige bis schädliche Sprachentstellung bewirkt, ist diese Skepsis auch sehr berechtigt.

Warum brandmarkt das Abendblatt die Texte der Berichterstattung freiwillig als in einer minderwertigen Orthographie verfaßt, wo die in derselben Publikation etappenweise veröffentlichten Romane aus gutem Grund von den Schriftstellern in der bewährten Rechtschreibung gehalten sind? Den eigenen Lesern bringt man übrigens leider nicht denselben Respekt entgegen wie den veröffentlichten Romanciers, die Briefe ersterer werden gnadenlos in Neuschrieb konvertiert, auch wenn ihre Intention dies klar ablehnt. Nicht mal das Urteil eines Literaturnobelpreisträgers in Sachen Rechtschreibreform scheint ja besonders ernst genommen zu werden. Aber die rund 600 Unterzeichner des Buchmessen-Protests, der „Frankfurter Erklärung“ von 1996, allesamt Fachleute, wurden ja ebenfalls praktisch ignoriert. Nicht einmal der beinahe lückenlose Aufmarsch der prominentesten kulturellen Würdeträger des Landes scheint an der Verbohrtheit von Kultusministern und Presse rütteln zu können. Und das Abendblatt nimmt sich aus diesem banausenhaften Auftritt nicht heraus. Unverständlich.

Ich verstehe auch nicht die seltsame Nibelungentreue, die offenbar der Axel-Springer-Verlag denjenigen Verlagshäusern zu gewähren scheint, für die die Reform eine gewinnbringende Marktstrategie bedeutete. Diese Marktstrategie ist ohnehin im Eimer, die ersten Reformduden werden schon seit einer Weile für den halben Preis verramscht, Bertelsmann bleibt ebenfalls auf den neuen Wörterbüchern sitzen. Auch sämtliche bereits erschienene Literatur, die der Rechtschreibreform zu folgen bemüht war, enthält Schreibweisen, die sehr bald schon wieder als falsch gelten werden (falls sie nicht ohnehin schon Fehlinterpretationen des Regelwerks waren, wie z.B. „wieder sehen“ für „wiedersehen“), da die Rechtschreibkommission bekanntlich tiefgreifende Revisionen der Regeln vorbereitet bzw. deren resultierende Schreibweisen teilweise schon in den neuesten Wörterbüchern vorkommen (daß der Dudenverlag die von Professor Icklers Artikel in der Welt ausgelöste „Reform der Reform“-Meldung umgehend dementierte und als „Falschmeldung“ bezeichnete, ändert nichts an der wahren Faktenlage). Davon sind unter anderem besonders alle umgearbeiteten Schulbücher betroffen, aber natürlich auch jegliches weitere Druckwerk, das für länger andauernden Gebrauch ausgelegt ist (im Gegensatz zu einer Tageszeitung). Die kommende „Reform der Reform“ wird allerdings bei ihrer Umsetzung wieder die gleichen Umstellungskosten verursachen wie bereits beim erstenmal. Eine Rückkehr zur bewährten Orthographie wäre schon aus materiellen Erwägungen wesentlich günstiger. Vernünftig und kostensparend wäre also allein, sich den Protest von Bürgern, Sprachwissenschaftlern und Schriftstellern einfach zu Herzen zu nehmen und davon abzulassen, ihnen eine Gestalt der Schriftsprache ums Verrecken aufzuzwingen, die sie nun einmal begründeterweise nicht haben wollen.

