Immer noch viel Unsinn: der neue Wahrig
Frankfurter Allgemeine Zeitung 20.07.2006
Rechtschreibreform
Die Vernunft kehrt nur in Trippelschritten zurück
Von Theodor Ickler
Bild: Wahrig-Wörterbuch
Endlich Sicherheit? Immer noch viel Unsinn: der neue Wahrig
20. Juli 2006
Am 1. August 2006 soll die zum zweitenmal revidierte Rechtschreibreform für die Schulen verbindlich werden. Die amtlichen Texte (dreihundert Seiten Regeln und Wörterverzeichnis) liegen auch weiterhin nicht gedruckt vor, sondern können nur aus dem Internet heruntergeladen werden für die tägliche Schreib- und Korrekturpraxis ein unhaltbarer Zustand. Auch sind die Regeln viel zu kompliziert und auslegungsbedürftig, als daß sie von Lehrern oder gar Schülern unmittelbar angewandt werden könnten.
In Gestalt des Wahrig liegt das erste Wörterbuch vor, das die Revision auf den deutschen Wortschatz anwendet (Wahrig: „Die deutsche Rechtschreibung“. Herausgegeben von der Wahrig-Redaktion. Wissen Media Verlag, Gütersloh/München 2006. 1216 S., geb., 14,95[Euro]). Die Wahrig-Redaktion ist im Rat für deutsche Rechtschreibung vertreten, hat die amtlichen Regeln mitverfaßt und wurde bei ihrer Arbeit durch die Geschäftsführerin des Rates unterstützt.
Man nimmt daher von vornherein an, daß die neuesten Regeln zuverlässig umgesetzt sind. Das amtliche Wörterverzeichnis wurde von einer selbsternannten Redaktionsgruppe aus Ratsmitgliedern angefertigt, der Rat als ganzer hat es nicht mehr gesehen, bevor die Kultusminister es ohne weitere Diskussion billigten. Die Wörterbuchverfasser lassen sich außerdem von einer inoffiziellen „Handreichung“ leiten, die von derselben Gruppe am Rechtschreibrat vorbei angefertigt wurde und äußerst folgenreiche Ausführungsbestimmungen enthält. Auch für die meisten Ratsmitglieder dürfte teilweise neu sein, was aus jenen Vorlagen folgt, die sie seinerzeit pauschal beschlossen hatten.
Aktuell statt endgültig
Im Gegensatz zum Dudenverlag, der die „Endgültigkeit“ der jetzigen Regelung betont, will der Wahrig nur den „aktuellen“ Stand festhalten. Zwar wirbt er auf dem Umschlag: „Neu Neu Neu Neu Endlich Sicherheit!“ Aber die Redaktion ist sich des Übergangscharakters der jetzigen Regelung bewußt. Auch die Wahrig-Sprachberatung spricht stets von der „derzeit verbindlichen Fassung des amtlichen Regelwerks“ und von den „derzeit gültigen Regeln“. Tatsächlich sind weitere Änderungen unausweichlich und vom Rat auch bereits in Aussicht gestellt. Notenrelevant ist die jetzige Regelung ohnehin noch nicht und wird es vielleicht nie werden.
Es ist dem Verlag gelungen, den Vorsitzenden des Rechtschreibrates und einstigen Hauptverantwortlichen für die ganze Reform, Kultusminister a. D. Hans Zehetmair, als Vorwortschreiber zu gewinnen. Allerdings scheint ihn die gewohnte Formulierungsgabe verlassen zu haben, sein Text wirkt unkonzentriert: „Sprache ist ein hohes Gut. Sie ist die wichtigste Kommunikation des Menschen, um Kultur zu schaffen und zu leben.“ Die Revision der mißlungenen Reform Zehetmair spricht beschönigend vom „Glätten evidenter Unebenheiten“ bezeichnet er als „behutsame Aufgabe“.
Für die Schule nicht geeignet
Im ersten Teil sind neben den üblichen Benutzungshinweisen die amtlichen Regeln abgedruckt, ferner eine allgemeinverständliche Übersicht über diese Regeln und dankenswerterweise auch eine Synopse der Neuerungen gegenüber der Revision von 2004. Die offenen Beispiellisten geben eine Ahnung von der explosionsartigen Zunahme der Varianten und vom Umfang der Änderungen, die der Rat für deutsche Rechtschreibung trotz seiner (Selbst-)Fesselung durch eine unsachgemäß begrenzte Agenda vorgenommen hat.
