Infokästen: Wahrig (2002) vs. Duden (2000)
(Ich stelle den Beitrag noch einmal an dieser Stelle ins Forum, da nicht nur Bertelsmann betroffen ist; es handelt sich ja eher um einen Blick auf die beiden Marktführer unter den Wörterbuchanbietern.)
In Reformpropaganda wird die alte Rechtschreibung gern damit dämonisiert, zu erzählen, wie sich im Laufe der Zeit lauter Detailvorschriften angesammelt hätten, bis das Gesamtregelwerk völlig unüberschaubar geworden sei.
Wegen der Schwächen der amtlichen Neuregelung hat die neue Rechtschreibung die alte in dieser Hinsicht längst übertroffen. Sowohl Duden als auch Bertelsmann rühmen sich, ihre aktuellen Rechtschreibwörterbücher mit hunderten von Infokästen im Stichwortbereich ausgestattet zu haben. Aus ergonomischer Sicht des Wörterbuchnutzers sind die auch ganz praktisch. Allerdings sind an diesen Stellen lauter Zusatzregeln untergebracht. Sie dienen normalerweise als Begründung für Schreibweisen, die im Wörterbuch anders eingetragen sind als eigentlich aus der echten Neuregelung zu folgern sein müßte. Manchmal sind aber sogar noch auf Basis dieser Ergänzungen Widersprüche zu den Wörterbucheinträgen zu entdecken.
Ein paar Beispiele:
Im brandneuen Wahrig steht auf S. 460 ein Kasten zum Umgang mit dem Zusatz halb. Wann wird zusammen, wann getrennt geschrieben?
Zusammensetzungen des Adverbs halb mit einem Adjektiv schreibt man zusammen, wenn halb als bedeutungsmindernd verstanden wird: halbamtlich, halbleinen, halbseiden. §36 (5)
Ansonsten gelten mehrteilige Ausdrücke mit halb als getrennt zu schreibende Wortgruppen (halb leer, halb nackt, halb offen, halb voll) mit der Einschränkung, dass Getrennt- oder Zusammenschreibung möglich ist, wenn nicht eindeutig erkennbar ist, ob es sich um eine Wortgruppe (halb gar) oder um eine Zusammensetzung handelt (halbgar). §36
Das geht zwar mit der amtlichen Neuregelung konform, aber trotzdem fragt man sich doch, warum halb bei den nur so angegebenen Lemmata halb nackt, halb verhungert oder halb wach nicht bedeutungsmindernd sein soll. Schließlich ist im Gegensatz zu etwa halb leer bei ihnen nicht gemeint, daß der Zustand genau zur Hälfte zutreffe.
Das mysteriöse Kriterium, das hier zur Geltung kommen könnte, steht dagegen in Dudens Infokasten zum selben Thema auf Seite 446: Getrenntschreibung, wenn 'halb' als Gegensatz zu 'ganz' aufgefasst wird. Als Beispiele dafür dienen die halb leere Flasche, das halb offene Fenster und ein halb verhungerter Vogel. Das ist also ein bedeutungsorientiertes Kriterium, das in der amtlichen Neuregelung nirgends vorkommt. Mehr noch: Komischerweise gibt der Duden z.B. die Schreibungen halbdunkel, halbbitter und halblaut an, die der eigenen Regelung offensichtlich nicht entsprechen. Daß Zusammenschreibung eintreten soll, wenn halb als bedeutungsschwächender Zusatz aufgefaßt wird, erwähnt der Duden zwar auch, aber natürlich lassen sich die angeführten Beispiele beliebig beiden Fällen zuordnen. Oder anders gesagt, es ist bedeutungsmindernd, wenn halb als Gegensatz zu ganz aufgefaßt wird, was sonst? Wahrscheinlich beruht der ganz-Notbehelf auf der Überlegung, daß man zwar schreiben kann das Glas ist ganz leer, im Gegensatz zu das Glas ist *ganzleer, aber genauso kann man natürlich auch schreiben es war ganz dunkel, trotzdem soll nicht halb dunkel die richtige Schreibung sein, sondern halbdunkel. In Zweifelsfällen, schließt daher Dudens Infokasten, sei sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung möglich. Vor dem beschriebenen Hintergrund sind allerdings eigentlich alle Fälle Zweifelsfälle. Als Beispiele für Zweifelsfälle nennt der Duden nur halb_gares Fleisch und halb_links stehen. Warum die freie Wahl ausgerechnet bei diesen Fällen besteht, bei anderen gleichartig gelagerten jedoch nicht, das bleibt ein Geheimnis.
