Briefe an die Herausgeber FAZ, 20. 10. 2004
Was nach wie vor erkannt werden muß
Es gibt nur zwei Möglichkeiten, einen s-Laut am Ende oder Silbenende eines deutschen Wortes zu schreiben: s oder ß. Das neue Regelwerk macht die Sache komplizierter; denn nun gibt es drei Möglichkeiten: s, ss und ß. Die mathematische Wahrscheinlichkeit, hier Fehler zu machen, hat also um 50 Prozent zugenommen. Das wird in der Schulpraxis bestätigt. Schüler haben Probleme, die Länge oder Kürze eines Vokals zu erkennen. Deshalb nützt ihnen die neue ss-Regel nichts, und sie schreiben zum Beispiel Spass, Fussball oder sogar aussen und heiss. Solche Fehler werden nicht gemacht, wenn am Schluß oder Silbenende grundsätzlich kein ss stehen darf, gleichgültig, ob der vorausgehende Vokal kurz oder lang ist. Bewährte Merkhilfe: „ss am Schluß bringt Verdruß!“ Der häufigste Fehler bei Diktaten wurde bei „das“ und „daß“ gemacht. Daran hat sich auch durch die Umstellung auf „das“ und „dass“ nichts geändert. Nach wie vor muß erkannt werden, ob es sich um ein Geschlechtswort, ein Fürwort oder ein Bindewort handelt. Viele zusammengesetzte Wörter sind durch die ss-Schreibung wesentlich schwerer zu lesen als bei Verwendung des ß, zum Beispiel Messergebnis, Passersatz, Nussecke, hasserfüllt, Flusssand, Schlussserie, Schlosssaal, Flussschifffahrt. Da das ß eine optische Zäsur darstellt, ist das Wortbild schneller zu erfassen: Meßergebnis, Paßersatz, Nußecke, haßerfüllt, Flußsand, Schlußserie, Schloßsaal, Flußschiffahrt.
Hans-J. Richter, Immenreuth
Nicht Fraktur, sondern Ligatur der Cancelleresca
Zu „Lob der Rechtschreibung“ von Professor Dr. Horst Haider Munske (F.A.Z. vom 4. Oktober): Auf der Titelseite der Frankfurter Allgemeinen vom 4. Oktober ruft der Bundespräsident: „Wir haben zuviel Staat“, und der Artikel darunter bestätigt genau das. Der Ministerpräsident von Bayern bestimmt, daß das „dass“ und andere Schreibweisen, die er für richtig hält, bleiben können. Warum glaubt er, zu so einer Aussage berechtigt zu sein? War es nicht sein damaliger Kultusminister Zehetmair, der einer der entschiedensten und uneinsichtigsten Verfechter dieser Schreibreform war, und war es nicht Edmund Stoiber, der vor noch gar nicht langer Zeit an diesem Werk festhalten wollte. Läse der bayerische Ministerpräsident die F.A.Z., könnte er mit Hilfe von Professor Munske mehr Einsicht gewinnen, vorausgesetzt, er wäre dazu bereit. Professor Munskes Erklärung, wie das ß entstanden ist, sollte er jedoch nicht übernehmen.
Soweit ich dies aus dem Studium historischer Schriften ableite, stammt das ß nicht aus der Frakturschrift, sondern aus einer Ligatur (langes „s“, kurzes „s“) der Cancelleresca, die in der Renaissance von Humanisten wie Arrighi (Ludovicus Vincentinus) und Bernardino Cantaneo geschrieben und von Kardinal Bembo gefördert wurde. Alle Erklärungen, die eine Herkunft des ß aus dem Fraktur-sz ableiten wollen, sind nicht schlüssig.
Benno Aumann, München
Ein Lob der kompetenten Argumentation
Zum Artikel „Lob der Rechtschreibung“ von Horst Haider Munske (F.A.Z. vom 4. Oktober): Wer nach diesem klaren, geduldigen und kenntnisreichen Aufsatz nicht überzeugt ist oder wenigstens aufhorcht und neu nachdenkt, dem ist nicht zu helfen. Mir zeigte sich wieder einmal, daß erstens zum plausiblen Argumentieren ein genügend weiter historischer und systematischer Hintergrund gehört, daß man zweitens davon erzählen können muß und daß drittens diese Fähigkeiten nicht ohne eine (altmodische?) Liebe zur Sprache zu haben sind. Kann man eine solche Liebe, die in der Regel mit der eigenen auch die fremden Sprachen umfaßt, bei der Mehrzahl der Deutschlehrer und Germanistik-Studenten sowie bei Journalisten voraussetzen? Kann man sie vermitteln? Man sollte es zumindest versuchen und sich vom Niveau akademischer Seminargespräche auch in die „Niederungen“ (aber es sind keine) von Grundschulen, Kindergärten und Kinderbuch-Redaktionen begeben. Kluger Umgang mit Sprache macht Freude, kann sogar ausgesprochen vergnüglich sein, und unsere Kinder, die in manchem besser sind als ihr Ruf, haben Anspruch auf kompetente Vermittlung unserer Sprachkultur.
Christa Wißkirchen, Pulheim
Frankfurter Allgemeine Zeitung, Nr. 245 / Seite 8
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