Lehrer Lämpel in Gewissensnot
Im Februar 1997
Rechtschreibreform treibt Pädagogen an den Rand der Verzweiflung
Als Lehrer Lämpel zur Weihnachtszeit mit seinen Grundschulkindern O du fröhliche sang und immer wieder gnadenbringende Weihnachtszeit über die Lippen brachte, ging es ihm durch den Kopf, wie er gnadenbringende nach der neuen Rechtschreibung zu schreiben hätte. Es würde wohl hier zu weit führen, die entsprechenden Regeln oder Paragraphen anzuführen, die zu einer Klärung (Verwirrung) unseres Falles beitragen könnten, wer sich jedoch durch den Paragraphendschungel kämpfen will, dem seien im Duden die Seiten 34/35 und 873-876 anempfohlen, jedenfalls kamen folgende Beispiele zum Vorschein: Hilfe bringend, Gefahr bringend, Glück bringend, Unheil bringend, Segen bringend, Trost bringend. Na ja, dachte sich Lehrer Lämpel, dann werde ich wohl zukünftig Gnaden bringend schreiben müssen. Aber siehe da: Gewinn bringend kann er auch gewinnbringend schreiben und nutzbringend, todbringend, fruchtbringend, heilbringend muß er sogar nach der alten Schreibweise zusammen und klein schreiben!
Ein Anruf bei der Sprachberatungsstelle der Dudenredaktion in Mannheim zwecks Klärung ist aussichtslos: Dort hört man nur den Besetztton auch ein deutliches Zeichen dafür, wie die Rechtschreibreform die Orthographie erleichtert.
Die schriftliche Klärung eines anderen Rechtschreibfalles hat knapp vier Wochen gedauert!
Lehrer Lämpel fühlt sich verlassen, verkauft, total verunsichert, der rechtschriftliche Boden unter seinen Füßen wird ihm weggezogen. Wie soll sich da noch jemand auskennen? Wie sollen Kinder mit einem solchen orthographischen Hü und Hott zurechtkommen? Schreiben macht keine Freude mehr, denn obwohl der Umfang der Rechtschreibreform nur 0,4 % eines Textes betrifft, steht Lämpel (und bestimmt nicht nur er!) sehr viel häufiger vor der Frage: Hat sich etwas geändert, ist es gleichgeblieben, kann man es jetzt so oder so schreiben (Doppelschreibungen)?
Wer kann ihm z. B. sagen, warum hoch begabt auseinander und hochgebildet zusammengeschrieben wird? Und ist ein inhaltlicher Unterschied zwischen Arbeit suchend und arbeitssuchend feststellbar? Kann ihm jemand erklären, warum er nahe stehend und näher stehend auseinander, aber nächststehend wieder zusammenschreiben soll? Oder das Mal-Durcheinander: ein paar Mal, manchmal, jedes Mal, diesmal, etliche Mal, sovielmal... Welch ein Unterschied liegt zwischen schlecht gelaunt (auseinander) und missgelaunt (zusammen), zwischen Ekel erregend und ekelhaft? Warum muß Musik liebend getrennt, dagegen tierliebend zusammengeschrieben werden? Ebenso: Eis laufen, aber seiltanzen, Leben zerstörend, aber lebenbejahend, hilferufend, aber Hilfe suchend. Und wenn wohltuend zusammenschrieben wird, dann doch auch wohltun denkste, wird aber auseinander geschrieben: wohl tun! Ebenso wohlwollend, aber wohl wollen! Klein wird geschrieben pleite werden, groß jedoch: Pleite gehen. Genau entgegengesetzt wird bald die Schreibung der goldenen Zwanziger sein (jetzt klein, künftig groß) oder des Goldenen Zeitalters (jetzt groß, künftig klein). Das sind nur einige wenige Beispiele der verwirrungstiftenden (Verwirrung stiftenden?) Neuregelungen.