Zur Frage, wann der Zusatz wieder mit dem folgenden Wort zusammen und wann getrennt geschrieben werden soll, bietet der neue Wahrig nur äußerst knappe Ausführungen. Sie haken bei der Unterscheidung zwischen wiederbekommen und wieder bekommen ein:
Fügungen aus Partikel und Verb in der Bedeutung 'zurück' schreibt man im Infinitiv und den Partizipien zusammen: Sie wollen das Geld wiederbekommen (=zurück).
Aber: In der Bedeutung 'erneut, nochmals' wird das Gefüge getrennt geschrieben (sowohl die Partikel wieder als auch das Verb sind betont): Wir sollen den Preis wieder bekommen (=erneut).
Ebenso: wieder entdecken, wieder erzählen, wieder bekommen (=zum zweiten Mal) usw.
Das ist recht nah am amtlichen Regelwerk, obwohl die Zusammenschreibung im Nebensatz bei Endstellung des Verbs (§34 Neuregelung) nicht erwähnt wird, dafür aber schon zaghaft Betonungskriterien. Der Duden führt in dem entsprechenden Infokasten die Betonung eigens unter III. als Kriterium an, also nicht nur als zufällige Begleiterscheinung. Das entspricht zwar den 97er Änderungsvorschlägen der Rechtschreibkommission, aber natürlich wiederum nicht dem tatsächlichen amtlichen Regelwerk. Eigenartig sind beim Duden die unter II. angegebenen angeblichen alten Schreibweisen für angeblich neue Getrenntschreibungen vor allem dann, wenn 'wieder im Sinne von 'nochmals, erneut' verstanden wird. Bisher sollen folgende Schreibungen demnach richtig gewesen sein:
Sie hat ihre Arbeit wiederaufgenommen.
Es ist mir alles wiedereingefallen.
Ich werde das nicht wiedertun.
Vor allem die letzten beiden Beispiele sind natürlich völlig unüblich. Die Fakultativität, die Ickler in seinem Wörterbuch angibt, entspricht den wahren Verhältnissen. Das geht auch aus einigen Lemmata im Duden hervor, die nicht farblich hervorgehoben sind, also von der Reform unverändert geblieben sein sollen: z.B. wieder_erkennen, wieder_eröffnen, wieder_vereinigen. Während Duden bei diesen Wörtern sowohl Getrennt- als auch Zusammenschreibung undifferenziert nebeneinanderstellt, unterscheidet Wahrig hier nach Betonung (die auf die Bedeutung zurückgeht, ohne diese aber genau auszuführen).
Weiterhin findet man dann sowohl bei Wahrig als auch bei Duden unter den Lemmata doch wieder solche, die den Angaben in den Infokästen widersprechen: wieder herrichten (aber gleich danach wiederherstellen!), wieder gutmachen (Duden: auch wiedergutmachen, ohne Bedeutungsunterscheidung), wieder eingliedern (nur Wahrig), wieder aufnehmen (Duden: auch wiederaufnehmen, ohne Bedeutungsunterscheidung).
Die verzeichneten Schreibweisen werden also nicht einmal von den Ergänzungen des Regelwerks überall stimmig erklärt. Vieles bleibt rätselhaft, trotz Infokästen. Das Ergebnis ist äußerst chaotisch. Natürlich sind die Ergänzungen Notbehelfe, um das Reformregelwerk irgendwie zu retten. Bloße Präzisierungen, wie die Reformer es gerne nennen, sind es nicht, denn sie fügen dem Regelwerk, da die Ausführungen sich mit ihm nicht decken, offensichtlich zusätzliche Bestimmungen hinzu. Wenn Notbehelfe gebraucht werden, muß ein Notstand vorliegen, und der ist natürlich von der Reform verursacht. Durch die vorgenommenenen Nachbesserungen wird die neue Rechtschreibung immer schwerer durchschaubar. All dieses Kuddelmuddel ist nur loszuwerden, wenn die Reform komplett wieder zurückgenommen wird.
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