Im Wörterverzeichnis selbst ist nicht zu erkennen, was sich gegenüber 1996 und 2004 geändert hat. Durch Blaudruck gekennzeichnet sind nämlich nur die Neuerungen gegenüber dem Duden von 1991. Folglich stehen „zu eigen machen“, „guttun“ und viele andere Wörter wieder so da wie vor der Reform, als hätte man ihnen seither kein Haar gekrümmt, und doch mußte das eine zehn Jahre lang groß, das andere getrennt geschrieben werden. Daß seit 1996 in Hunderten von Fällen ganz andere Schreibungen „gültig“ waren und seither in Millionen von Wörterbüchern, Schulbüchern und Kinderbüchern stehen, wird kaschiert, die peinlichste Episode der deutschen Sprachgeschichte damit stillschweigend entsorgt. Im Sinne der Reformdurchsetzung ist das ein schlauer Schachzug, mit dem sich der Verlag allerdings selbst ein Bein stellt. Lehrer müssen ja wissen, welche Schreibweisen in der Übergangszeit bis August 2007 (in der Schweiz bis 2009) noch toleriert werden, also etwa „zu Eigen“, „Pleite gehen“ und „Leid tun“. Für die Schule ist der Wahrig damit von vornherein nicht geeignet.
Schlichte Vergangenheitsbewältigung
„Der neue Wahrig gibt Empfehlungen in Fällen, in denen zwei Schreibweisen parallel zulässig sind.“ So hatte es in der Werbung geheißen, als Antwort auf die Ankündigung des Duden, durch nicht weniger als dreitausend gelb unterlegte Empfehlungen Einheitlichkeit schaffen zu wollen was übrigens ein Licht auf Zehetmairs Lobpreis der angeblich erreichten Vereinheitlichung wirft. Mit den Empfehlungen der Wahrig-Redaktion ist es nicht weit her. Es sind nur ein paar Dutzend, sie wirken zufällig eingestreut und haben gewöhnlich diese bescheidene Form: „! In der Fügung der Runde Tisch (= der Verhandlungstisch) empfiehlt es sich, das Adjektiv rund großzuschreiben, um die idiomatisierte Bedeutung der Verbindung hervorzuheben.“ Oft verweisen sie auf den Schreibgebrauch. Bei konsequenter Befolgung dieses Maßstabes wäre allerdings die ganze Reform überflüssig gewesen.
Die Auswahl der Stichwörter ist annehmbar. Man wird immer einiges vermissen. Sollten im Belegkorpus der häufig falsch geschriebene „Cinchstecker“ oder die im Fußballjournalismus beliebte „Blutgrätsche“ nicht vorkommen? Auch „ewiggestrig“ und die im amtlichen Wörterverzeichnis ausdrücklich erwähnte „Fritfliege“ fehlen genau wie in früheren Auflagen. Bei der Auswahl der Eigennamen bleibt das Wörterbuch einer alten Bertelsmann-Tradition treu: Die Namen sozialistischer Größen wie Stalin, Lenin, Trotzki, Liebknecht, Luxemburg und sogar Zetkin sind aufgeführt, nicht aber die rechtschreiblich durchaus schwierigen Hitler, Goebbels oder Göring eine recht schlichte Art der Vergangenheitsbewältigung.
Dabei gibt es noch Anal-phabeten
Obwohl der Rechtschreibrat bisher nur einen Teil der amtlichen Regeln bearbeiten durfte, gehen die Änderungen in die Tausende, schon wegen der Silbentrennung. Hier ist bekanntlich die Abtrennbarkeit einzelner Buchstaben (a-brupt, Musse-he, Bi-omüll) wieder beseitigt. Dagegen hat sich der Rat noch nicht zur herkömmlichen Trennung von ck durchringen können, es bleibt bei Zu-cker, in klarem Widerspruch zu §3 des Regelwerks (“Statt kk schreibt man ck“). Einige Trennungen wie transk-ribieren sind in der Neubearbeitung gestrichen. Diag-nose, Subs-tanz, Pithe-kanthropus, Thermos-tat, Rest-riktion, Katas-trophe und Katast-rophe und viele andere bleiben aber zulässig und sind auch weiterhin verzeichnet. Sie ruinieren jeden anspruchsvolleren Text.