Der alte Lateiner (und nicht nur der!) muß sich im Grabe umdrehen, wenn er sähe, wie man jetzt ext-ra, Ult-raschall oder Demonst- ration trennen muß oder nach §108 Obst-ruktion, Konst-ruktion oder Demok-rat trennen kann. Bis jetzt galt die Trennung nach Vorsilben, also dar-auf, hin-auf, her-an, vor-an, ein-ander, jetzt nach Sprachgefühl (Sprechsilben): da-rauf, hi-nauf, he-ran, vo-ran, ei-nander (das letztere kommt wohl von Ei?!). Die Vollendung der neuen Trennungsmöglichkeiten ist jedoch zweifelsohne in vol-lenden (Duden, letzte Seite unten) erreicht! Ist aber damit nicht eine äußerste Verunsicherung und der Verfall des Sprachgefühls verbunden? Muß denn das Bildungsniveau eines Analphabeten zum Maßstab für alle anderen gemacht werden?
Leuchtet einem Kind etwa die Trennung von Zu-cker ein, das eingebleut (zukünfig: eingebläut) bekommt, zwischen doppelten Mitlauten zu trennen, nur nicht beim ck, das aber in Wirklichkeit kk ist und bei der Trennung als solches sichtbar werden sollte? Außerdem: Wer spricht schon Zuuuuuuuu-cker?
Und was soll der Unsinn: Einen einzelnen Buchstaben am Anfang eines Wortes darf man abtrennen, am Schluß dagegen nicht?
Sind das etwa Leseerleichterungen: Zooorchester, Nussschokolade, Bassstimmen?
Tierkundler, aufgepaßt! Schon mal was von einem Tätigkeitsfisch gehört? Nein? Den gibt's auch nicht, aber einen Tunfisch!
Daß unsere Sprache nicht leicht zu beherrschen ist, steht außer Frage, daß sie aber nicht leichter beherrschbar wird durch die neue Sprachreform, das steht für Lehrer Lämpel ebenfalls fest.
Derjenige, der sich in seiner Sprache zu Hause fühlt, der sie liebt und für den sie ein hohes Kulturgut darstellt, kann außerdem nur mit Besorgnis und Entsetzen reagieren, wenn zugunsten der Getrenntschreibung unsere Sprache ihrer Differenzierungsmöglichkeiten beraubt wird und nicht mehr deutlich werden kann, was gemeint ist:
Ist ein hoch stehender Beamter ein Beamter auf einer Leiter oder in einer gehobenen Position? Ist ein Kind, das nicht sitzen geblieben ist, in die nächsthöhere Klassenstufe versetzt worden oder nur in der Klasse herumgelaufen? Wenn jemand Frau und Kinder hat sitzen lassen, hat er sie dann im Stich gelassen oder ist er ihnen zuliebe aufgestanden und hat ihnen den Sitzplatz überlassen? (Randbemerkung: zuliebe bleibt weiterhin zusammen, zu Lande wird dagegen getrennt.)
Wer Lehrer Lämpel bisher überwiegend zustimmen konnte, wird sich nun fragen, was die ganze Aufregung über die neue Rechtschreibung soll, wo doch der Zug abgefahren ist. Am 17.01.97 konnte man in der Westerwälder Zeitung lesen: 87 % der Grundschulen in Rheinland-Pfalz haben die neuen Rechtschreibregeln bereits eingeführt. Und Die Woche hat sich als erste Zeitschrift dazugesellt. Das freut die Sprachreformer und Kultusminister. Die Einführung der neuen Orthographie soll schnell und diskussionslos geschehen. Ihre Absicht, die Kinder vor dem überflüssigen Erlernen der alten Rechtschreibregeln zu bewahren, wo doch bald nur noch die neuen gelten werden, ist ja auch einsichtig, und nach diesem Grundsatz wurde gleichfalls an Lämpels Schule bei der Einführung der neuen Rechtschreibung verfahren. Nur war zum Zeitpunkt des einführenden Konferenzbeschlusses der Reform-Duden erst wenige Tage auf dem Markt. Man konnte vorher wenig über den Inhalt der Reform erfahren, die ganze Sinnlosigkeit (weil durch die Reform kaum Erleichterungen erzielt, dafür aber um so mehr Verwirrung gestiftet wird) offenbarte sich erst durch das Erscheinen des neuen Duden. Wer ein wenig darin blättert, kann sich selbst von den Erleichterungen ein Bild machen wem das zu mühselig ist, möge einen mit 3 DM frankierten und adressierten Briefumschlag an folgende Adresse schicken: Peil, Stephanus, 56457 Gershasen, damit der Autor ihm eine 12-seitige Zusammenstellung von Rechtschreibfällen zuschicken kann.
