Zurück zu Kuran (und Jürgen Schrempp)
Das Phänomen, um das es mir ging, war dieses:
Jürgen Schrempp schreibt einen Text für den eigenen Gebrauch. Er schreibt ihn in herkömmlicher Rechtschreibung. Texte in herkömmlicher Rechtschreibung lesen sich für ihn besser.
Jürgen Schrempp schreibt einen Text für andere. Jürgen Schrempp weiß (oder könnte es sich nach kurzer Überlegung bewußt machen): Auch für die anderen lesen sich Texte in herkömmlicher Rechtschreibung besser. Aber diesen Text für die anderen: Den schreibt er in Reformschreibung.
Und die anderen machen es genauso.
Das ist um es noch einmal zu sagen das, was die Soziologen Präferenzverfälschung nennen. Einerseits gibt es die Wahrheit, andererseits gibt es den Konsens darüber, daß man so tut, als gebe es sie nicht. Dem einzelnen verursacht das ein gewisses Unbehagen, aber noch unbehaglicher wird ihm bei der Vorstellung, er müßte den Gruppenkonsens öffentlich aufkündigen.
Bei Timur Kuran (in dem genannten Buch: Private Truths, Public Lies / Leben in Lüge) geht es darum, wie es zu Präferenzverfälschungen kommt, wie sie sich entwickeln, welche Folgen sie haben.
Präferenzverfälschungen sind Zugeständnisse, die die Mehrheit einer Minderheit macht, damit die Minderheit endlich Ruhe gibt. Die Minderheit hat eine fixe Idee, die Mehrheit gibt irgendwann nach. Hat sie schließlich nachgegeben, kann die Mehrheit die gemachten Zugeständnisse im Lauf der Zeit verinnerlichen und irgendwann als natürlich empfinden, oder sie kann sie, weil sie sich nicht an sie gewöhnen kann, am Ende wieder zurücknehmen. Es gibt Muster, nach denen solche Prozesse verlaufen, und wer sich (wie ich) in die Betrachtung solcher Muster gerne versenkt, der findet sie in Kurans Buch gut dargestellt.
- Direkte Handlungsanleitungen, lieber Herr Schäbler, finden sich keine. Aber es wird immerhin klar, daß man auch als einzelner durchaus etwas ausrichten kann. Man kann es, indem man Leute, denen man ihr Unbehagen anmerkt, in diesem Unbehagen bestärkt. Worauf es ankommt, ist, ob dieses Unbehagen in der Gesellschaft insgesamt zunimmt, oder ob es sich legt. Worauf es ankommt, ist das Stirnrunzeln, mit dem die Leute im Reformduden blättern. Worauf es weniger ankommt, ist die persönliche Glaubwürdigkeit der Reformer. Der Duden selbst ist es, der unglaubwürdig werden muß. Das Stirnrunzeln der Leute muß zunehmen. Es muß so lange zunehmen, bis sie schließlich den Duden zuklappen und weglegen und einander kopfschüttelnd ansehen und fragen: Wieso sollen wir daß eigentlich mit ss schreiben?
– geändert durch Jörg Metes am 14.04.2002, 21.08 –
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Jörg Metes
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