Unter sachlicher Analyse kann kaum eine durch die Reform erfolgte Änderung an der Orthographie bestehen. Das meiste führt eher zu einer Lernerschwernis als zu einer Lernerleichterung, wie es auf den ersten Blick und unter Einfluß von maßlos überzogener Kultusministerpropaganda scheinen mag (daß die Anzahl der Rechtschreibfehler zunimmt, zeigt sich ja bereits in dieser Zeitung, an den Schulen kann die Lage nicht besser sein). Die Stammorientierung ist so halbherzig realisiert wie konsequent undurchführbar und in den Resultaten zudem noch von schweren, geradezu peinlichen linguistischen Fehlern durchsetzt, die durch Begriffe wie „Volksetymologie“ oder „Neumotivation“ auch nicht stimmiger werden – in Wirklichkeit handelt es sich um eine exzentrische Marotte des Oberreformers Augst, die allerdings so unwissenschaftlich ist wie nur irgend möglich. Die „neue“ (tatsächlich schon vor über hundert Jahren erprobte und verworfene) ss/ß-Schreibung führt nachweislich zu mehr Fehlern als die bislang geübte, was zunächst überraschen mag, bei genauerer Betrachtung jedoch auch verständlich wird. Zur enttäuschenden Lernbarkeit dieses Bereichs existieren wissenschaftliche Untersuchungen (Prof. Marx), die im Gegensatz zum reformbeschönigenden Schaederschen „Mogeldiktat“ an bayerischen Schulen, welches von Kultusministerien immer gern als angeblicher Nachweis für schwindende Fehlerzahlen genutzt wird, auch methodisch korrekt sind, was für einen Journalisten leicht nachprüfbar sein müßte. Und die neue Getrennt-/Zusammenschreibung ist sprachlich vollkommen unbrauchbar, da die Methode der Zusammenschreibung von Wörtern nun nur noch total unnütze Informationen vermittelt. Die bislang übliche semantisch-strukturelle Information, die man durch Zusammenschreibung dem Leser mitteilen wollte, wurde ersetzt durch merkwürdige Kriterien, die der Botschaftsvermittlung überhaupt nicht dienen, reine Regeln um der Regel willen, deren Ergebnisse sogar Nährböden für Mißverständnisse und Lesestolperfallen sind. Die neue Rechtschreibung entspricht tatsächlich einer Perversion der Sache Rechtschreibung. Vielleicht ist die hergebrachte Rechtschreibung nicht in allen Belangen ideal, aber die reformierte ist dagegen so derart schlecht, daß der ehemalige Mitarbeiter der Rechtschreibkommission Peter Eisenberg immerhin urteilte, sie gehöre „sprachwissenschaftlich auf den Müll“. Günther Drosdowski, der inzwischen verstorbene ehemalige Duden-Chefredakteur und direkt beteiligt an dem Entstehungsprozeß der Neuregelung, äußerte sich in einem Brief an Theodor Ickler folgendermaßen: „Ich habe mich mit meinen Vorstellungen von einer vernünftigen Neuregelung nicht durchsetzen können, bin immer überstimmt worden – in der Rechtschreibkommission und in den Arbeitsgruppen herrschten mafiaähnliche Zustände. Einige Reformer hatten von der Verschriftung der Sprache und der Funktion der Rechtschreibung für die Sprachgemeinschaft keine Ahnung, von der Grammatik, ohne die es bei Regelungen der Orthographie nun einmal nicht geht, sowieso nicht. Sie mißbrauchten die Reform schamlos, um sich Ansehen im Fach und in der Öffentlichkeit zu verschaffen, Eitelkeiten zu befriedigen und mit orthographischen Publikationen Geld zu verdienen. Selten habe ich erlebt, daß Menschen sich so ungeniert ausziehen und ihre fachlichen und charakterlichen Defizite zur Schau stellen. Es ist schon ein Trauerspiel, daß die Sprachgemeinschaft jetzt ausbaden muß, was sich [es folgen drei Namen] und andere ausgedacht haben. Von dieser (internationalen) Kommission stehen uns ja sicherlich auch noch Burlesken ins Haus, ein Rüpelstück schon allein die Besetzung: Diejenigen, die ihre Spielwiese erhalten wollen, schließen diejenigen, die etwas von der Sache verstehen und Kritik üben, aus, und Kultusministerien drängen auf Quotenregelung! Wundert es Sie da, daß ich des Treibens müde bin?“