Wenn nun Lehrer Lämpel von der Unsinnigkeit und Überflüssigkeit der Rechtschreibreform überzeugt ist, kann er dann den Kindern die neue Rechtschreibung glaubhaft beibringen? Kann er denn Religionsunterricht erteilen, wenn er selbst keinen Glauben an Gott hat? Überträgt sich nicht die Unsicherheit des Lehrers auf die Kinder?
Neben dem Gewissenskonflikt beim Vermitteln der neuen Rechtschreibregeln im Unterricht belastet die Rechtschreibreform auch das sonst sehr gute, kollegiale Verhältnis zur Schulleitung. Die möchte nämlich, daß auch die Schreiben an die Eltern (einschließlich der Verbalbeurteilungen auf den Zeugnissen) oder dienstliche Schreiben mit Schulbehörden in der neuen Rechtschreibung abgefaßt werden. Dies sieht Lehrer Lämpel nicht im geringsten ein, und er schreibt außerhalb des Unterrichts (so wie Bundespräsident Herzog) nach der jetzigen, längst noch nicht alten Rechtschreibung. Auf welcher Rechtsgrundlage beruht überhaupt die schulleiterliche Anordnung? Nicht schon genug damit, daß sich Lehrer Lämpel im Unterricht als Vollzugsbeamter fühlt, der die Befehle von oben ohne innerliche Zustimmung ausführen muß, was ihn sehr bedrückt und große Gewissenskonflikte in ihm verursacht, nein, jetzt soll er auch noch den Eltern gegenüber, denen er überhaupt nicht weisungsberechtigt ist, die neue Rechtschreibung vertreten, was den Eltern suggerieren würde, daß auch für sie die Reform bereits ab sofort gälte, was aber in keiner Weise zutrifft, denn der Tag der Einführung ist bekanntlich erst der 1.8.98, und sie soll nur für Schulen und Behörden gelten.
Vernünftiger ist es, auf einem Weg, der nicht zum Ziel führt, umzukehren, statt ihn weiter zu begehen. Oder stürze ich mich vielleicht, wenn ich vor einem Abgrund stehe, willig hinab und rufe: Zu spät, ich kann doch nichts mehr ändern, es tut mir leid (neu: Leid)!?
Zu solch einer überflüssigen, aber milliardenteuren Reform kann man einfach nicht schweigen und denken: Es geht mich nichts an. Steht Lämpel zur Sprache wie ein Zaungast? Ist die Sprache ein Kulturgut nur für Dichter und Denker? Nein! Solange jemand denkt, denkt er in Sprache, seine Gedanken werden durch die Sprache transportiert, jeder ist also Betroffener!
Die Rechtschreibreform ist lediglich auf dem Erlaßwege zustande gekommen. Keinerlei Parlamentsdebatte hat Vor- und Nachteile diskutiert, die gesetzgebende Gewalt wurde umgangen. Damit ist sie undemokratisch und nach Dr. Kopke verfassungswidrig.
Es handelt sich z. Zt. lediglich um eine vollkommen unverbindliche Absichtserklärung (also keineswegs um einen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag!), die ohne rechtliche Folgen rückgängig gemacht werden kann und muß.
In diesem Sinne wünscht Lehrer Lämpel den Bürgerinitiativen in Bayern und Schleswig-Holstein gegen die Rechtschreibreform, den anderen Bürgerprotesten und den anstehenden Gerichtsverfahren viel Glück. Einen kleinen Zwischenerfolg kann der wachsende Widerstand gegen die Reform bereits verbuchen: Nach einer Pressemitteilung vom 22.01.97 soll die Rechtschreibreform geändert werden! Es steht uns also eine Reform der Reform ins Haus! Werden demzufolge in Kürze die 5 Millionen bisher verkauften neuen Wörterbücher (nicht mitgerechnet die neu herausgekommenen Schulbücher etc.) Makulatur sein? Sind mehrere hundert Millionen Mark (für Wörterbücher, Software, veränderte Schulbücher und andere Sprachlehrwerke) zum Fenster hinausgeworfen worden?
Kann es Lehrer Lämpel guten Gewissens verantworten, die Kinder nach den neuen Rechtschreibregeln zu unterrichten, wenn es nun feststeht, daß sie mit Sicherheit wieder überarbeitet werden?
Bis zum 01.08.1998 dem endgültigen Tag der Einführung verbleibt noch viel Zeit. Wir können also noch hoffen!
|