sogenannt
Hier ist nun der ganze letzte Teil von H. H. Munskes Aufsatz Lexikalischer Schrott aus der Festschrift für Helmut Henne (ohne Auszeichnungen und ohne Literarturverzeichnis):
Seit die deutschen Zeitungen weitgehend dazu übergegangen sind, der obrigkeitlich verordneten Schulorthographie zu folgen, ist keine Zeitungslektüre mehr ungetrübt. Als besonders störend, weil irreführend, empfinde ich die Neuschreibung des Wörtchens sogenannt als so genannt, als existierten hier nur zwei zufällig benachbarte Wörter, das Modaladverb so und das Partizip genannt. Die Frage ist, worin denn der Wortcharakter von sogenannt zum Ausdruck kommt, worin es sich von so genannt unterscheidet. Ich gebe zunächst eine semantische Analyse im Anschluß an die Wörterbücher und suche dann eine weitergehende textbezogene Erklärung. Es folgt ein sprachhistorischer und sprachvergleichender Abschnitt.
Bereits das Grimm'sche Wörterbuch (Bd. X, I vom Jahre 1905, dtv-Ausgabe Bd. 16, S. 1406) gibt eine bemerkenswerte, wenn auch etwas umständliche Bedeutungsbeschreibung: `man citiert damit eine bezeichnung als eine allgemein übliche oder von andern gebrauchte, ohne sie selbst dem gegenstande zuzusprechen, indem man gewöhnlich die frage der berechtigung dahin gestellt sein läszt. Wesentlich knapper heißt es in der letzten, von Herman Hirt besorgten Auflage des Weigand'schen Deutschen Wörterbuches (1910, S. 882): `den Namen führend nicht ohne Zweifel ob mit Recht. Zu solcher Bedeutung gibt der neue Paul (1992), S. 809 mehrere Beispiele aus dem DWb, Adelung und Sanders und verweist auf eine hübsche Glosse (Lenz 1968), in der `die distanzierende Potenz des Wortes (S. 205) beispielreich vor Augen geführt wird. Zahlreiche aktuelle Belege gibt der 8-bändige Duden, Bd. 7, S. 3129. Daraus läßt sich ein zweifacher Gebrauch erkennen: Auf eine Benennung hinweisend (`das israelische Parlament, die sogenannte Knesset) und distanzierend (`wo sind denn deine sogenannten Freunde?). Alle Zitate zeigen im übrigen attributiven Gebrauch des Wörtchens sogenannt. Der Sprecher/Schreiber verweist damit auf eine Bezeichnung, um diese einzuführen oder zu erklären oder sich von ihr zu distanzieren. Oft erscheint das Bezugswort in Anführungszeichen. Man erinnere sich an die sogenannte `DDR. Daß es sich hierbei um eine sehr häufige Verwendung handelt, zeigt auch die Abkürzung sog., in der kurioserweise die Zusammenschreibung über die sog. Rechtschreibreform hinaus fortlebt.
Vergleichen wir damit einige mögliche Sätze, in denen so als Einzelwort erscheint, zugleich benachbart einem prädikativ gebrauchten genannt:
(1) `Warum haben Sie Ihre Tochter so genannt? (Vorausgegangen ist eine Information über die Namenswahl.)
(2) `Wir haben sie so genannt, wie ihre Großmutter hieß.
(3) `Wir haben sie so genannt, weil das der Name ihrer Großmutter war.
(4) `Wir haben unsere Tochter so genannt: Nach altem Brauch soll sie Sarah heißen wie ihre Großmutter.
In allen diesen Beispielen wird so als Modaladverb in textphorischer Funktion gebraucht: anaphorisch in Satz (1), nämlich unter Bezug auf eine Vorinformation über die Namengebung, kataphorisch in Satz (2) (4), nämlich vorausweisend auf den folgenden Satz. Solche phorische Verwendung hat viele Parallelen im Verwendungsspektrum von so, vgl. den 8-bändigen Duden, Bd. 7, S. 3129. Auch Weinrich weist in seiner Textgrammatik (1993), S. 586 auf solche Verwendung hin.
