Lebenslügenbereiche
Stefan Aust und das Augstein-Erbe
Zu Beginn seines Wirkens beim Spiegel stand ein Ultimatum. Entweder er oder niemand sonst, machte der Herausgeber seinen Redakteuren klar. Mochten den Spiegel-Mitarbeitern auch mehr als fünfzig Prozent des Verlags gehören, die ihnen Rudolf Augstein in einem Moment, den er später viele Male bereut hat, übergeben hatte das letzte Wort behielt Augstein, und die Entscheidung, wer den wegen Erfolglosigkeit in Ungnade gefallenen Hans-Werner Kilz ersetzen sollte, traf ebenfalls er, allein. Das war 1994, doch scheint es bereits Äonen her, daß Stefan Aust zum Chefredakteur des Magazins wurde, dessen Gründer am Donnerstag im Alter von 79 Jahren verstorben ist.
Aust hat sich den Spiegel längst zu eigen gemacht. Heute wird er allgemein als der Mann angesehen, der das Erbe Augsteins fortführt freilich mit der kuriosen Bedingung, im eigenen Magazin nicht zu schreiben. Doch dafür hatte er stets das Fernsehen. So wie Augstein sich im ersten Jahrzehnt nach dem Krieg und darauf den großen Themen der Deutschen, der Bewältigung der Nazizeit und dem Kampf um die parlamentarische Demokratie, journalistisch so widmete, daß sie stets politische Wirkung entfalteten, ist Aust mit aufwendigen Recherchen zu jenen Punkten vorgestoßen, welche die heute machthabende Generation in diesem Land bewegen. Wie kein zweiter hat er sich mit dem Terrorismus der RAF und dessen Wirkung befaßt und in Lebenslügenbereichen herumgeforscht, die noch heute nur von wenigen und nur mit Mühe betreten werden.
Im Fernsehen wirkt der jetzige Chefredakteur des Spiegel mit einer Schnörkellosigkeit, die sich im direkten Umgang wohl auch als Härte darstellt. Straight sei er, hat ein Filmemacher gesagt, der mit Aust Geschäfte in den gefährlichen Randbereichen des Journalismus macht, dort, wo Reporter im Zweifel mit dem Leben bezahlen. Straight direkt, ohne Umschweife, auf Qualität versessen und darauf, als erster und möglichst einziger die Story zu haben, koste es auch die Mitarbeiter , was es wolle. Als die Mauer fiel, war er der erste, der im Fernsehen, wenige Minuten nach Schabowskis Pressekonferenz, die entscheidende Deutung lieferte: Heute ist der Zweite Weltkrieg zu Ende gegangen.
Auf die Frage, warum er das Magazin Spiegel TV selbst moderiere, hat Aust geantwortet, daß er dies so lange tun werde, wie er keinen Besseren finde. Die Suche gestaltet sich offensichtlich schwierig, denn bei Spiegel TV sehen wir ihn noch heute. Einmal hat er sich grob überschätzt, vor vier Jahren, als er dachte, er könne Chef von Spiegel, Spiegel TV und auch noch Moderator des Talk im Turm sein. Mit seinem ersten Gesprächspartner, dem frischgewählten Bundeskanzler Gerhard Schröder, verstand Aust sich so gut, daß er gar nicht rechtzeitig vom Du zum kameratauglichen Sie zurückkehren konnte.
Der zweifache Vater, Pferdezüchter, Sohn eines Bauern aus Stade, dort geboren am 1. Juli 1946, beantwortet die Frage, ob es für Augstein einen Nachfolger geben kann, im heutigen Spiegel, in dem er schreibt: Nach ihm kann und wird es keinen Herausgeber geben, der diesen Titel verdient. Kann es nicht. Aber einen Chefredakteur, der die Auflage zu halten versteht, den scheint der Spiegel in Aust zu haben.
FAZ, 11. 11. 2002
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