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Buchstaben mit Zukunft
Schreibschrift, ade?
Tastaturen haben das Schreiben von Hand in Nischen verdrängt. Welche Schrift sollen Grundschüler in Zukunft lernen? Während darüber noch gestritten wird, fordern Wissenschaftler und Pädagogen das Ende des Schönschreibens.
Von Georg Rüschemeyer
24. August 2010
„Tres digiti scribunt et totum corpus laborat“ „Drei Finger schreiben, aber der ganze Körper arbeitet“, klagten schon die zum Kopieren von Büchern abgestellten Mönche des Mittelalters über ihren kräftezehrenden Beruf, der die Augen trübe, die Lenden breche, den Nacken krumm werden und überhaupt alle Glieder leiden lasse.
Der Spruch passt auch auf so manchen modernen Abc-Schützen, der sein Heft unter höchster Konzentration mit schnörkeligen Buchstaben füllt. Auch wenn dabei nicht gleich der Nacken krumm wird: Vor allem das Einüben der sogenannten Lateinischen Ausgangsschrift (LA) ist für viele Kinder eine feinmotorische Herausforderung. Seit dem Jahr 1953 wurde diese Schrift in den meisten deutschen Volksschulen unterrichtet und löste die seit den zwanziger Jahren gebräuchliche Sütterlinschrift schnell ab.
Anfang der siebziger Jahre entwickelte dann der Göttinger Grundschullehrer Heinrich Grünewald eine Variante dieser Schrift, die Vereinfachte Ausgangsschrift (VA). Vor allem eine starke Annäherung der Großbuchstaben an die Druckschrift, der einheitliche Beginn der Kleinbuchstaben an der Mittellinie, sowie eine geringere Zahl abrupter Wechsel der Schreibrichtung sollen den Kindern das Schreibenlernen erleichtern. Zudem soll die stärkere Gliederung der Buchstaben dem Kind helfen, Wörter analytisch in ihre Einzelteile zu zerlegen und so ihre Schreibweise besser zu verstehen.
Eine flüssige und leserliche Erwachsenenschrift
Grünewald ging für seine Schrift von der Analyse von Erwachsenenhandschriften aus, die zumeist ebenfalls mit Druck-Großbuchstaben schreiben. Das Entwickeln einer individuellen Handschrift ist im Konzept jeder „Ausgangsschrift“ durchaus gewollt und unterscheidet sie von Normschriften wie dem Sütterlin, das im Idealfall ein Leben lang in immer gleichen Formen geschrieben werden sollte.
Grünewalds VA breitete sich in den Achtzigern an westdeutschen Schulen aus und hat heute die barocke LA an vielen Schulen verdrängt. Mit der Wiedervereinigung ging schließlich noch die 1968 in der DDR eingeführte Schulausgangsschrift (SAS) ins Rennen. 1994 forderte die Kultusministerkonferenz lediglich eine verbundene Schrift (im Gegensatz zur aus einzelnen Lettern bestehenden Druckschrift), überließ die Wahl einer der drei Ausgangsschriften aber den Ländern, von denen viele ihren Schulen wiederum mehr oder minder viel Wahlfreiheit gewähren. Damit war die heutige Schriftenverwirrung perfekt, die Schülern vor allem nach einem Schulwechsel erheblich zu schaffen machen kann.
Welche der drei Schriften am leichtesten zu erlernen ist und später zur flüssigsten und leserlichsten Erwachsenenschrift wird, ist dabei vor allem eine Glaubensfrage. „Es gibt dazu in Deutschland einen erstaunlichen Mangel an Empirie“, sagt Sigrun Richter, Professorin für Grundschulpädagogik an der Universität Regensburg. Einer der wenigen Versuche, die Vorteile einer Schrift in Sachen Leserlichkeit, Schreibgeschwindigkeit und Rechtschreibung mit wissenschaftlicher Genauigkeit zu vergleichen, stammt von Heinrich Grünewald selbst. Im Rahmen eines Schulversuchs verglich er Anfang der siebziger Jahre sechs Klassen, die in der LA unterrichtet wurden, mit ebenso vielen Klassen, die seine VA erlernten. Grünewald schloss, dass seine VA sowohl Leserlichkeit, Schreibtempo und Rechtschreibung begünstige. Damit war die VA auch wissenschaftlich abgesegnet, wenn es auch schon damals nicht unbedingt guter Stil war, dass der Entwickler sein Produkt selbst evaluiert.
