Kommentar zu Stickels Beschwichtigungsversuchen
Zunächst zu Matthias Drägers Anmerkung: Die Rechtschreibung ist ja nicht das einzige, womit sich das IDS beschäftigt, und kein Reformer hält ja den derzeitigen Kompromiß für der Weisheit letzten Schluß, daher ist die (natürlich polemisch überspitzte) Forderung nach der Schließung nicht ganz treffend.
Ärgerlich ist natürlich an den Stellungnahmen von Stickel, daß sie mit deutlich hervorgehobener Autorität den Adressaten (also hauptsächlich der Presse) oberflächlich und tendenziös dargestellte Sachverhalte als Argumentatiunsgrundlage pro aktuelle Reform in den Mund legen. Wie man gut beobachten kann, werden, wo die Reform gegen den Widerstand verteidigt wird, auch meist genau jene Behauptungen unreflektiert nachgebetet. Die meisten Journalisten vertiefen sich aus Zeitdruck eben nur bis zu einem bestimmten Grad in das, worüber sie berichten, und überlassen den Rest dem Vertrauen, das sie aus dem Bauch heraus oder anhand von Überlegungen bezüglich Karriereförderung und Medientrendstromlinienform der einen oder anderen Quelle entgegenbringen.
Zum Beispiel zum Punkt 2: Diejenigen, die sich vor 1902 gegen die neu festgesetzten Einzelheiten der damals eingeführten Orthographie sträubten, mögen mit ihren Argumenten ja auch teilweise recht gehabt haben. Sie mußten einem Kompromiß zuliebe nachgeben, der der erstmaligen Errichtung einer Rechtschreibung für die deutsche Sprache diente, die als solche auch wirklich bezeichnet werden konnte, da sie allgemeine Gültigkeit hatte. Nur wird in der historischen Schau der Stellungnahme wieder einmal eben dieses höchst wichtige Faktum unterschlagen, daß es vor 1902 einfach keine einheitliche deutsche Rechtschreibung gab, es gab zwar bereits gewisse Kumulationen verschiedener isoliert in sich einheitlicher Rechtschreibungen, aber eben mehrere davon, keine eine und einzige. Die Vereinheitlichung der Orthographie zu einer Gültigkeit für den gesamten deutschen Sprachraum war mit der 2. Orthographischen Konferenz vollzogen. Später sorgte der Duden für ein Rückgrat, anhand dem sich die Weiterentwicklung (z.B. im Bereich GZS und Zeichensetzung) vollziehen konnte, wobei immer das Grundmotiv der Deskription verfolgt wurde. Nichts wurde frei erfunden, abgesehen von probeweise versuchten Fremdworteindeutschungen. Von zwangsweisen Änderungen gegen die Sprachentwicklung kann keine Rede sein, das hat erst der Durchbruch der Reformer 1996 gebracht.
Zu 3: Auch und manchmal gerade Feinheiten spielen in der Sprache eine große Rolle. Das ist nicht nur in der Rechtschreibung so, dort aber besonders entscheidend, da gewissen Spezifitäten der Schriftsprache genügt werden muß; Ebenen und Eigenschaften der Rede, die dort nicht zur Verfügung stehen, müssen kompensiert werden. Gleichzeitig ist nicht einzusehen, wie eine minimale Änderung im Schriftbild für eine nennenswerte Fehlerreduzierung sorgen soll. Was die Unzulänglichkeiten der alten Rechtschreibung betrifft, so ist es ja wohl ein Hohn, mit ihnen die sehr viel größeren Unzulänglichkeiten der neuen gleichsam erkaufen zu wollen.
Zu 4: Die 14 Millionen Schüler haben sich nicht nach sorgfältigem Vergleich zwischen alter und neuer Rechtschreibung aus qualitativen Erwägungen und freien Stücken für die letztere entschieden. An den Schulen wird schlicht eine Verordnung umgesetzt. Damit kann man für eine Sache nicht glaubwürdig werben. Daß unabhängig von solchen Verordnung bestimmte Leute sich zumeist für die neue Schreibung entschieden haben, hängt ebenfalls meistens nicht mit einer qualitativen Beurteilung zusammen, sondern mit dem Willen, sich einem vermuteten Trend anzupassen, um der Zeit nicht hinterherzuhinken. Es wird suggeriert, eine Mehrheit wäre von der Reform angetan und würde ihr gern folgen. Ausnahmslos alle bekannten Umfragen und Statistiken sagen das krasse Gegenteil aus.
Zu 5: Ich kann nicht glauben, daß ein renommierter Sprachwissenschaftler ein derart unzutreffendes Bild von der Rolle der Orthographie hat. Als sei die Schriftsprache nichts weiter als eine Notation akustischer Ereignisse. Dieses Stadium hatte die Schriftsprache schon in der Antike hinter sich gelassen. Seitdem hat sie immer mehr an Eigenständigkeit gewonnen, und dabei spielt natürlich auch eine korrekte, eindeutige, differenzierende, präzisierende Schreibung eine Rolle, mehr noch als die korrekte Aussprache mündlicher Rede wichtig ist. Ich bin auf diese Fehlansicht schon mehrfach eingegangen. Mit einer solchen Einschätzung disqualifiziert sich Stickel eigentlich völlig, vor allem als angeblicher Experte für Rechtschreibung, aber vermutlich spekuliert er darauf, sein Professorentitel würde dank der immer noch leidlich verbreiteten pauschalen Autoritätsgläubigkeit alles sachlich Falsche verdecken. Die Leute von heute werden ja mittlerweile wieder geradezu dazu erzogen, nicht selber nachzudenken.
Zu 6: Wenn zudem die Rechtschreibung so derart unwichtig und marginal wie unter 5. behauptet sein soll, wieso war es dann so wichtig, sie bei Inkaufnahme von gigantischen Mühen, Kosten und Ärger mit unter 3. wiederum sogar eingestandenem minimalem Effekt zu ändern?
– geändert durch Christian Melsa am 17.05.2001, 18:52 –
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