ss-odyssssseee
(Unveröffentlichter?)Leserbrief
Karl Blüml, Vorsitzender der Zwischenstaatlichen Kommission, jubelt vor kurzem laut: Die neue s-Regel sei ein „voller Erfolg“, weil sie so logisch sei. Logisch schon, aber schwer anzuwenden, und deshalb außerordentlich fehlerträchtig. Davon kann sich jeder überzeugen, der möchte. „Doppelvokal ss nach kurz gesprochenem Selbstlaut.“ So steht es in Tausenden von neuen Deutschbüchern, so lernen es unsere Schüler. Und sie schreiben guten Gewissens: Misst, Pflasster, Zeugniss. „Lusstig“ ist das nicht.
Die Unterscheidung das/daß ist durch die Neuschreibung das/dass nicht einfacher geworden – im Gegenteil. Der liebevoll als „Buckel-ß“ bezeichnete Buchstabe mit seinen Ober- und Unterlängen war außerdem eine optische Lesehilfe. Rechtschreiben lernen wir nicht nur nach Regeln, sondern vor allem gewohnheitsmäßig und visuell, beim Lesen und Schreiben. Wer viel liest, behält die als richtig geltenden Schreibweisen und wendet sie automatisch an. Regeln taugen für Zweifelsfälle, die auch routinierte Schreiber plagen. Der ehemals an Schulen vermittelte Reim „ss am Schluß bringt Verdruß“ war eine einfach anzuwendende Regel und verhalf problemlos zur richtigen Schreibung.
Hingegen ist die Anweisung „Doppelvokal ss nach kurz gesprochenem Selbstlaut.“ keine Universalregel, sondern eine Regel für Umlerner. Man muß dazu wissen, wo vor der Reform ein ß nach kurzem Vokal geschrieben wurde, um sie richtig anzuwenden. Für Dialektsprecher oder Ausländer taugt diese „Regelkrücke“ ohnehin nicht.
Lehrer sind schon seit einiger Zeit auf diesen Umstand aufmerksam geworden. Reformfreudige Erwachsene, die sich wenig um Pädagogik kümmern, brüsten sich voller Stolz des Umstands, die s-Regel verstanden zu haben. Es ist ja auch schön, wenn man etwas Neues lernt und versteht, das will ich damit gar nicht herabwürdigen. Allerdings möchte ich die fortschrittlichen „ss-Schreiber“ bitten, einmal über folgendes nachzudenken: Wer die s-Regel richtig anwenden kann, schöpft aus dem Vorrat seiner vor der Reform erworbenen Rechtschreibsicherheit. Diese Quelle steht unseren Kindern nicht zur Verfügung. Und deshalb schreiben sie „Missthaufen“, weil hier der s-Laut auf kurzen Vokal folgt.
Wer an all dem zweifelt, begebe sich in eine Schule und lasse sich Schüleraufsätze zeigen. Doch dessen bedarf es eigentlich nicht. Täglich begegnen uns die sich ungehemmt vermehrenden Fehler in der angeblich so logischen s-Schreibung: in Broschüren, Zeitschriften, amtlichen Formularen, Zeitungen und auf amtlichen Hinweisschildern. Ein Narr, wer da meint, dabei handele es sich um Probleme der Übergangszeit.
Freunde, dass isst ersst der Anfang!
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Karin Pfeiffer-Stolz
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