Kempowski 1996 über die RSR
Ich bin dagegegen, die Schüler unnütz zu quälen, aber diese Rechtschreibreform, die sich unsere Kultusminister ausgedacht haben, ist keine Hilfe, sie ist einfach nur Murks ... wenn sich die Bürokraten schon daran vergreifen, dann bitte gleich viel radikaler – mit der gemäßigten Kleinschreibung. Damit hätte man jedenfalls an Europa gedacht und sich anderen Schriftsprachen angeglichen. Jetzt herrscht Chaos. ...
Ich hab´ den Eindruck, das ist so ein Professoren-Mulm, beschlossen von praxisfernen Gestalten, die nicht wissen, wo der Kellerschlüssel liegt, aber klug daherquasseln. Im übrigen lernt man Rechtschreibung nicht nur nach Regeln, Orthographie prägt sich auch durch das Erscheinungsbild ein. ...
Die Schreibweise eines Wortes zu ändern ist brutal. Stellen Sie sich mal vor, wie demnächst ein Gedicht von Sarah Kirsch aussieht. ... Die vertraute Gestalt eines Wortes erinnert einen doch sofort an eine Wortfamilie: Hinter jedem steht ein Schwarm anderer Worte. Sprache ist für mich Heimat. ...
Kinder mit Schreibschwierigkeiten gibt es immer. Laßt uns doch die Sache gelassener betrachten. Ich kriege häufig Briefe von gebildeten Greisen, und plötzlich, butsch, ist da ein Fehler drin. Das ist doch hübsch. Man ist froh, wenn heutzutage Leute überhaupt noch schreiben.
(Kempowski gehört zu den Erstunterzeichnern der Frankfurter Erklärung.)
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Th. Ickler
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