Den folgenden Text hatte ich in den letzten Tagen ein wenig herumgeschickt, auch an die FAZ:
Orthographische Optionen
Zum fünften Jahrestag der Rechtschreibreform
von Theodor Ickler
Wir hätten die Rechtschreibreform nicht machen dürfen. Das sagte kein Geringerer als der bayerische Kultusminister Hans Zehetmair (Bayerische Staatszeitung vom 11.7.2003) Seine Äußerung traf zufällig mit einem dreifachen Jahrestag der Reform zusammen: Vor sieben Jahren wurde die Rechtschreibrefom an den meisten Schulen eingeführt, vor fünf Jahren trat sie offiziell in Kraft, vor vier Jahren wurde sie in modifizierter Form von den Nachrichtenagenturen und den meisten Zeitungen übernommen. Das dreifache Jubiläum ist für die verantwortlichen Kultusministerien Zehetmair deutet es an kein Grund zum Feiern; doch soll hier weder die Misere aufs neue ausgebreitet noch die Frage nach den Schuldigen gestellt werden. Richten wir den Blick in die Zukunft: Welche Möglichkeiten gibt es, den Schaden möglichst glimpflich zu beheben?
Augen zu und durch?
Bisher haben die Kultusminister versucht, die Neuregelung unverändert durchzusetzen und lediglich auf stärker vereinheitlichte Umsetzung in Wörterbüchern, Schulbüchern und Medien hinzuwirken. Für die Wörterbücher ist das weitgehend gelungen; die Unternehmen Duden und Bertelsmann haben in zahlreichen Beratungsgesprächen mit der zwischenstaatlichen Kommission einheitliche Schreibweisen vereinbart. Dadurch werden jedoch die objektiv vorhandenen Fehler der Reform nicht beseitigt.
Für die Beibehaltung der reformierten Schreibung scheint zu sprechen, daß den Schülern nicht schon wieder eine Entwertung des gerade erst Gelernten zugemutet werden könne. Dieses Argument übersieht jedoch, daß die zur Zeit unterrichtete Schulorthographie
nicht mit der Orthographie der Presse übereinstimmt
ohnehin revidiert werden muß, da sie objektiv fehlerhaft ist
bei weitem nicht die Verbreitung hat, die ihr unterstellt wird; sie ist eigentlich auf die Schule beschränkt, anderswo herrschen Hausorthographien oder die alte Rechtschreibung.
Reparatur der Neuregelung?
Der erste Versuch, die Neuregelung zu korrigieren, stammt von der zwischenstaatlichen Rechtschreibkommission, die sich mehrheitlich aus den Urhebern des Reformwerkes zusammensetzt. Vorgelegt wurde er bereits Ende 1997; nach einer ergebnislosen Diskussion (Mannheimer Anhörung am 23. Januar 1998) untersagten die Kultusminister und das damals stark engagierte Bundesinnenministerium sämtliche Änderungen, auch die von den Reformern selbst als unumgänglich notwendig bezeichneten. Seither sind keine neuen Tatsachen bekannt geworden, die ein anderes Votum der Politiker erwarten lassen.
Damit erledigt sich wohl auch ein umfassender Reparaturversuch, den die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung zuerst 1999 und dann in Buchform im Frühjahr 2003 vorgelegt hat. Er stammt im wesentlichen von Peter Eisenberg, der parallel dazu im Wahrig Universalwörterbuch (dtv 2002) detaillierte neue Schreibweisen angegeben hat. All diese Vorschläge lassen, obwohl sie von der Neuregelung ausgehen, praktisch keinen Stein auf dem anderen, sind aber darüber hinaus widersprüchlich und fehlerhaft, so daß die zwischenstaatliche Kommission mit ihrer schroffen Zurückweisung des Akademie-Vorschlags als völlig untauglich (Pressemitteilung vom 22. Mai 2003) nicht ganz unrecht hat.
Nicht wenige Kritiker, so auch die Deutsche Akademie, sind bereit, den Reformern die neue ss-Schreibung zuzugestehen, weil sie nun einmal das Signal ist, daß man die Reform nicht in Bausch und Bogen ablehnt. Das wäre allerdings paradox, denn diese Heysesche s-Schreibung gehörte eigentlich gar nicht zum jahrzehntelang verfolgten Reformplan. Sie ist, nach wenig ermutigenden Versuchen Ende des neunzehnten Jahrhunderts, erst in letzter Minute und gegen die Überzeugung der Reformer erneut aufgegriffen worden (ebenso wie die vermehrte Großschreibung). Sollte ausgerechnet etwas, was wirklich niemand wollte, als einziges Reform-Überbleibsel Bestand haben?
Rückkehr zum alten Duden?
