Herr Wagner spricht ein wesentliches Problem an. Die meisten Menschen kennen die echte Rechtschreibreform gar nicht, sondern sie haben sich nur aufgrund des Geredes mit Bekannten oder in den Medien ein gewisses, aber recht oberflächliches Bild davon gemacht. Sie diskutieren nicht über die wirkliche Sachlage, sondern über das, wofür sie die Reform halten. Sehr viele lehnen die Reform ab, weil sie den grundlegenden Haken erkennen, daß eine neue Rechtschreibung (gerade wenn sie so behutsame Änderungen an subtilen, schwer markant einprägbaren Stellen vornimmt) die Anwender zunächst einmal verwirren muß. Für andere endet der Blick schon an dem Ausdruck Reform, der geradezu reflexartig ihre Sympathie weckt. Zukunft und Fortschritt, eventuell auch spritziges, lebhaftes Durcheinander, das wird gerade von den glühenden Fürstreitern der Erleichterungspädagogik (wie Josef Kraus es nennt) als tolle, spannende Sache betrachtet. Daß Kinder in die Lage versetzt werden, Erwachsene zu korrigieren, ist da allein schon Grund zum Feiern. Und wieder andere meinen, erkannt zu haben, alle möglichen Probleme der Gegenwart bestünden nur wegen eines sozusagen interdisziplinären Reformstaus; wenn man also nur einfach blindwütig Verkrustungen aufbrechen würde, dann müßte sich wohl zwangsläufig alles zum Besten fügen: eine erste Übergeneralisierung. Die Erfahrung, daß Rechtschreibung nicht mal so von heute auf morgen zu lernen ist, kennt jeder. In die Beherrschung muß man investieren. Manchem bereitet das mehr, manchem weniger Mühe, aber daß es ein weites Feld ist, das hat jeder festgestellt, der damit in Berührung gekommen ist. Wenn da ein paar Wunderdoktoren aufkreuzen und versprechen, diese Mühsal stark zu verringern, dann ist es auch nicht weiter verwunderlich, daß ein paar Leute der verlockenden Vorstellung erliegen, das sei wirklich möglich und habe stattgefunden.
Daß all diese positiven Bewertungen der Reform aber durch nichts als Desinformation und Verklärung zustandegekommen sein können, wird offenbar, wenn man sich einmal das nüchterne Ergebnis der Veranstaltung anschaut. Der Normalbürger eigentlich nicht nur der, sondern jeder muß in irgendeinem aktuellen Wörterbuch nachschlagen, wenn Schreibungen nicht aus dem Gebrauch bekannt sein können. Die Neuigkeiten im Rechtschreibregelwerk sind in den meisten Fällen nicht eindeutig auslegbar. Hinzu kommen dann noch die Infokästen. Mit Untersuchungen, wie Herr Ickler und ich sie mit den aktuellen Wörterbüchern durchgeführt haben, wird deutlich, daß die Wörterbücher bei den einzelnen Stichworteinträgen aber weder die originale amtliche Neuregelung, noch die alte Regelung, noch die Regeln in den Infokästen durchgängig befolgen. Manchmal läßt sich eine Schreibung nicht mal wenigstens einem einzigen dieser Regelwerke zuordnen. Der Befund ist, daß alle dieser bekannten und verhüllten Regelwerke mal zur Anwendung kommen, man kann nur nicht ahnen, welches wann und wieso. Das heißt, kein Regelwerk ist allgemeingültig, dafür kommt jedes aber mal dran, und um durchzusteigen, muß man alle beherrschen ohne daß einem das aber viel nützen würde, da ja nicht klar ist, wann welches der konkurrierenden Kriterien jeweils Vorrang haben soll. Systematisch gesehen könnte man statt eines Wörterbuchs auch einen Würfel benutzen.
Die meisten Wörterbuchnutzer werden aber wahrscheinlich gar nicht versuchen, die Rätsel zu ergründen, die sich ihnen darbieten, sondern nach einer Weile einfach achselzuckend die Schreibweise übernehmen, die sie beim entsprechenden Stichworteintrag finden. So konnte man vor der Reform natürlich auch schon verfahren, allerdings war es nicht so oft nötig, bekommt man aus vielen Erfahrungsberichten zu hören.
Wenn man nur jemanden dazu bringen kann, zu versuchen, das angeblich doch so wunderbar vereinfachte Regelwerk wirklich einmal anzuwenden, ohne Unterstützung einer Wörterliste, dann wird er wohl nicht anders können, als nach einer Weile zuzugeben, daß da ein gewaltiger Wurm drin ist. Das Problem ist nur: Die wenigsten Leute gehen den Dingen so genau auf den Grund. Hat man mit hartnäckigen Befürwortern zu tun, könnte es aber hilfreich sein, sie einmal zu einem Selbstversuch zu ermuntern. Sie sollen sich einmal ein aktuelles Wörterbuch schnappen und bei jedem farblich hervorgehobenen Stichwort erklären, warum das jetzt anders geschrieben werden soll als bisher. Natürlich müssen sie auch eine Erklärung liefern können dafür, daß ein ganz ähnliches Stichwort aus der Nachbarschaft offensichtlich nicht die gleiche Behandlung erfährt. Wer diese Übung eine Weile durchgeführt hat, kann die Reform eigentlich nicht mehr ernsthaft hinnehmen wollen.
Bevor jetzt jemand wie Herr Jansen hier mit dem Einwand aufzutrumpfen versucht, dasselbe auf Grundlage der alten Rechtschreibung würde den Probanden mindestens die gleichen Schwierigkeiten bereiten: Hier darf man nicht vergessen, daß die bisherigen Schreibweisen aber allgemein bekannt sind. Jeder ist sie gewohnt, und man kann im Detail auch meist darlegen, warum sie die bessere Alternative sind. Sie sind millionenmal auf konsistente Weise angewandt worden und nachlesbar, was man in dem Maße über den Neuschrieb natürlich nicht sagen kann.
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