Es war dem Ratsvorsitzenden ein ernsthaftes, auf Pressekonferenzen vorgetragenes Anliegen, vor Anal-phabet und Urin-stinkt zu warnen. Tatsächlich ist für diese Beispielwörter die angeblich irreführende Trennung im Wörterverzeichnis gar nicht angegeben, als handele es sich um ein Verbot. Der Rat hatte im November 2005 ausdrücklich das Gegenteil beschlossen. Auch Frust-ration und Lust-ration sind, obwohl regelkonfom, nicht mehr angeführt, wohl aber der Kast-rat.
Man darf wieder großschreiben
Die Kommasetzung hat noch einmal einen Komplizierungsschub erfahren. Der erweiterte Infinitiv soll wieder durch Komma abgetrennt werden, aber nur nach bestimmten Bezugselementen wie Substantiven und Pronomina, nicht nach Verben. So stehen nebeneinander: „Er hat die Absicht, morgen abzureisen“ und „Er beabsichtigt morgen abzureisen“. Das ist weder für Schüler einfach noch dem Leser dienlich.
Die Höflichkeitsgroßschreibung der Briefanrede (Du, Ihr, Dein) ist zumindest wieder zugelassen. Wie am „Runden Tisch“ bereits zu erkennen, werden auch feste Begriffe grundsätzlich wieder groß geschrieben. Hinter der wiederaufgestoßenen Tür der „Fachsprachlichkeit“ trifft man nicht nur alte Bekannte, sondern auch viele neue Gesichter: den „Schwarzen Peter“ und die „Erste Hilfe“, aber auch die „Aktuelle Stunde“, den „Grünen Tisch“, die „Graue Eminenz“ und manches andere.
Was ist von einer Reform mit derartigen Mißgriffen zu halten?
Die absurde Großschreibung „Bankrott gehen/Pleite gehen“ wird zurückgenommen, die bisher übliche Kleinschreibung aber nicht wiederhergestellt, sondern statt dessen Zusammenschreibung angeordnet mit der Begründung, die Gesamtbedeutung lasse sich nicht aus den Bestandteilen erschließen. Aber nichts könnte einfacher sein: manches geht kaputt, entzwei, verloren, verschütt und eben auch bankrott oder pleite. Interessant ist immerhin das Eingeständnis, daß es sich bei pleite und bankrott um Adjektive handelt warum mußten sie dann seit 1996 groß geschrieben werden?
Den Ratsmitgliedern ist aber noch immer nicht klarzumachen, daß in leid tun (1996: Leid tun, 2006 leidtun) keineswegs ein „verblasstes Substantiv“ steckt. Wahrig gibt folglich den falschen Kommentar, leid habe hier „die Eigenschaften eines selbstständigen Substantivs verloren“. Statt „erste Hilfe ist Not“ heißt es wieder „Erste Hilfe ist not“. Groß geschriebenes „Diät leben“ bleibt erhalten, ebenso „Vabanque spielen“, als handele es sich um ein Spiel wie Roulette. Bei „recht haben“ ist zwar die grammatisch richtige Kleinschreibung wieder zugelassen, aber von der Großschreibung wollten die Reformer dennoch nicht lassen: „wie Recht du hast“ und „wie Unrecht tut ihr mir“ soll weiterhin korrektes Deutsch sein.
Was ist von einer Reform zu halten, die sich derartige Mißgriffe erlaubt? Das fragt man sich nachträglich auch noch, wenn man sieht, daß die abwegige Großschreibung jemandem Feind sein/Freund sein endlich zurückgenommen ist, nachdem sich die Reformer zehn Jahre lang geweigert haben, diese grobe Verkennung einer Wortart zuzugeben. Die unsinnige Großschreibung „morgen Früh“, eine Erfindung der dahingeschiedenen Zwischenstaatlichen Kommission, ist immer noch nicht beseitigt.
Eine alte Dudenmarotte, weitergedreht
Die Redaktion empfiehlt, Drähte „bloß zu legen“, sein Innerstes hingegen „bloßzulegen“. In solchen Fällen greift das Wörterbuch eine alte Dudenmarotte wieder auf und treibt sie noch ein Stück weiter. Der Grundsatz, metaphorischen Gebrauch auch orthographisch zu kennzeichnen, läßt sich nicht konsequent durchführen und ist außerdem widersinnig, weil er die Metapher zerstört; er bringt sie gewissermaßen um ihre Pointe.