Der Duden hatte die tatsächlich praktizierte, historisch gewachsene Rechtschreibung leidlich korrekt dokumentiert, doch war die Redaktion durch die vielen Anfragen der Benutzer dazu verleitet worden, Einzelfallschreibungen auch dort festzulegen, wo es sich in der Sprache selbst um objektive Übergangsphänomene handelt (getrennt oder zusammen? klein oder groß?). In Verbindung mit dem Dudenprivileg, das die deutsche Rechtschreibung mit ihrer Darstellung im Duden identifizierte, kam es zu dem unersprießlichen Zustand, daß genau genommen praktisch niemand die deutsche Rechtschreibung vollkommen beherrschte. Nur weil man es eben nicht so genau nahm, konnte man damit recht gut leben. Die Dudenredaktion selbst sprach übrigens gelegentlich von einem goldenen Käfig, in dem sie sich jahrzehntelang befunden habe, und kann sich eine andere Konstruktion, etwa wie in Großbritannien, durchaus vorstellen. Es ist daher nicht wünschenswert, den alten Zustand umstandslos wiederherzustellen.
Einheitsorthographie
Die tatsächlich im deutschen Sprachraum verwendete Rechtschreibung, die sich niemals mit der Dudennorm deckte, war und ist anerkannt leserfreundlich und bei richtiger Darstellung keineswegs besonders schwierig. Vergleichspunkte müssen die französische und die englische Orthographie sein, mit denen die deutsche einen Dreierbund bildet, der völlig anders geartete Schriftprinzipien zugrunde legt als die meisten anderen europäischen Sprachen. Ungeachtet einer gewissen Flexibilität erwies sich die seit dem Ende des 19. Jahrhunderts übliche deutsche Rechtschreibung als hinreichend einheitlich; die vorhandenen Unterschiede fielen dem Leser so gut wie nie auf. Sie war in keinem Punkt grammatisch fehlerhaft; andererseits nahm sie auf textsemantische Bedürfnisse und damit auf die schnelle Sinnentnahme in beinahe unübertrefflicher Weise Rücksicht. Allerdings hatte die erwähnte Duden-Privilegierung die Lexikographie daran gehindert, den herrschenden Usus zunächst einmal deskriptiv zu erfassen ein Versäumnis, dessen Behebung auch den Reformvorschlägen hätte vorausgehen müssen. Es wäre dann nicht zu der undurchschaubaren Mischung von geänderter Schreibweise und geänderter Darstellung gekommen.
Steht die sachliche Überlegenheit der bisherigen Rechtschreibung außer Frage, so ist zu überlegen, wie man ihr zu tatsächlicher Anerkennung verhelfen kann, ohne den bereits angerichteten Schaden zu vergrößern. Die Deutsche Akademie bezeichnete ihren Kompromißvorschlag, der um die Beibehaltung der eigentlich abgelehnten (und im Kompromißvorschlag selbst desavouierten) reformierten s-Schreibung zentriert ist, als zweitbeste Lösung; ihr Plädoyer setzt voraus, daß die beste Lösung nämlich ein ausgekämmter Duden im oben dargestellten Sinne nicht mehr erreichbar sei. Zu solcher Resignation besteht kein Anlaß. Folgende Schritte sind denkbar und ohne weiteres möglich:
Erstens. Die bisherige Rechtschreibung bleibt ohne zeitliche Begrenzung gültig. Ihre identifikatorische Bindung an den Duden (Dudenprivileg) wird jedoch aufgehoben.
Diese Rechtschreibung ist nicht nur in Millionen Druckwerken dokumentiert, die zu einem beträchtlichen Teil weiterhin gelesen und genutzt werden, sondern wird auch von Schriftstellern und anderen Autoren auf absehbare Zeit benutzt und keinesfalls durch die (ohnehin de facto bereits überholte) Neuregelung von 1996 ersetzt werden. Eine Schulorthographie, die namhafte zeitgenössische Autoren und seriöse Werke verschiedener Verlage als falsch geschrieben erscheinen läßt, erledigt sich selbst.
Zweitens. Die bisherige Rechtschreibung wird von den einschlägigen Verlagen und Instituten empirisch erforscht und mit ihren sinnvollen Spielräumen deskriptiv dargestellt. Im freien Wettbewerb um die beste Darstellung werden sich die besten orthographischen Hilfsmittel herausbilden, wie es zum Beispiel in England und Frankreich seit je üblich ist, übrigens auch in Deutschland, sobald es um andere Fragen als die orthographischen geht (Aussprache, Grammatik, Wortbedeutung, Stil).
Drittens. Für den Schulgebrauch werden Rechtschreibwörterbücher wie andere Schulbücher einem Zulassungsverfahren unterworfen. Fachgutachtern darf man die Kompetenz zutrauen, die Übereinstimmung einer orthographischen Darstellung mit dem allgemein Üblichen zu beurteilen. Dadurch ist die Mitwirkung und Oberaufsicht der Schulbehörden gewährleistet, ohne daß sich der Staat selbst gestaltend in den Sprachgebrauch einmischen muß.
Viertens. Die Schreibweisen gemäß der Rechtschreibreform in ihren verschiedenen Auslegungen werden für einen Übergangszeitraum von zehn Jahren nicht als fehlerhaft gewertet, auch wenn sie grammatisch fehlerhaft sind (so Leid es mir tut, sehr Aufsehen erregend). Die orthographischen und grammatischen Tatsachen werden jedoch, soweit erforderlich, im Deutschunterricht thematisiert. So könnte aus dem Schaden letzten Endes sogar noch ein pädagogischer Nutzen erwachsen.
– geändert durch Theodor Ickler am 04.08.2003, 06.24 –
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Th. Ickler
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