1996 nahm der Oldenburger Erziehungswissenschaftler Wilhelm Topsch die Studie denn auch gehörig auseinander: Sie sei voller Fehler, widersprüchlicher Daten und unbewiesener Behauptungen. Ein Beispiel: 56 Prozent der Schüler in der VA-Gruppe waren Mädchen, in der LA-Gruppe waren es jedoch nur 44 Prozent. Da Mädchen generell bessere Schreibleistungen zeigen, verfälsche allein dies die Ergebnisse erheblich zugunsten der VA, so Topsch, der die Nachlässigkeiten seines Kollegen für „skandalös“ hält.
„Schluss mit dem Schriften-Wirrwarr!“
In einer weiteren Studie, welche die Leistungen von in VA und LA unterrichteten Kindern verglich, konnte seine Regensburger Kollegin Sigrun Richter 1997 denn auch keinen Vorteil der vereinfachten Version ausmachen. „Im Gegenteil, die Leistungen der Kinder in der LA-Gruppe waren sogar etwas besser“, sagt Richter. Das hänge sie aber nur ungern an die große Glocke, weil sie sich nicht vor den Karren jener Eltern und Lehrer spannen lassen wolle, welche die Schnörkel der LA wieder zum Standard erheben wollten. „Die Frage ist doch vielmehr: Brauchen wir heute überhaupt noch eine verbundene Ausgangsschrift?“
Damit gehört sie zur wachsenden Zahl von Pädagogen, die den Streit um die richtige Schönschrift beenden wollen, indem sie sie komplett abschaffen. Unter dem Motto „Schluss mit dem Schriften-Wirrwarr!“ hat im Mai der deutsche Grundschulverband eine Initiative zur Abschaffung der drei gebräuchlichen Ausgangsschriften gestartet. Die Alternative ist simpel: Man solle es einfach bei der handgeschriebenen Druckschrift belassen, in der heute Erstklässler im ganzen Land ohnehin Lesen und Schreiben lernen, bevor sie dann in der zweiten Jahrgangsstufe zu den geschwungeneren Ausgangsschriften angehalten werden. Als didaktischen Kunstfehler bezeichnet der Verband diesen Sprung „zurück auf null“ des Schrifterwerbs. „Neben dem Frust für Kinder kostet das auch sehr viel Unterrichtszeit, die dann all den anderen Bildungsaufgaben der Grundschule abgeht“, sagt Maresi Lassek, Vorsitzende des Verbandes.
Der Grundschulverband propagiert nun die sogenannte Grundschrift, handgeschriebene Druckbuchstaben, die zum Teil für den besseren Anschluss mit einem kleinen Wendebogen enden. Diese Grundschrift soll aber nicht wie gestochen kopiert werden, sondern lediglich als Vorlage zum Entwickeln einer eigenen Handschrift dienen, die, wie es die Lehrpläne fordern, auch durchaus verbunden sein soll. Nur dürfen die Kinder unter Anleitung ihrer Lehrerinnen verstärkt selbst ausprobieren, wo beispielsweise eine Buchstabenverbindung sinnvoll ist und wo man stattdessen eher einen „Luftsprung“ einlegt.
Neuere Daten kommen aus der Schweiz
Vom drohenden Verlust deutschen Kulturguts könne angesichts der kurzen Geschichte der heutigen Ausgangsschriften keine Rede sein, meint Lasseks Stellvertreter Ulrich Hecker, Leiter der Regenbogen-Grundschule in Moers. „Die sind einfach nur anachronistischer Ballast für den Unterricht.“ Die Befürworter der drei gängigen Schriften führen neben ästhetischen Argumenten die kindliche Feinmotorik an, die zu verkümmern drohe und fürchten einen unterbrochenen Schreibfluss.
Die wenigen empirischen Vergleichsdaten, die es gibt, widersprechen dem aber. So machte die Münchener Erziehungswissenschaftlerin Christina Mahrhofer-Bernt in einer 2002 beendeten Vergleichsstudie gute Erfahrungen mit einer eigens entwickelten, der Grundschrift recht nahe kommenden Schrift und dem dazugehörigen Unterrichtskonzept, das diese Schrift nur als unverbindliche Empfehlung ansah.