Wieso folgt eine angeblich „unabhängige“ Zeitung wie das Abendblatt den Ideologien einer Bildungspolitik, die auch sonst nicht gerade ein besonders erfolgreiches Renommee aufzuweisen hat? Wieso scheint man die Kultusminister und deren Behörden für eine garantierte Quelle fortschrittlicher und qualitativ überzeugender Maßnahmen zu halten? Gute Journalisten müßten doch eigentlich weniger naiv sein. Von einer integeren Qualitätszeitung würde ich übrigens auch erwarten, daß ich aus ihr über solche Dinge erfahre, und nicht erst aus Eigeninitiative nach umfangreichen Nachforschungen und Überprüfungen, die ich der Zeitung scheinbar erst mitteilen muß. Ohne mein Interesse an regionaler Berichterstattung wäre ich als Leser schon längst komplett zur FAZ übergewechselt. Das vorauseilende Obrigkeitsgehorsam, das aus der Übernahme sogar solch bekannt mißlungener Maßnahmen wie der Rechtschreibreform spricht, ist gerade in Anbetracht der jüngeren Nationalgeschichte alles andere als ehrenhaft und einer „Vierten Gewalt“ nicht angemessen, einer modernen, demokratischen, humanistisch aufgeklärten Gesellschaft schon gar nicht.

Ihnen dürfte auch nicht die großangelegte Umfrage entgangen sein, die unter Lesern einiger führenden deutschen Tageszeitungen im August letzten Jahres getätigt wurde, die überwältigende Resonanz zeigte und bei der stets (sortiert nach einzelnen Zeitungen sowie insgesamt) über 90% der Abstimmenden sich für eine Rückkehr zur bewährten, eindeutig auch vom gesamten Volk mehrheitlich gewünschten Rechtschreibung aussprachen. Mit Leserfreundlichkeit scheint es bei der heutigen deutschen Presse aber nicht mehr weit her zu sein, denn nicht mal eines der betroffenen Blätter hat daraus Konsequenzen gezogen. Unter Garantie ist auch die Mehrheit der Abendblatt-Leser für die Absetzung der reformorientierten Orthographie in dieser Zeitung, das wissen Sie. Warum handeln Sie nicht? Welchen journalistischen Ethos darf man hinter dem Nichthandeln vermuten? Mit dem Slogan „der Kunde ist König“ können Sie derzeit jedenfalls nicht mehr werben. Sie wissen natürlich ebenso, daß die Rechtschreibreform das Schandmal der bundesdeutschen Nachkriegsdemokratie ist. Daß ausgerechnet angesichts solcher unfaßbaren Schauspiele wie der Auslöschung eines Volksentscheids durch alle Parteien eines Landtags, wo also „Volksvertreter“ offen diametral gegen den erwiesenen Mehrheitswillen des Volkes und damit gegen wichtigste Fundamente des Grundgesetzes operieren, die Presse keine großen Bedenken anmeldet, statt dessen aber diverse vereinzelte Gewalttaten unbewiesen vorschnell auflagenwirksam als Neonaziverbrechen deklariert werden (wie in letzter Zeit mehrfach geschehen), läßt das Vertrauen in die Glaubwürdigkeit der „Vierten Gewalt“ stark schwinden. Die wahren Mißstände scheinen die Presse kaum zu interessieren, lieber wird einer winzigen Minderheit von Nazispinnern ein überzogenes Forum gegeben, eine Kampagne geschenkt, wofür diese sehr dankbar sind und, deutlich aus Kriminalitätsstatistiken ablesbar, mit gesteigerter Aktivität auf die gewährte Aufmerksamkeit reagieren (davor hatte ich übrigens schon im letzten Sommer, als es den Medien sehr opportun war, von der durch die Rückkehr der FAZ wiedererstarkte Diskussion zum Themenkomplex Rechtschreibreform abzulenken, in einem Leserbrief an das Abendblatt gewarnt). Man meint, dieses Land steuere geradewegs auf Zustände zu, die denen aus Orwells „1984“ stark gleichen, was die Einstellung zu Sprache und Wahrheit betrifft. Ihre Zeitung scheint sich nicht zu schade zu sein, sich daran zu beteiligen.

