Ein psychiatrischer Zugang
margel schrieb:
... Inzwischen halten die Kultusminister an der Reform fest, nicht obwohl, sondern weil sie Mist ist.
Ein Kapitel aus
Walter Züblin, Das schwierige Kind, Einführung in die Kinderpsychiatrie, Stuttgart 1967, bei Thieme und dtv.
(Priv.-Dozent Dr. med. Züblin war Chefarzt des Kinderpsychiatrischen Dienstes in Bern.)
„Lügen, Pseudologia phantastica
Das Kleinkind macht noch keinen scharfen Unterschied zwischen Vorstellung und Realität. Es kann daher auch nicht lügen, wenn man darunter ein Aussagen versteht, das bewußt etwas sagt, was der Realität nicht entspricht. Dies ist nicht allgemein bekannt und führt nicht selten dazu, daß Kleinkinder zu Unrecht wegen Lügens bestraft werden.
Lügen aus Notwehr ist an sich nicht krankhaft und die normale Waffe des Schwachen. Es kommt vor allem bei Verwahrlosten vor und hat zum Ziel, sich bequem Erwünschtes zu verschaffen und Unangenehmes zu vermeiden. Krankhaft aber ist das Lügen aus Geltungssucht, bei dem je nachdem bewußt falsche Aussagen gemacht werden, dann aber wieder Kombinationen von Vermutungen, bloßen Vorstellungen und bewußt entstellter Wahrheit gegeben werden. Je mehr die Geltungssucht im Vordergrund steht und je mehr konfabuliert wird, desto krankhafter wird das Lügen, das dann als Pseudologie bezeichnet wird. Es handelt sich um einen Versuch, sich in unangepaßter Weise Geltung zu verschaffen, weil man von den übrigen Menschen isoliert ist und sich nicht so geschätzt sieht, wie man es sein möchte. Je nachdem steht das Symptom einmal einer Trotzeinstellung, ein andernmal den Zwangssymptomen nahe. Es ist am häufigsten bei Kindern, besonders älteren Mädchen zu finden, die in die Gemeinschaft nicht aufgenommen sind und denen das Theatralisch-Demonstrative naheliegt. Selbstverständlich führt das pseudologische Verhalten nur zur weiteren Isolation. Gelegentlich bringt es aber nicht nur den Patienten selbst, sondern auch die Mitmenschen in Gefahr, z.B. wenn eine Pseudologin angibt, sexuell mißbraucht worden zu sein. Die Zuhörer glauben derartige Angaben umso eher, als sie sowieso geneigt sind, das vermeintlich bemitleidenswerte Opfer zu schützen. Pseudologien betreffen besonders bei jugendlichen Mädchen sehr oft, aber keineswegs immer, das sexuelle Gebiet. Sie können ebenso sehr finanzielle Verhältnisse, vornehme und geheimnisvolle Abstammung, kriminelle Erlebnisse und vieles andere zum Thema habe. Gelegentlich entstehen pseudologische Phantasiegespinste aus einer noch nicht pathologischen Lüge, die dann aus Angst vor Entdeckung weitergesponnen wird, bis das Kind zwischen Wahrheit und Lüge selbst nicht mehr sicher unterscheiden kann. Wie bei allen anderen Symptomen sind auch hier die Grenzen zwischen normal und krankhaft unscharf. Auch normale Menschen können pseudologische Aussagen machen, besonders wenn sie unter einem starken Affekt stehen, wobei Phänomene der Massenpsychologie oft eine große Rolle spielen. Kinder sind derartigen Erlebnissen entsprechend ihrer verhältnismäßig schwachen Eigenständigkeit stärker ausgeliefert als Erwachsene.
Wenn auch der Inhalt einer Pseudologie oft von seinem Schöpfer selbst wenigstens teilweise geglaubt wird, so wird er doch nach einiger Zeit in der Regel korrigiert. Das Phantasiegebäude des Pseudologen ist meistens nicht fest, sondern wechselt immer wieder.
Die Behandlung des Lügens ist eine erzieherische und hat vor allem darin zu bestehen, dem Kind soviel Sicherheit, Mut und Ehrgefühl zu geben, daß es auf das Lügen verzichten kann. Dazu braucht es einerseits Liebe in einer Form, in der sie vom Kind erfahren werden kann, und andererseits das Vorbild. Mit Strafen allein bringt man das Kind im besten Falle dazu, das Lügen zu vermeiden, wenn es wahrscheinlich ist, daß die Lüge entdeckt wird – ein Verhalten, das man gewöhnlicherweise nicht bloß bei Kindern, sondern auch bei Erwachsenen findet.
Die Behandlung der Pseudologie ist weit schwieriger. Es geht auch hier darum, der pseudoligisierenden Person den Weg zu zeigen, sich in der Gesellschaft durch echte Leistungen eine ihr zustehende Stellung zu verschaffen, sie zur Einsicht zu bringen, daß man, wenn man Liebe will, auch Liebe geben muß. Je nachdem ist diese Aufgabe heilpädagogisch zu lösen oder aber psychiatrisch. Die Hauptschwierigkeit der Behandlung liegt auf jeden Fall in der Neigung des Therapeuten bzw. des Erziehers, dem Patienten seine Pseudologien übelzunehmen, sie ihm moralisierend vorzuwerfen und so den Zugang zum Patienten zu verpassen. In der Behandlung sind erläuternde Kommentare über den Inhalt der Pseudologie (die aber nicht im fragenden, sondern wirklich im kommentieren Sinn gestellt werden müssen) oft von großer Wirksamkeit.“
__________________
Detlef Lindenthal
|