Neuere Daten kommen aus der Schweiz, wo im Kanton Luzern seit 2006 neben der althergebrachten, der LA stark ähnelnden Schweizer Schulschrift, auch eine weitgehend den Druckbuchstaben angeglichene „Basisschrift“ zugelassen ist. Forscher der Pädagogischen Hochschule der Zentralschweiz in Luzern verglichen in einer im Juni veröffentlichten Studie die schreibmotorischen Leistungen von 93 Viertklässlern, die etwa je zur Hälfte in einer der beiden Schriften unterrichtet worden waren. „Dabei bestätigte sich, dass in der Basisschrift unterrichtete Kinder schneller und trotzdem leserlicher zu schreiben vermögen als mit der alten Schnürlischrift“, sagt Studienleiterin Sibylle Hurschler. Zudem war der sonst deutliche Unterschied zwischen Mädchen und Jungen in den Schreibleistungen bei der Basisschrift verschwunden.
Die letzten Domänen der Handschrift
„Die Schweizer Ergebnisse sind ein guter Beleg dafür, dass es einer ,Zwei-Schriften-Didaktik' nicht bedarf“, meint die Regensburger Professorin Richter. Ähnliche Studien seien auch zur Evaluierung der Grundschrift vonnöten, um der traditionell sehr von Behauptungen lebenden Pädagogik ein empirisches Fundament zu geben. Der Grundschulverband allerdings bewertet die bisherigen Erfahrungen an inzwischen rund 50 Grundschulen auch ohne streng wissenschaftliche Auswertung so positiv, dass man in der kürzlich gestarteten Kampagne nun bundesweit Lehrer zum Erproben der Grundschrift ermutigen will. Anfang kommenden Jahres sollen in einer Tagung auch die Grundschulreferenten der Länder für die Grundschrift begeistert werden. Denn noch empfehlen viele Lehrpläne explizit eine der drei Ausgangsschriften. Ulrich Hecker sieht das aber schon jetzt nicht als Hindernis: Nach dem in der Grundschrift wirkenden Prinzip „Ausprobieren statt vorschreiben“ gebe es ja kein Argument dafür, in der zweiten Klasse nicht auch mal eine der herkömmlichen Ausgangsschriften auf praktische Schreibweisen abzuklopfen und so zumindest den Buchstaben des Lehrplans zu befolgen.
Die große Frage, die sich im Zeitalter von E-Mails, SMS und Kleinkindern mit voller Kontrolle über die Menüstruktur des elterlichen Laptops stellt, ist allerdings: Wozu sollen die erwachsenen User von morgen überhaupt noch die Kulturtechnik der Schreibschrift beherrschen? Tastaturen haben das Schreiben von Hand im Alltag vieler Menschen auf Nischen wie Einkaufszettel oder Postkarten verdrängt, für Bewerbungen werden kaum noch handschriftliche Lebensläufe verlangt und selbst offizielle Anschreiben kann man neuerdings per E-Postbrief komplett papier- und stiftfrei versenden. Neben dem ohne Notar nur handschriftlich rechtsgültigen Testament bleiben eigentlich nur noch Prüfungen an Schule und Universität als eine der letzten Domänen der Handschrift vorerst.
Eine unverzichtbare Grundlage
Trotzdem glaubt die Lernforscherin Sibylle Hurschler nicht, dass die Schreibschrift bald überflüssig werde. „Dafür sind Bleistift und Zettel in zu vielen Situationen einfach zu praktisch.“ Und Ulrich Hecker führt Studien an, nach denen erst die Verknüpfung des motorischen Programms mit den dazugehörigen Buchstaben im Gehirn ein tieferes Verständnis für den Aufbau von Buchstaben und Wörtern erzeugt.
Auch Sigrun Richter sieht in der Handschrift eine unverzichtbare Grundlage des Schreibenlernens. Doch das Schreiben am Computer müsse für einen zeitgemäßen Schreibunterricht viel mehr in die Lehrpläne integriert werden. „Wir haben das mal in einer Studie ausprobiert: Ab der dritten Klasse kommen die Kinder mit ganz normalen Tastaturen bestens klar.“
Text: F.A.S.
faz.net 24.8.2010
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