Interessant ist ferner, daß die Duden-Grammatik 51995, ' 483, sogenannt zu einer Gruppe von Wörtern zählt, `die von der Wortart her entweder unbestimmte Zahladjektive (vgl. 471), demonstrative Adjektive (vgl. 474) oder Indefinitpronomen (vgl. 574) sind. Wozu sogenannt gehört, bleibt allerdings an den genannten Stellen offen; vermutlich wird es zu den demonstrativen Adjektiven gezählt wie solch, derartig, obig, folgend etc. Sie werden erwähnt, weil nach ihnen die Flexion von Adjektiven und Partizipien schwankt. Dies interessiert uns hier nicht näher, vielmehr nur der Umstand, daß die Grammatikalisierung von sogenannt offenbar als soweit fortgeschritten gilt, daß es zu den pronominal gebrauchten Adjektiven gerechnet wird. In der 6. neu bearbeiteten (sic!) Auflage v.J. 1998 findet sich noch der Verweis auf ' 483 im Register, aber das Wort, das es nach der neuen Schulorthographie nicht mehr geben darf, ist getilgt, der Verweis geht ins Leere. Solch willfähriger Eifer, das obrigkeitliche Verdikt gegen die Zusammenschreibung von sogenannt bis in die Grammatik zu verfolgen und das Wort dort zu vernichten, obwohl es doch in Millionen von Texten existiert, zerstört den guten Ruf der Duden-Grammatik als deskriptive Darstellung deutscher Sprache.
Es lassen sich also deutliche syntaktische Unterschiede feststellen zwischen so im Kontext eines prädikativ gebrauchten Partizip Perfekt genannt und dem attributiven Gebrauch, in dem so mit genannt zusammengeschrieben ist. Im ersten Fall vgl. die Beispiele (1) bis (4) hat so Satzgliedwert, es steht stellvertretend und verweisend für die Akkusativergänzung zum Verb nennen. In attributiver Position hatte so niemals Satzgliedwert, es war Attribut zum Partizipialadjektiv genannt mit einer hervorhebend-kataphorischen Funktion gegenüber dem folgenden Bezugssubstantiv. Die attributive Rolle von so gegenüber genannt ist in dem Kompositum sogenannt aufgehoben. Dazu gibt es im übrigen zahlreiche gebräuchliche Parallelen, wie z.B. vielgepriesen, weitverbreitet, hochgeachtet, neubearbeitet, deren Getrenntschreibung in der Schulorthographie allgemeinen Anstoß erregt. Wir können feststellen, daß mit der Zusammenschreibung, die ja auch im Wortakzent ihren Ausdruck findet (Hauptakzent auf der ersten Silbe) graphisch verdeutlicht wurde, daß so keine eigene syntaktische Funktion mehr besitzt wie in Satz (1) bis (4).
Es gibt im Zusammenhang mit sogenannt darüber hinaus noch einige weitere Fragen und frappante Erscheinungen, die möglicherweise zusammenhängen. Sogenannt hat in den europäischen Sprachen auffällig gleichgestaltige und gleichbedeutende Parallelen: z.B. engl. so-called, frz. soi-disant, ital. cosidétto, schwed. så kallad, dän. så-kaldt, ndl. zogenaamd. Auszüge aus den entsprechenden historischen Wörterbüchern ergeben folgendes Bild:
engl. so-called: OED Vol. XV (21989), p. 904:
1. prädikativer Gebrauch: `called or designated by that nameA ... auch `qualified by properly, Erstbeleg 1696;
2. attributiver Gebrauch (mit Bindestrich): `called or designated by this name or term but not properly entitled to it or correctly described by it, Erstbeleg 1837: `The Right Side .. persists .. in considering .. all these so-called Decrees as mere temporary whims.
dän. saa-kaldt (heute: så-kaldt): Ordbog over det Danske Sprog VIII. Bind (1939), p. 334f.:
`som kaldes, benævnes paa en vis (i det følgende, sjælden: foregaaende) angiven maade; især som udtr. for, at man anvender en almindelig brugt ell. af andre inført benævnelse, ell. at man reserverer sig sin egen mening ell. er skeptisk m. h. t. benævnelsens rigtighed olgnA; Belege seit 18. Jh., distanzierend 19. Jahrhundert: `en af de saakaldte Skjønheder ... var meget omflagret.
