Eine Episode der Musikgeschichte des 20. Jahrhunderts
Vor 1901 war die Adelungsche Schreibweise in Fraktur und Antiqua üblich, für letztere auch in ß-loser Version. In Österreich wurde wenige Jahre lang auch die Heyse-Schreibweise propagiert, aber wenig befolgt und 1901 wieder aufgegeben.
Die Verwalter des Werks des Wiener Komponisten Arnold Schönberg (1874 – 1951) sind nun mit unterschiedlicher Anpassungsbereitschaft bemüht, den heutigen staatlichen Erwartungen in der Rechtschreibung entgegenzukommen. Die Liedtexte stammen von Schönberg und geben einen Einblick in die widerstrebenden Musikauffassungen der Zeit…
Drei Satiren für gemischten Chor op. 28
von Arnold Schönberg (1925)
Am Scheideweg
Tonal oder atonal?
Nun sagt einmal
in welchem Stall
in diesem Fall
die größre Zahl,
daß man sich halten,
halten kann am sichern Wall.
Vielseitigkeit
Ja, wer tommerlt denn da?
Das ist ja der kleine Modernsky!
Hat sich ein Bubizopf schneiden lassen;
sieht ganz gut aus!
Wie echt falsches Haar!
Wie eine Perücke!
(Ganz wie sich ihn der kleine Modernsky vorstellt),
ganz der Papa Bach!
Der Neue Klassizismus
Tenor:
Nicht mehr romantisch blieb ich,
Romantisch hass ich;
von morgen an schon
schreib ich nur reinstes Klassisch!
Baß:
Dem kann die Macht der Zeiten
nichts mehr anhaben,
Sopran und Alt:
Siehe Riemann! ¹)
Baß:
den Kunstgesetze leiten
nach dem Buchstaben.
Sopran und Alt:
Buchstaben? Wenn man die kann!
Bass:
Ich staun, wie rasch die Wendung:
von heut auf morgen
besitzt man Formvollendung?
Kann man die borgen?
Sopran und Alt:
...nur borgen!
Chor:
Die Hauptsache ist der Entschluß.
Doch der ist leicht gefaßt.
Die Technik macht manchem Verdruss,
drum wird sie gern gehaßt.
Man läßt sie ganz einfach beiseiten,
Vollendung ist doch das Panier!
Sie zeitigt den Einfall beizeiten,
wenn auch nur auf dem Papier.
Schlussfuge:
Klassische Vollendung,
streng in jeder Wendung,
sie komm woher sie mag,
danach ist nicht die Frag,
sie geh wohin sie will:
das ist der neue Stil.
schoenberg.at/index
Aus der Einführung von A.G.
… Schönberg …: »Ich schrieb [die Satiren], als ich über die Angriffe einiger meiner jüngeren Zeitgenossen sehr aufgebracht war, und wollte sie warnen, daß es nicht gut ist, mit mir anzubinden«, erläutert Arnold Schönberg im Vorwort zu den »Drei Satiren«. … Die Botschaft der Satiren lässt sich auch heute noch nachvollziehen, …
Mit »Am Scheideweg« ist die erste Zielgruppe angesprochen: diejenigen, die sich tonaler wie atonaler Prinzipien bedienen, ohne sich über Ursachen und Konsequenzen im Klaren zu sein. Der Textstelle »Tonal« entspricht ein C–Dur Dreiklang, der in der Zwölftonreihe bereits angelegt ist. Ganz bewußt wird diese tonale Zelle … eingesetzt und bildet die musikalische Entsprechung zum Kontrast Tonal/Atonal im Text. …
Im zweiten Chor »Vielseitigkeit« lässt bereits der optischen Eindruck des Notenbildes die polyphon äußerst vielschichtige Struktur erahnen…
Nr.3 »Der neue Klassizismus« ist eine Kantate für gemischten Chor mit Begleitung von Bratsche, Violoncello und Klavier. Sie ist in wesentlichen Teilen gegen den Musikwissenschaftler Hugo Riemann gerichtet, … Riemann hatte sich in seinem Musiklexikon (in der Ausgabe von 1916) abfällig über Passagen in Schönbergs Harmonielehre geäußert, was der Komponist 1926 (zur Entstehungszeit der Satiren, als Riemann längst gestorben, und die bewusste Stelle längst gestrichen war) noch nicht verwunden hatte ¹).
Davon abgesehen ist Strawinsky das Hauptangriffsziel... Auf ein ausgedehntes Rezitativ (»eventuell Solo«) folgt eine ›Arie‹ für Baß und Chor (»Dem kann die Macht der Zeiten nichts mehr anhaben«) mit variierter Reprise. Daran schließt sich eine Chorfuge (»Die Hauptsache ist der Entschluß«) an…
Der Anhang zu den »Satiren« besteht aus drei Kanons, die diatonisch komponiert sind. In einem gesonderten Vorwort begründet Schönberg das Verfahren damit, er habe beweisen wollen, dass er in der Lage sei, diatonische Kanons zu schreiben …
¹) Damals war Schönbergs Musik noch anhörbar spätromantisch, aber dennoch steht in meinem ,Riemann': Seine 1911 erschienene »Harmonielehre« ist ein seltsames Gemengsel von theoretischen Rückständigkeiten und Befangenheiten, die aus S. Sechters System herrühren, und die hypermoderne Verneinung aller Theorie. Das naive Geständnis des Verfassers, daß er »nie eine Musikgeschichte gelesen habe«, gibt den Schlüssel für dieses beispiellos dilettantische Machwerk. Das »Kunsthandwerk«, welches Sch. zu lehren vorgibt, ist Gott sei Dank heute noch dem Gemeingefühl fremd.
[Hugo Riemanns Musik-Lexikon, nach seinem Tode (10. Juli 1919) fertiggestellt von Alfred Einstein.]
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