Wortbildspeichertechniken
(am Beispiel des Rechtschreibfalles S-Laute)
Ungeachtet der Diskussion über den Stellenwert rechtschriftlicher Normierung möchte ich über Lehrmethoden und Lerntechniken berichten, die vorwiegend im Rechtschreibunterricht der Grundschulen angewandt werden.
Ziel des Rechtschreibtrainings ist es, die ca. 1000 Wörter der sogenannten Wörterliste einüben und beherrschen zu lernen. Dies geschieht anhand von Ganztexten sogenannten Nachschriften in denen das zu lernende Wortmaterial eingebracht ist. Dem Ganztext ist stets ein zusätzliches Blatt mit Arbeitsaufträgen beigefügt, und diese Arbeitsaufträge verfolgen den Zweck, die sogenannten Lernwörter aus dem Text zu isolieren und gesondert einzuüben. Dabei gilt der Grundsatz, daß beim Einprägen der Lernwörter möglichst viele Sinne eingesetzt werden, um so das Wortbild dauerhaft und resistent gegen das Vergessen abzuspeichern.
Der Begriff Automatisierung bezeichnet diesen Lernvorgang mit einem negativen Beigeschmack, und tatsächlich handelt es sich um einen Drill, dessen Sinn oder Unsinn durchaus in Folgediskussionen (z.B. im Strang Der Fetisch Norm) erörtert werden kann. Hier jedoch soll ausschließlich über den Erfolg der Rechtschreibmaßnahmen berichtet und der Einfluß der so genannten Rechtschreibreform aufgezeigt werden.
Professor Harald Marx (siehe Graphik auf der Netzseite http://www.rechtschreibreform.com) hat in einer Untersuchung nachgewiesen, daß die Grundschüler (2. bis 4. Klasse) seit der Rechtschreibreform im Bereich des Rechtschreibfalles S-Laute mehr Fehler machen oder besser ausgedrückt, daß es zu erheblich mehr Normverletzungen kommt als vor der Reform. Dabei läßt sich lediglich spekulieren darüber, ob dieser Zuwachs an Normverletzungen mit einer bewußten oder unbewußten Ablehnung der künstlich geschaffenen Norm einhergeht ...
Vom Standpunkt der Unterrichtspraxis her, lassen sich Gründe finden für das Nachlassen der Rechtschreibsicherheit im Bereich der S-Laute, denn die Rechtschreibreform hat in das funktionierende System der Wortbildspeicherung eingegriffen, und es ist ihr anzulasten, daß insbesondere Wortbilder, in denen ehemals ein "ß" enthalten war, heute fehlerhaft gespeichert werden.
Der Buchstabe "ß" ist nämlich in der lateinischen Ausgangsschrift (jedoch nicht in der Druckschrift) ein äußerst signifikanter Buchstabe, und es gibt unter allen klein geschriebenen Buchstaben nur noch ein einziges Zeichen (das f), das in der Schreibschrift der Schüler ähnliche Längenausdehnung aufweist.
Fachsprachlich bezeichnet man dies als "Überlänge (hierzu zählen ausschließlich: f und ß), im Gegensatz zu Oberlängen (hierzu zählen: b, l, h ...), bzw. Unterlängen (g, p, y ...).
Keinen Blickfang dagegen bieten die Buchstaben: a, e, i, o, u, c ...
Darunter fällt auch der Buchstabe s.
Der logische Schluß ist einfach. Da sich unser Gedächtnis in erster Linie den Besonderheiten mit Vorliebe zuwendet, da unser visueller Sinn doch zumeist vom Außergewöhnlichen gefesselt wird, war die Auflösung der Überlänge "ß" zugunsten des Normalbuchstabens s wortspeichertechnisch gesehen ein absoluter Rückschritt.
Und diese Aussage kann ich aufgrund langjähriger Praxis beweisen. Insbesondere dann, wenn ich spielerische Formen im Bereich der visuellen Wortbilderfassung einsetzte (Anwendung der sog. Geisterschrift oder das Füllen von Wortrahmen das sind Techniken, mit denen Buchstaben in Striche und Längen dekodiert werden / an anderer Stelle in diesem Forum wurde dies genauer erklärt), wandten sich die Schüler zunächst immer den auffallendsten Wortbildern zu. Genau diese wurden auch am eifrigsten trainiert und am sichersten behalten.
Lediglich streifen möchte ich, daß auch andere Rechtschreibsinne und Wortbildspeichertechniken von der neuen S-Regelung betroffen sind.
So wurde beispielsweise eine berühmte Merkregel (Eselsbrücke) abgeschafft: ss am Schluß, bringt Verdruß".
Auch die Aussprache, das Erfühlen der Buchstaben und der Hörsinn wurden durch die Umstellung verfremdet.
Dies kann man nachvollziehen, wenn man versucht die nachfolgenden Wörter bühnenreif zu artikulieren: Hase, hasse, Haß (Hass), Maß, Masse, Mus, muß (muss), Kloß, Glosse, Glas, Klasse, Wiese, wissen, wißbegierig (wissbegierig) ...
Nicht nur aus oben aufgezählten Gründen lehne ich als Lehrer die Rechtschreibreform ab!
Sie ist eine übergestülpte nicht sorgfältig durchdachte Fremdnormierung, die etwas Gewachsenes erheblich beeinträchtigt und schädigt.
Eine Frage noch an Professor Ickler. Wie darf ich denn künftig die Heysesche S-Regelung einschätzen? Ist das eine regionale Besonderheit, eine Norm, oder ein Brauch?
Zusatzfrage: Kann man diese Regelung die in der Schule bis 1996 Gültigkeit hatte nicht mit Fug und Recht als die besser durchdachte, ökonomischere und ästhetischere Lösung bezeichnen?
__________________
nos
|