schwed. så kallad, s.k. (auch zusammengeschrieben: såkallad): Ordbok över Svenska Språket, XIII. Bandet (1933-35), s.v. kalla, p. K173:
`såsom namnet ... lyder; ofta med bibegrepp av att benämningen osv. är oriktig ... oförtjänt; Belege ab 1686, distanzierend: `Egentligt värde hade ingenting annat än det så kallade nyttiga (1817).
frz. soi-disant: Le Grand Robert de la Langue Française. 2. ed. Tome VIII, p. 815f.:
1. `Qui dit, qui prétend être telle ou telle chose
2. `Qui n'est pas ce qu'il semble être, qui n'est pas vraiment ;vgl. auch TLF Tome XV (1992), p. 590f. mit Belegen für 1. ab 1470, für 2. ab 17. Jahrhundert.
ital. cosiddétto: Battaglia, Grande Dizionario della Lingua Italiana, III (1964), p. 886:
`Detto in questo modo, designato in tale maniera (e indica, spesso in senso spreg., l'improprietà di una denominazione).
ndl. zogenaamd (auch zogenoemd, zogeheten, zogezegd): Van Dale (1999), S. 4096:
1. de genoemde typische naam dragend: de zogenaamde ‚ablaut'";
2. de genoemde naam ten onrechte voerend: een zogenaamde vriend, die geen vriend is,
3. (Adverb) in schijn, syn. quasi: hij kwam zogenaamd om een boek terug te brengen, maar in werkelijkheid om...
Vgl. dazu ausführlich WNT Bd. 28 (1996), S. 2157-2161 s.v. zoogenaamd, zoogenoemd, zoogezegd, mit Belegen seit Ende des 17. Jahrhunderts. Ähnlich wie zogenaamd (1) werden auch zogenoemd und zogeheten gebraucht, wie zogenaamd (3) auch zogezegd. Bei Van Dale (1999), S. 3125 wird auch das noch heute sehr geläufige Lehnwort soi-disant genannt (een soi-disant profeet).
Nach Ausweis der Wörterbücher stammen die Erstbelege aus dem 15. Jahrhundert (frz.), die unmarkierte Bedeutung findet sich in allen Sprachen ab 17. Jahrhundert, die markierte, distanzierende zuerst im Französischen, allgemein ab 19. Jahrhundert. Im Grimm (Bd. 16, S. 1406) finden sich Erstbelege ab 1735: `siehe die art der so genannten stoszgebetleinA; distanzierend ab 19. Jahrhundert (in einem Wort zusammengeschrieben): `wir dürfen uns dennoch unter Spee keinen sogenannten aufgeklärten denken, an der das reich der hölle und eine thätige am anfang propaganda ihres fürsten nicht glaubte.
Was die Herkunft des Wortes sogenannt betrifft, hat als erster Schmeller in seinem Bayrischen Wörterbuch (2, S. 205) eine Vermutung geäußert, die im Grimm Bd. 16, S. 1406, aufgenommen wird: `vielleicht unter einflusz des lat. sic dictus entstanden, das schon im Mittelalter üblich war (bei Schm. 2, 205 aus dem 11. Jh. belegt). Dies wiederum greift Paul/Henne S. 809 auf: `Wohl unter Einfluß des seit 11. Jh. gebräuchlichen lat. sic dictusA. Schmeller gab in seinem Artikel die diesbezügliche Handschrift an (clm 4601) mit einem Beleg für scdi, das Schmeller als sicdictus auflöste. Nachfragen beim Mittellateinischen Wörterbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (Schreiben von Franz-J. Konstanciak vom 24.2.00), der Mittellateinischen Abteilung des Instituts für Altertumskunde der Universität Köln (Fax von Dr. Susanne Daub vom 1.3.00) und dem Lehrstuhl für Lateinische Philologie des Mittelalters und der Neuzeit (Fax von Dr. Peter Orth vom 18.2.00) ergaben jedoch (hier zusammengefaßt) ein anderes Bild: sicdictus oder sic dictus ist für das Mittellateinische nicht belegt; die von Schmeller als sicdictus gedeutete Abkürzung scdi stehe vielmehr für secundi (in scdi Heinrici bzw. scdi Sigimari). So wurde auch die von Schmeller zitierte Stelle im Abdruck vom Jahre 1861 aufgelöst (MGH, Scriptores XVII, S. 321). Auch wenn dieser Beleg offenbar falsch gedeutet ist, weist F.J. Konstanciak einen Beleg für sic dicta auf der CD-Rom zum Migne PL nach (Bd. 122, Col 1322), ferner zwei Belege für nachgetragenes sic dict(us) in einer Urkunde des Klosters Pforte. Völlig negativ ist dagegen die Ausbeute von P. Orth bei neulateinischen Quellen.
