Denkschablonen
1. Ich möchte ins Gedächtnis rufen, daß die Schrift nicht zum Schreiben da ist, sondern daß Wortbilder (die „Schriftbilder“ von Worten) Signale aussenden.
Meine Behauptung: Typische (d.h. stets wiederkehrende und normierte Wortbilder) führen zu einem weniger zeitaufwendigen Wort- und Textverständnis.
2. Wortbilderfassung ist in starkem Maße abhängig von der Buchstabenkomposition:
Wörter, in denen lediglich „normallängige“ Buchstaben (a, c, e, m, n, o, r, s, u, v, w, x, z) vorkommen, sind weniger auffällig und signifikant als solche, in denen eine Mischung
mit „unterlängigen“ Buchstaben (g, j, p, qu, y),
oberlängigen Buchstaben (b, h, k, l, t, und i)
oder überlängigen Buchstaben (f und ß)
erfolgt.
Auch Umlaute (ä, ö, ü) und Majuskeln (sämtliche Großbuchstaben) erhöhen die Signifikanz sowie
die sprachgemeinschaftliche Besonderheit und letztlich die leichtere Erfaßbarkeit von Wörtern.
Besonders signifikant sind Wörter, mit überlängigen Buchstaben.
Sowohl im Schreiblernprozeß als auch im Leselernprozeß wurden – was sich im Laufe meiner Lehrtätigkeit hinreichend bestätigte – Wörter mit Überlängen (ß und f) zunehmend besser beherrscht als „unauffällige“ Wortbilder.
3. Im Laufe der Sprachentwicklung übernahm das „ß“ ähnlich dem „H“ (Gewichtungs-h, Dehnungs-h, Lautierungs-h) eine Mehrfachfunktion.
Es ist eine Frage, ob es sinnvoll und erstrebenswert ist, den Gewichtungsbuchstaben „ß“ aus der deutschen Sprache komplett zu streichen. Formal gesehen ist das „ß“ noch bedeutungsvoller und signifikanter als das „H“. Es übernimmt unter anderem die Funktion der Silbengelenkdarstellung (z.B. „Schlußspurt“) und der Differenzierungsschreibung (z.B. „weiße“ contra „weise“).
4. Hochsprache hat die Aufgabe der Vereinheitlichung. Wer immer sich mit Dialektschreibung beschäftigt, erfährt die Begrenztheit des Buchstaben- und Lautkodierungssystems.
Umgedreht erkennt jeder Dialektschreiber das unermeßliche Korrelat der Hochsprache. Er muß es anerkennen! Die Hochsprache ist ein Wunder an Kompromißfähig- und Einheitlichkeit inmitten von regionalen Eigenarten!!
Der Gedanke, den Prozeß umzukehren, das Optimale zu deoptimieren, disqualifiziert sich selbst.
Nachwort: Ich weiß, daß es auf dieser Welt genügend nützliche Idioten gibt, und ich weiß, daß die Idioten auf dieser Welt niemals aussterben.
Gedanken werde ich mir machen über meinen Nutzen und über das Ausmaß meiner Idiotie. Gegen die kombinierte Etikettierung nützlicher Idiot werde ich zeitlebens ankämpfen.
Schönen 1. Mai.
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nos
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