Überraschenderweise werden auch ganz neue Zusammenschreibungen mit Verben eingeführt. Das Wörterbuch führt exemplarisch über zweihundert Fälle an, die vor der Reform gar nicht zulässig waren: spielenlassen (die Muskeln, nicht die Kinder), kommenlassen (die Kupplung, nicht die Feuerwehr), platzenlassen (eine Veranstaltung, aber nicht einen Luftballon), setzenlassen (ohne Erläuterung), sprechenlassen (Blumen), steigenlassen (Partys, aber nicht Drachen), sterbenlassen (Projekte, nicht Patienten), vermissenlassen (Feingefühl). Das sind Extrapolationen, an die gewiß kein Mitglied gedacht hat, als der Rat die traditionelle Zusammenschreibung von „bleiben“ und „lassen“ mit Positions- und Fortbewegungsverben wiederherstellte. Daß jemand Feingefühl „vermissenlässt“ und daher die Muskeln „spielenlässt“; daß „du es mich wissenließest, indem du Blumen sprechenließest“ das ist zweifellos gewöhnungsbedürftig, denn es finden sich dafür auch in sehr großen Textcorpora keine Belege.
Eine Frage soll offenbleiben, eine Tür offen bleiben. Für hängenlassen wird Getrenntschreibung bei konkreter Bedeutung empfohlen; als Beispiel wird angeführt die Ohren hängen lassen (,den Mut verlieren'), aber gerade das ist übertragener Gebrauch. Gäbe es nicht eine Beliebigkeitsklausel, die letzten Endes alles offenläßt oder offen läßt, könnte der ratsuchende oder Rat suchende Benutzer schier verzweifeln. Der exzessiven Zusammenschreibung steht übrigens entgegen, daß der Rechtschreibrat sich erfolgreich dagegen wehrte, spazierengehen, -fahren oder -reiten wieder zuzulassen; nur kennenlernen ließ er sich abringen, aber schon nicht mehr liebenlernen und schätzenlernen.
Da bleibt kein Stein auf dem anderen
Die mit wieder zusammengesetzten Verben waren von Anfang an so undurchsichtig geregelt, daß die Wörterbuchredaktionen seit zehn Jahren mit den unterschiedlichsten Auslegungen aufwarten. Im neuen Wahrig versucht ein großer Informationskasten Klarheit zu schaffen, treibt aber die Willkür auf die Spitze. Die einzelnen Einträge sind schlechterdings nicht nachvollziehbar: Warum darf „wieder aufarbeiten“ nur getrennt, „wiederaufbereiten“ aber nur zusammengeschrieben werden, während bei „wiedereingliedern“ beides möglich ist? Die Liste willkürlicher Festlegungen wäre noch länger, wenn nicht geläufige Verben wie wiederbesetzen und wiedererwerben einfach weggelassen wären; ihre aktuelle Schreibweise ist aus den Regeln nicht herleitbar. In der vorigen Auflage gab es die unsinnige Vorschrift, „wiedertun“ (mit einem Akzent) durch „wieder tun“ (mit zwei Akzenten) zu ersetzen; in der Neufassung bleibt es bei einem Akzent auf wieder und dennoch bei Getrenntschreibung, obwohl der Kasten genau das Gegenteil erwarten läßt.
Auch ist der Unterschied zwischen Adverb und Verbzusatz keineswegs immer an der Betonung zu erkennen: Man will das Denkmal wiederherstellen kann durchaus gleich betont werden wie „Die Fabrik will dieses Produkt wieder (aufs neue) herstellen“. Gerade bei den Verben mit wieder- bleibt kein Stein auf dem anderen, aber dies kann der arglose Benutzer wegen der eigentümlichen Markierungspraxis nicht erkennen. Die Fälle brustschwimmen, delphinschwimmen und marathonlaufen (dies ist neu und hätte blau gedruckt werden müssen) werden in Anlehnung an den alten Duden interpretiert, die amtliche Regelung ist an dieser Stelle unverständlich.
Die deutsche Rechtschreibung: endgültig unbeherrschbar
Zusammensetzungen mit sein (beisammensein) bleiben kategorisch ausgeschlossen, die im Jahre 2004 wiederzugelassenen „beisammengewesen“ und „zurückgewesen“ sind auch im amtlichen Verzeichnis wieder getilgt, aber der Eintrag „dagewesen“ ist neu hinzugekommen, als einzige, nirgendwo begründete Ausnahme. Der Rechtschreibrat hat darüber nicht gesprochen, es muß sich also um eine Eigenmächtigkeit der Wörterbuchgruppe handeln.
