Re: Re: Lern- oder Lehrschwäche?
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Elke Philburn
Lernen die Schüler besser, ihre Gedanken in Schrift zu fassen, wenn sie dabei in das Korsett einer einheitlichen Rechtschreibnorm gezwängt werden? Oder ist es nicht eher so, dass die Befürchtung, Rechtschreibfehler zu begehen, vom kreativen, intellektuellen und auch spielerischen Gebrauch der Schriftsprache abhält?
Sprachliche Normen als Korsett anzusehen, halte ich für etwas fragwürdig. Das Bild stimmt nur dann, wenn man davon ausgeht, daß der Körper ohne das Korsett keinen Halt mehr hätte das Korsett wäre demnach unverzichtbar.
Ein Widerstreit zwischen Rechtschreibungskompetenz und Kreativität besteht in Wirklichkeit nicht. Literarische Exzentriker wie Ernst Jandl oder Arno Schmidt können normalerweise auch den allgemeinen Konventionen gemäß schreiben. Briefe an Behörden haben sie sicherlich in einer anderen Form verfaßt als ihre künstlerischen Werke. Eine umfassende Bildung darf nicht das eine zugunsten des anderen vernachlässigen. Der künstlerische Reiz ergibt sich übrigens oft gerade erst aus der Abweichung von einer Norm. Ohne eine definierte Norm wäre man des Stilmittels der Abweichung beraubt.
Spielerischer Gebrauch der Sprache sollte in der Schule keinesfalls immerzu unterbunden werden. Aber die Schüler müssen auch lernen, wie man die Sprache ernsthaft gebraucht. Zum Spielen braucht man keine Schule. Zum Lernen ist sie da.
Zitat: Ist die Rechtschreibung dann noch Mittel zum Zweck, nämlich die Schriftsprache für den Leser leicht entschlüsselbar zu machen, oder wird sie um ihrer selbst willen vermittelt? Die Frage dürfte sich in anderen Fächern, wie Mathematik, Physik, Chemie, viel dringender stellen. Wozu muß ich im Alltag etwas übers Periodensystem der Elemente oder Integrale wissen? Die Schriftsprache spielt in unserer Kultur jedoch eine derart zentrale Rolle, daß sie auch eine entsprechend gründliche Behandlung verdient. Rechtschreibung ist in der Schriftsprache in etwa das, was deutliches Sprechen für die Rede ist. Wer dauernd nuschelt, von dem versteht man nur die Hälfte, die Kommunikation ist mühsam und die Wahrscheinlichkeit von Mißverständnissen erhöht. Kindern und Jugendlichen, die zum Nuscheln neigen, sollte man daher auch ein deutliches Sprechen beibringen (Erwachsenen natürlich ebenso). Die Rechtschreibreform ist in diesem Sinne sozusagen verordnetes Lispeln.
Zitat: Im schlimmsten Fall wird sie zum Instrument, an dem sich der vermeintlich Kluge vom vermeintlich Dummen scheidet und durch das der aktive Gebrauch der Schriftsprache zum Privileg derjenigen wird, die die Rechtschreibung einwandfrei beherrschen. Daran wird die Rechtschreibreform keineswegs etwas ändern. Im Gegenteil, ihre Einführung hat den Erwerb einer guten Rechtschreibbefähigung ja noch erschwert, einerseits durch ein umfangreicheres Regelwerk, andererseits durch das orthographische Durcheinander, dem man beim alltäglichen Lesen heute begegnet.
Zitat: Meiner Ansicht nach wäre es deshalb wünschenswert, darüber nachzudenken, wie man den Schülern den Umgang mit der Schriftsprache nicht nur erleichtert, sondern den Schwerpunkt von formalen zu inhaltlichen Kriterien hin verlagert. Das ist kein Entweder-Oder. Es muß ein Sowohl-Als-Auch sein. Um einen Dom zu bauen, reicht nicht allein Kreativität; man kann nicht einfach kreativ loslegen und Steine aufeinanderstapeln, sondern man muß erst eine Menge von Bauhandwerk verstehen. Nur so gelangt der Mensch zum Höchsten. Was die Sprache angeht: Gute Beherrschung des Formalen dient der guten Inhaltsdarstellung und -vermittlung.
Meines Erachtens sollte man zum Verbessern der Schule zunächst einmal weniger darüber nachdenken, Lernhinhalte zu verändern (Schwerpunkte anders setzen, um die Inhalte zu vereinfachen), sondern an einer Verbesserung der Didaktik arbeiten. Das betrifft nicht nur den Lehrer, sondern das Lernsystem im ganzen, also u.a. auch die Rolle, in die der Schüler in der Schule gesteckt wird.
Legasthenikern, also Menschen, deren Rechtschreibschwäche pathologisch bedingt ist, wird man ihre Behinderung nicht reparieren können. Man kann nur durch Förderunterricht versuchen, ihnen Hilfsmittel an die Hand zu geben, die sie ihre Schwächen am besten umschiffen lassen. Für Legastheniker ist ein möglichst einfaches und unkompliziertes Regelwerk besonders günstig. Das reformierte Regelwerk ist also gerade hier untauglich (abgesehen von der ss/ß-Schreibung, die wohl formal die einzige tatsächliche Vereinfachung in der Reform darstellen dürfte, aber aus anderen Gründen wieder abzulehnen ist).
|