Weder das Hamburger Abendblatt noch der ganze Axel-Springer-Verlag sind in irgendeiner Weise gezwungen, diesen Weg weiterhin zu gehen, sowenig wie sie ihn überhaupt erst beschreiten mußten. Fehler können jedoch jedem unterlaufen, doch nur der eitle Narr lernt nicht aus ihnen und bleibt unbeirrt auf dem falschen Weg. Die originalen Meldungen der Nachrichtenagenturen sind ohnehin derart katastrophal fehlerhaft (nicht nur orthographisch, oft auch grammatisch usw.), daß keine Zeitung von Rang sie unüberarbeitet im Wortlaut verwenden kann. Außerdem glaube ich kaum, daß die Nachrichtenagenturen bei ihrer seltsamen zusätzlichen Sonderorthographie bleiben werden, wenn ein Schwergewicht wie der Axel-Springer-Verlag zur bewährten Rechtschreibung zurückkehrt (und an den Schulen wird der Spuk auch bald vorbei sein, wenn die Presse sich wieder zurückzieht; was die Schüler dort gegenwärtig lernen bzw. schon in den letzten 3-5 Schuljahren für eine Rechtschreibung gelernt haben, ist wegen der anstehenden unumgänglichen Revisionen in jedem Fall bald wieder überholt, außerdem sind die einzigen Schüler ohne gelehrte Kenntnisse der bewährten Rechtschreibung höchstens in der 5. Klasse, wobei im gängigen schriftlichen Wortschatz der Grundschule abgesehen von der ss/ß-Schreibung die Reform praktisch nicht bemerkbar ist). Dieser Schritt wäre aufgrund der Distanz eines halben Jahres auch nicht mehr als simple Nachäffung der FAZ zu verstehen; die Zeitung / der Verlag könnte ihn ohne Gesichtsverlust vornehmen. Er würde von den Lesern, ja, von der Mehrheit der Bürger (gleichzeitig potentielle Neukunden) eher freudig begrüßt werden, wie das Beispiel der FAZ unzweifelhaft beweist. Worauf warten Sie noch? Was hindert Sie?

Über eine Stellungnahme Ihrerseits würde ich mich freuen, über die Umsetzung der Schritte, die die Vernunft gebietet, würde ich mich sogar enorm freuen, dann schicke ich Ihnen gerne eine Tüte Lakritz (oder sagen Sie, was Ihnen lieber ist) zur Anerkennung in die Redaktion.

Mit freundlichen Grüßen,

Christian Melsa

PS: Bitte leiten Sie diesen Brief auch an die relevanten
Entscheidungsträger weiter.

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Christian Melsa
23.04.2001 21.28
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Ich selbst habe das Abendblatt zwar nicht abonniert, aber mein Vater. Da ich im selben Haus wohne wie meine Eltern, lese ich da natürlich mit. Dabei fallen mir immer wieder Schreibweisen auf, die a) entgegen der Reformregeln und sogar entgegen den aktuellen Wörterbüchern der alten Rechtschreibung ausfallen oder b) aus mehr oder weniger krassen Fehlinterpretationen der Regeln entstanden sind. Das Übliche also. Vor ein paar Tagen war einer dieser Fehler aber derart grotesk, daß ich dies als Anlaß nahm, einmal selber einen Brief zu schreiben, in dem ich der Redaktion nahelegte, sich von der Orientierung an der Rechtschreibreform im Zeitungstext zu verabschieden. Die Korrespondenz lief per Elektropost ab und endete innerhalb einer halben Woche in einer Annahmeverweigerung meiner E-Mails. Ich habe mir in meiner Eröffnungsmail erlaubt, das bekannte Drosdowski-Zitat über die mafiösen Umstände bei der Reformausarbeitung aufzugreifen.

Im folgenden eine Kopie der einzelnen Mails. Ggf. nachgetragene Anmerkungen werde ich kursiv setzen.
– geändert durch Christian Melsa am 25.04.2001, 13:43 –

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