Erstens kommt es anders, ...
zweitens, als man denkt.
Der noch vor kurzem hier von ansonsten mit wissenschaftlichem Ernst argumentierenden Experten mit dem Epitheton »der scheidende« apostrophierte Finanzminister bleibt uns nun doch erhalten. Daß wir nach der Wahl einen anderen bekommen würden, sei wahrscheinlicher, so war die Rede, als daß eine hier im Forum kritisierte Schreibweise eines SZ-Journalisten durch die Reform bedingt sei. In dem einen Fall wissen wir jetzt Bescheid, im anderen müssen wir uns nach wie vor mit unserer Intuition begnügen.
Wer sich nicht allein auf »objektive Daten« stützt in seiner Beurteilung der Verhältnisse, sei es im Bereich der Politik oder in dem der Sprache, sondern zuallererst auf Erfahrung, vorsichtige Nachdenklichkeit und eben doch Intuition, hat gar nicht so selten am Ende recht.
Merke: Statistiken sind trügerisch, man kennt die Fakten selten wirklich, schon gar nicht im vorhinein. Drum wird ein kluger Sprachmensch statistische Aussagen über mehrheitlichen Schreibusus, schon gar von einer sprachlichen Müllkippe wie dem Internet bzw. Google, wo sich nichts anderes widerspiegelt als die immer größer werdende Uneinheitlichkeit und Verwahrlosung der Orthographie, vielleicht zwar mit Aufmerksamkeit zur Kenntnis nehmen, sich aber davor hüten, diese als die normstiftende Ursuppe deutscher Sprachpraxis oder gar Sprachkultur zu betrachten. Sonst ginge es nämlich mit der Abwärtsorientierung, die wir im Werteverständnis in vielen gesellschaftlichen und kulturellen Bereichen derzeit erleben und die auch unsere Bildungspolitik kennzeichnet, ungebremst weiter.
Auch kann man, wenn man bei Google dieselben Begriffe in Zeitabständen wiederholt eingibt, feststellen, daß die Treffer bei reformbedingten Schreibweisen stärker ansteigen als bei den herkömmlichen, die vielfach sogar sinken. Das ist ja auch bei dem Textmaterial, das sich dort ansammelt, gar nicht anders zu erwarten.
Damit wird der deskriptive Ansatz nicht kritisiert, sondern befragt. Die Frage ist zum einen, ob Google dabei tatsächlich so eine primäre Rolle spielen sollte, und zum andern, wie man sich angesichts der sich dort, aber auch in Büchern und Zeitungen breitmachenden Orthographieverschlechterung verhält. Registriert man diese getreulich, in der Hoffnung, daß sich schließlich alles wieder zu einem stimmigen Gesamtgebilde hin entwickelt? Was sucht ein Wort wie Tip noch in einem deskriptiven Wörterbuch, wo bei Google das Verhältnis zu Tipp 164.000 : 713.000 steht? (Das Internet wimmelt eben von »Tipps«.)
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Walter Lachenmann
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