Damit muß die Vermutung, daß in den parallelen Bildungen für sogenannt in europäischen Sprachen Lehnübersetzungen zu sic dictus vorliegen, vorerst ad acta gelegt werden. Solange wir nicht mehr wissen über das Verhältnis von humanistischem Neulatein und den modernen Sprachen und so lange es kein neulateinisches Wörterbuch gibt, das die möglichen Vorlagen volkssprachiger Lehnprägungen verzeichnet, muß auch die Herleitung von sogenannt, wie sie seit Schmeller in der germanistischen Lexikographie fortgeschrieben wird, als spekulativ gelten. Wie es zu den parallelen Bildungen in europäischen Sprachen gekommen ist, bleibt damit vorerst unerklärt. Die jüngere distanzierende Bedeutung der sogenannt-Familie begegnet zuerst in französischen Quellen, in den übrigen Sprachen erst ab dem 18. Jahrhundert bzw. meist erst im 19. Jahrhundert. Das könnte darauf hindeuten, daß eine Lehnbedeutung aus dem Französischen vorliegt.
Eines aber hat diese kleine Nachforschung erwiesen: Spätestens seit Beginn des 19. Jahrhunderts ist sogenannt mit seinen hier genannten europäischen Äquivalenten in spezifischer Bedeutung lexikalisiert und wird je nach einzelsprachigem Usus zusammen oder mit Bindestrich geschrieben: ein morphologisch und semantisch geradezu europäisches Lexem. Es ist kein Zufall, daß es bis in die kleinsten Taschenwörterbücher verzeichnet wird. Vor diesem Hintergrund bekommt auch die sog. deutsche Rechtschreibreform eine europäische Komponente, allerdings in negativem Sinne: Bisherige lexikalische Parallelen werden durch eine künstliche Getrenntschreibung beseitigt. Dies gilt nicht nur für sogenannt. Denn Zusammenrückungen solcher Art sind ein gängiges Phänomen moderner Sprachen. Vor allem die skandinavischen Sprachen mit ihren vielen Lehnübersetzungen aus dem Deutschen hatten bis zur deutschen Rechtschreibreform zahllose Parallelen zusammengeschriebener Wörter, die jetzt auf einmal beseitigt sind. Vgl. dt. weitgereist, jetzt weit gereist dän. vidtberejst, dt. weitreichend, jetzt weit reichend dän. vidtrækkende, dt. weitverzweigt, jetzt weit verzweigt dän. vidtforgrenet; dt. wohlbekannt, jetzt wohl bekannt schwed. välbekant, dt. unterderhand, jetzt unter der Hand dän. underhånden schwed. underhand. Die Klage skandinavischer Germanisten, die dieses Deutsch unterrichten sollen, ist offenbar noch nicht bis ins Auswärtige Amt oder gar zur KMK gedrungen. Es bleibt die Hoffnung, daß auch diese und andere Neuschreibungen in kurzer Zeit zum lexikalischen Schrott gezählt werden dürfen. Dazu gehören dann auch die zahlreichen Wörterbücher, die mit diesem lexikalischen Schrott zur Makulatur werden.
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Th. Ickler
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