Bei Verbindungen mit wohl sind rund dreißig neue Getrenntschreibungen durch Blaudruck hervorgehoben, da sie aber allesamt fakultativ und die früheren Zusammenschreibungen wieder zugelassen sind, könnte man sie einfach weglassen und wäre dann wieder genau bei der Regelung von 1991. Das Wörterbuch benötigt mehrere Spalten, um darzustellen, wie man Verbindungen mit schwarz schreibt. Die obligatorische Zusammenschreibung „bis du schwarzwirst“ kommt dennoch überraschend. Für fest-, voll- und tot- wird eine Sonderregel aufgestellt: Unter den Einzeleinträgen sind sie allesamt mit Verben zusammengeschrieben, weil sie, wie der Infokasten behauptet, reihenbildend und fast ausschließlich in Zusammenschreibung belegt seien.
Allerdings ist die Regel so formuliert, daß auch Getrenntschreibung erlaubt zu sein scheint, und eine einsame Ausnahme gibt es ohnehin auch hier wieder: „tot stellen“ darf nur getrennt geschrieben werden, Blaudruck weist nachdrücklich auf diese ausgeklügelte Neuerung hin. Auch „verrückt stellen“ soll wie bisher getrennt geschrieben werden, „verrücktspielen“ aber nur zusammen. Da es viele hundert Verfeinerungen dieser Art gibt, wird die deutsche Rechtschreibung nun endgültig unbeherrschbar.
Als könnte eine Hand breit Stoff sein
Das reformierte „Leid tragend“ ist getilgt, es gibt nur noch „leidtragend“, aber mit der sonderbaren Begründung: „In der Zusammensetzung leidtragend ist der Erstbestandteil durch eine Wortgruppe (viel Leid, großes Leid) ersetzbar. Daher gilt Zusammenschreibung.“ Dann müßten allerdings auch Besorgnis erregend, Ehrfurcht gebietend und viele weitere Verbindungen wieder zusammengeschrieben werden, und zwar immer. Das geschieht aber keineswegs, vielmehr sollen sogar Sätze wie „die Entwicklung ist Besorgnis erregend“, „diese Pflanzen sind Sporen tragend“ weiterhin korrekt sein; nicht einmal ein Warnschild wird vor solchen grammatischen Schnitzern aufgestellt.
Die „Handvoll“ ist wiederhergestellt, die „Hand voll“ aber noch nicht aufgegeben: zwei Hand voll Körner. Überraschenderweise werden durch die Revision sogar die „Hand breit“ (eine Hand breit Stoff) und der „Fuß breit“ (ein Fuß breit Boden) als neue Varianten eingeführt, ohne daß der Rechtschreibrat je darüber gesprochen hätte. Vielleicht wäre er darauf gestoßen, daß eine Hand zwar voll Körner sein kann, aber nicht breit Stoff.
Nach und nach wird ein Englischwörterbuch eingearbeitet
Das Wörterbuch schreibt anders als das amtliche Regelwerk durchweg selbstständig und erklärt, wie die meisten Reformer, die ältere Form selbständig für eine Verkürzung der jüngeren! Erfreulicherweise wird die herkömmliche Zusammenschreibung von „sogenannt“ ausdrücklich empfohlen, die Getrenntschreibung aber nicht wieder abgeschafft. Unter „Schlusssatz“ und „Schussstärke“ wird „der besseren Lesbarkeit wegen“ ein Bindestrich vorgeschlagen: Schluss-Satz, Schuss-Stärke. Darf man daran erinnern, daß „Schlußsatz“ ohne Probleme lesbar war und erst die Reform den Schaden angerichtet hat, der nun auf so unbeholfene Weise repariert werden muß? Daß nur „Eis-Schnelllauf“ und nicht „Eisschnell-Lauf“ (wie noch im Duden von 2004) „zulässig“ sei, trifft übrigens nicht zu; das neue Regelwerk enthält keine solche Vorschrift, schon weil der Bindestrich vom Rat gar nicht behandelt wurde.
