Götterdämmerung
Nun, Verschwörungstheorien stehen im Mißkredit der wirklich arg zu abwegigen unter ihnen. Aber daß Verschwörungen, oder milder formuliert: heimliche Absprachen tatsächlich stattfinden, dürfte kaum jemand anzweifeln. Und darüber Theorien anzustellen, muß nicht unseriös sein, solange man nicht vorgibt zu wissen, was man nur vermuten kann. Daß Bertelsmann das Reformprojekt aktiv gefördert habe, weil sich der Konzern Profite und erweiterte Marktmacht (Wörterbücher) davon versprach, ist auch nicht mehr als eine Verschwörungstheorie, die natürlich durch viele Anhaltspunkte gestützt ist.
Protestierende Leserbriefe können zwar wirklich auch schlichter gefaßt sein, wenn dafür mehr von ihnen geschrieben werden, aber irgendwie sollten sie klar schon einigermaßen triftig auf den Artikel eingehen, auf den sie sich beziehen, mit überzeugenden Argumenten und korrekt wiedergegebenen Fakten. So verbreitet der Mißmut über die Rechtschreibreform in der Bevölkerung ist, so verbreitet scheinen allerdings auch gewisse Legenden zu sein. Die meisten Leute sind mit der Materie nicht so gut vertraut, daß sie auf der linguistischen Ebene fundierte Kritik üben können. Da tauchen dann oft falsche Beispiele für Reformunsinn auf. Zwar kennen sich die meisten Journalisten selber nicht so gut mit den Reformänderungen aus, daß sie das in jedem Fall sofort erkennen würden, aber dennoch können die gewieften Reformbefürworter so doch zutreffend behaupten, all diese Kritik ginge an der wahren Reform vorbei.
Worauf sollte also am besten in Leserbriefen abgezielt werden? Es ist immerhin ein gutes Ergebnis vor allem auch der Aufklärungsbemühungen der Reformgegner, daß eigentlich kaum noch jemand ernsthaft die Rechtschreibreform als gelungene, willkommene und fortschrittliche Maßnahme bezeichnen kann, ohne korrupt zu wirken. Es ist praktisch Konses, daß die Reform ein ärgerlicher Mißgriff war, den man am liebsten wieder los wäre, das ist mittlerweile auch schon zum Tenor der Medien geworden. Andererseits wird in den Medien seit längerem die unbedingte Notwendigkeit von Reformen in unserem Lande beschworen mit Schlagwörtern wie Reformstau usw., und das in einer bemerkenswert undifferenzierten Art und Weise, als ob es nur darauf ankäme, daß überhaupt irgendwas geändert wird, egal wie oder was. Die Maßnahmen können anscheinend noch so unverschämt und ärgerlich sein, sie brauchen nur als Reform bezeichnet zu werden, schon wird es als zwar bittere, aber aus irgendwelchen geheimnisvollen Gründen angeblich zwingend und dringend notwendige, alternativlose Medizin erachtet. Eine Reform rückgängig zu machen muß vor diesem Hintergrund wie ein Sakrileg erscheinen, wie metternichsche Restauration geradezu. Diese Denke ist in die Köpfe einfach so tief eingebrannt, Reform = es geht voran, daß zumindest bei den Meinungsführern die Möglichkeit, eine Reform wieder zu beseitigen, einfach nicht existiert. Das geht nicht. Die Rechtschreibreform ist jetzt eingeführt, also kann keine Macht der Welt daran mehr etwas ändern. Daß gerade die Reform selbst eine Änderung ist und dadurch diese Annahme deutlich widerlegt, diese Überlegung ist viel zu logisch und rational, um aufregend genug zu sein, in den Medien eine Rolle zu spielen.
Immerhin haben die Medien irgendwann auch doch noch gemerkt, daß der New-Economy-Hype hauptsächlich heiße Luft war und sind dementsprechend von Aktienspekulationstips für den verschuldeten Normalverbraucher wieder auf etwas kritischere Berichterstattung eingeschwenkt, jedoch war das viel unauffälliger möglich als es ein Bruch mit einer bereits eingeführten reformorientierten Hausorthographie wäre (die FAZ war klug genug, früh die Reißleine zu ziehen). Außerdem wurde der Neue Markt nicht als Reform bezeichnet, also stand er gar nicht erst unter dem mächtigen Schutzbann dieses Begriffs. Grundsätzlich müßte die ganze Medienöffentlichkeit wieder etwas mehr weg von der überwiegend bestürzend unreflektierten Vergötterung all dessen, was irgendwer als Reform bezeichnet. Genau das könnte ein Bruch mit der gerade im Printgewerbe so relevanten Paradereform der Rechtschreibung bewirken, nur dummerweise wäre der Mut zu diesem Bruch wiederum nur zu erwarten, wenn die Reformvergötterung schon nachgelassen hätte. Da ist wieder das Henne-Ei-Problem, durchaus auch passend zur vorigen Verwendung von Geflügelmetaphern in diesem Forumsstrang. Und nicht zuletzt darf man bei der Medieninszenierung des Reformgötzenglaubens von knallharten Kapitalinteressen getriebene Verschwörungen beileibe nicht für abwegig halten.
Der Ansatz Gesichtsverlust scheint mir am aussichtsreichsten. Es ist interessant, daß es mit Geschichten wie Elchtest oder jetzt toll collect so gut klappt. Der Medienbetrieb schüttet schon gerne Häme aus, dumm ist nur, daß sie sich mit allzu deutlicher Häme über die Rechtschreibreform selber ins Bein schießen würde, da dabei fast alle irgendwie mitmachen. Die Inkonsequenz des Mitmachens (Agenturorthographie usw.) macht die Sache nur noch peinlicher für die beteiligten Medien. Und dann haben sie sich auch noch freiwillig zum Mitmachen entschieden! Das macht die Findung eines überzeugenden Sündenbocks ziemlich schwierig. Wenn man den Kultusministern eine Gelegenheit geben möchte, die Reform ohne Gesichtsverlust loszuwerden, kommen auch die nicht so gut als Träger der Schande in Betracht. Ziemlich vertrackte Lage.
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