Schriftsprachenerwerbsforschung
Ein Artikel aus der 'Berliner Morgenpost' vom 18.6.02:
«Kinder müssen lernen, wozu Buchstaben taugen»
TU-Professorin Barbara Kochan: Erkenntnisse der Wissenschaft finden kaum Eingang in den Unterricht
Von Sybille Nitsche
Manchmal kommen Tatsachen ans Licht, die ans Licht zu holen gar nicht beabsichtigt waren. So erging es der Hamburger Wissenschaftlerin Mechthild Dehn, als sie Anfang der 80er-Jahre untersuchen wollte, wie sich die Qualität unterschiedlicher Fibeln auf den Lernerfolg auswirkt, dann aber herausfand, dass Lehren und Lernen nicht zwangsläufig etwas miteinander zu tun haben. (Möglicherweise hatten das ganze Generationen deutscher Schüler schon vorher vage geahnt.) Dehn jedenfalls konnte nun belegen, dass ein im Unterricht behandelter Buchstabe keine Garantie dafür war, dass die Erstklässler den Buchstaben auch kannten, und andererseits wiederum waren ihnen Buchstaben geläufig, die noch gar nicht gelehrt worden waren.
«Lernen wird im Unterricht immer noch ausschließlich als Folge des Lehrens gestaltet», sagt Professorin Barbara Kochan vom Institut für Sprache und Kommunikation an der Technischen Universität Berlin. Da steht der Lehrer an der Tafel, erklärt die Welt, und der Schüler hat es zu begreifen. Dieser Zusammenhang von Lehren und Lernen sei jedoch längst wissenschaftlich widerlegt, sagt Kochan. Das gilt besonders auch für den schriftsprachlichen Unterricht. Aber gerade dort wird diese Erkenntnis noch am hartnäckigsten ignoriert. Schreiben und Lesen wird den Kindern wie vor hundert Jahren «beigebracht», statt ihnen Möglichkeiten zu schaffen, die Sprache «in Gebrauch» zu nehmen wie einen Gegenstand, um sich «selbsttätig Erkenntnisse von der Struktur der Sprache zu erarbeiten», heißt es in einem Artikel der Berliner Wissenschaftlerin. «Kinder müssen die Erfahrung machen, wozu Buchstaben taugen, und sie taugen dazu, mir meine Gedanken aus dem Kopf zu holen und anderen zu zeigen», sagt sie. Für den Unterricht bedeute das, er müsse so organisiert werden, dass Kinder etwas aufschreiben, was in ihrem Kopf ist und was andere lesen Mitschüler, Eltern, Geschwister , und nicht einen fremden Text aus der Fibel einfach nur abschreiben.
Doch die «herkömmliche Didaktik» gehe noch immer davon aus, «dass Kinder rechtschreiben lernen, indem sie sich die korrekte Schreibweise durch Nachschreiben einprägten». Das Rechtschreibenlernen wird als Gedächtnisleistung verstanden, der durch intensives Üben auf die Sprünge zu helfen ist, um sich die Schreibweise einzuprägen. Wer zehnmal hintereinander «fahren» schreibt, wird es beim elften Mal nicht wieder ohne h schreiben so die landläufige Meinung. «Ein Trugschluss» sei das, sagt Barbara Kochan. Durch die Schriftspracherwerbsforschung weiß man, dass das Schreibenlernen «Denkarbeit» ist.
Kochan erläutert an einem Beispiel, wie sich diese «Denkarbeit» vollzieht: Das Kind hat Wörter wie Butter, Futter, Blätter, Vater gelernt und schreibt dann Sofer statt Sofa, weil es den Laut am Ende der Wörter mit der Endung «-er» verbindet. «Das Kind hat zwar einen Fehler gemacht», sagt die Wissenschaftlerin, «aber es hat für sich eine Regel entdeckt und damit eine Denkleistung vollbracht», denn Kinder begingen Fehler nicht etwa, weil sie ihr Gedächtnis im Stich gelassen hätte, «sondern zuallererst deshalb, weil sie sich etwas dabei denken, das durch ihre noch unvollkommenen Spracherfahrungen gestützt wird».
Normalerweise wird ein solcher Fehler vom Lehrer lediglich korrigiert, weil er nicht erkennt, warum das Kind Sofer geschrieben hat. Lehrer wüssten selten, warum Kinder so schreiben, wie sie schreiben, denn sie lernten das Interpretieren der «Fehler» in ihrer Ausbildung nicht, sagt Kochan. «Wenn man diese (Fehler Anmerkung der Red.) nicht als solche (Denkleistung Anmerkung der Red.) anerkennt, sondern ihr Ergebnis lapidar als ¸falsch´ bezeichnet, wird das Kind über kurz oder lang entmutigt, weiter selbstständig denkend in die Prinzipien unserer Schriftsprache einzudringen, wird vielleicht sogar an seinen Erkenntnisfähigkeiten generell zu zweifeln beginnen . . .»
Da das Rechtschreibenlernen keine Gedächtnisleistung sei, prägten sich «normabweichende Fehler auch nicht sofort ein», weiß Kochan. Das heißt eben auch, dass ein Kind ein Wort, wenn es es einmal geschrieben hat, nicht folgerichtig ein zweites Mal wieder genauso schreibt. Wissenschaftler fanden heraus, dass Kinder wie zu Luthers Zeiten schrieben.
Sie machten die Schriftentwicklung durch, so deren Erkenntnis. Sie schrieben, was sie hörten. Auch in der lutherischen Bibel finde man unterschiedliche Schreibweisen für ein und dasselbe Wort, so Barbara Kochan. «Dass wir heute so schreiben, wie wir schreiben, sei ja nur Folge der Normierung», so die Professorin. Wie unterschiedlich die Schreibweise eines Wortes sein kann, zeige gerade auch die Diskussion zur Rechtschreibreform.
Eingang in den Unterricht aber finden all diese Erkenntnisse kaum, hätten sie doch ein anderes Selbstbild des Lehrers zur Folge er wäre dann nicht länger mehr einer, der die Sprache erklärt, sondern einer, dessen Aufgabe das «Führen zum Finden» ist.
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Jörg Metes
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