Bei den Fremdwörtern ergeben sich sehr viele Änderungen durch die neue Regel, daß der Hauptakzent über die Zusammenschreibung entscheidet: Freestyle, Hightech, Shootingstar; Golden Goal, Private Banking, Round Table. Die neue Hauptregel lautet: „Aus dem Englischen stammende Bildungen aus Adjektiv + Substantiv können (!) zusammengeschrieben werden, wenn der Hauptakzent auf dem ersten Bestandteil liegt, also Hotdog oder Hot Dog, Softdrink oder Soft Drink, aber nur High Society, Electronic Banking oder New Economy.“ Durch die unterschiedlich akzentuierten Beispiele wird die Regel gleich wieder verdunkelt.
Auch bei Anfangsbetonung ist die Zusammenschreibung lediglich erlaubt, aber nicht zwingend. Das irreführende Verfahren zieht sich durch das ganze Wörterbuch. Neben Hotdog, Harddisk usw. ist also entgegen dem Augenschein auch bei Anfangsbetonung Hot Dog, Hard Disk möglich. Die Ergänzung lautet: „Sind beide Akzentmuster möglich, dann kann getrennt- wie zusammengeschrieben werden, zum Beispiel: Big Band/Bigband, Hot Pants/Hotpants, Small Talk/Smalltalk.“ Für „Charming Boy“ soll trotz Anfangsbetonung nur Getrenntschreibung gelten. (Der Eintrag ist zugleich ein Beispiel für die Tendenz, nach und nach ein englisches Wörterbuch in das deutsche einzuarbeiten.)
Frühere Auflagen wußten es noch besser
Die neue Regel ist nur für englische Entlehnungen formuliert, aber die Redaktion überträgt sie auf Wörter anderer Herkunft. So wird zur Unterscheidung von der neueingeführten Schreibweise „Haute Finance“ (mit gleichmäßiger Betonung) für das herkömmliche Hautefinance ein ganz unrealistischer Anfangsakzent postuliert; frühere Auflagen wußten es noch besser. Es rächt sich jetzt, daß die „Laut-Buchstaben-Beziehung“ und damit die Fremdwortschreibung vom Rechtschreibrat nicht behandelt werden durfte.
Wie schon 2005 wird im Wörterverzeichnis nur noch die Hybridschreibung Orthografie, orthografisch benutzt, im gesamten ersten Teil des Werkes aber weiterhin Orthographie und orthographisch. Bei Photosynthese wird die traditionelle fachsprachliche Schreibung empfohlen, bei Phonetik (neu Fonetik) nicht.
Neue Skurrilitäten trüben das Bild gleich wieder ein
Die Kennzeichnung reformierter und nichtreformierter Schreibweisen ist nicht immer gelungen. Die Wendung „um ein Vielfaches“ müßte blau gedruckt sein, denn der alte Duden wollte kurioserweise nur Kleinschreibung zulassen. Auch „Aupair“ ist neu und „zurzeit“ wenigstens für Deutschland. Dagegen ist der Blaudruck bei einigen Wörtern wie ernst nehmen oder der Drittletzte (,der Leistung nach') unbegründet, die Schreibweisen sind die alten. Die „spät Gebährende“ ist leider kein Druckfehler, denn es folgt sogleich die alternative Schreibweise „Spätgebährende“.
Insgesamt dokumentiert der Wahrig trotz mancher Versehen recht zuverlässig die von den Kultusministern jüngst verordnete Schulorthographie. Sie stellt der deutschen Sprachwissenschaft kein gutes Zeugnis aus. Die weiteren Verhandlungen des Rechtschreibrates müssen zeigen, ob die Reparaturarbeiten zu einem erträglichen Abschluß gebracht werden können. Man sieht zwar, daß die Richtung einigermaßen stimmt, aber Sinn und Verstand kehren nur in Trippelschritten zurück, und neue Skurrilitäten trüben das Bild gleich wieder ein. Eine durchgreifende Verabschiedung von den Fehlern der Reform wird dadurch erschwert, daß noch zu viele Altreformer mitzuentscheiden haben, darunter der Ratsvorsitzende selbst, der bei jeder Gelegenheit verkündet, eine Rücknahme der Reform komme nicht in Frage. Er will, wie er auch hier wieder verkündet, die Gesellschaft mit der Rechtschreibreform „versöhnen“. Daraus kann unter den gegebenen Umständen nichts werden.
Text: F.A.Z., 20.07.2006, Nr. 166 / Seite 33
Bildmaterial: Bertelsmann Lexikon Verlag
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