Volksetymologie vs. angelehnte Schreibung; Verfassungsgerichtsfestigkeit
Zitat: Ursprünglich eingetragen von J.-M. Wagner
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Elke Philburn
Die Schreibung potenziell ist, wie viele andere so genannte Vereinfachungen, eine Überflüssigkeit, deren Nutzen allenfalls darin besteht, 'Fortschrittlichkeit' oder eine 'moderne Auffassung' in der Schreibung zu demonstrieren.
Tja, vielleicht; ich halte das eher für eine Volksetymologie (der man evtl. ein wenig nachgeholfen hat, damit sie zustandekommt) wenn man Potenz schreibt, ist potenziell nicht weit...
Ups, das war wohl ein Schnellschuß, denn das ist ja nur eine Abwandlung der Schreibung und gar keine Volksetymologie, weil beide Wörter (potentiell und Potenz) die gleiche (lateinische) Herkunft haben (potens, potentis). (Danke für den Hinweis, Frau Philburn!)
Zitat:
Zitat: Und wie bei fast allen neuen Schreibungen gilt auch hier, daß der Neuschreiber mit dem Versuch, eine einfache Regel abzuleiten, (etwa: Die Schreibungen tial und tiell, da gesprochen /zial/ und /ziell/ schreibt man jetzt zial und ziell) auf die Nase fallen wird:
*Inizialen, *parzial, *parziell, *Exponenzial-, *tangenzial...
Fazit: Hier könnte eine Volksetymologien losgetreten worden sein, so daß letztlich ti + Vokal und zi + Vokal in Fremd- bzw. Lehnwörtern als völlig gleichberechtigt erscheinen. Das potenziell wäre der Auslöser und damit sehr wichtig.
Auch hier geht es nicht um Volksetymologien zumindest solange man nicht versucht ist, aufgrund der Schreibänderung an eine andere Herkunft des Wortes zu denken (vgl. den Eintrag Stillstand von Herr Ickler zu Justitium > Justizium, letzteres ist etymologisch nur korrekt, wenn man dabei nicht an Justiz denkt). Also: keine Lawine von Volksetymologien, sondern von an der Aussprache orientierten Eindeutschungen der Schreibung, motiviert durch Beispiele (etymologisch meist nicht zu beanstandener) schreiblicher Anlehnungen. Bei minutiös, auch minuziös bin ich mir in der Beziehung allerdings völlig unsicher, welche die eigentliche (d. h. lange Zeit gebräuchliche) Form ist.
Ein wirkliche Erleichterung dürfte dies aber letztlich nicht sein nicht nur aus dem von Frau Philburn genannten Grund, daß die Abgrenzung, wie weit man die neugewonnene Freiheit nutzen darf, zusätzliches Wissen erfordert , weil es einem beim Erlernen einer Fremdsprache (in Deutschland vorzugsweise Englisch oder Französisch) nicht erspart bleibt, sich die andere Schreibweise anzugewöhnen.
Zitat: Insgesamt läßt sich hier ein gewisses Strickmuster erkennen, das man, etwas überspitzt, so darstellen kann: Die Reformschreibungsregeln, welche ja eine Vereinfachung der Rechtschreibung mit sich bringen sollen, sind in ihrer eigentlichen Form so schwer, daß man vereinfachte Faustregeln benötigt, welche dem Schreibenden das Leben wirklich einfacher machen weil er sich durch diese in seiner Grundhaltung bestätigt sieht, daß man jetzt schreiben kann, wie man will, und sei es noch so belämmert.
Dazu noch zwei Gedanken: Warum gab es dieses Chaos nicht bereits vor der Reform? Auch damals konnten die Regeln als zu kompliziert empfunden werden. Vielleicht lag es am DUDEN-Privileg, vielleicht lag es aber mehr daran, daß die Faustregeln wirklich funktioniert haben: Trenne nie 'st', denn es tut ihm weh, Ein 'ss' am Schluß schafft Verdruß".
Und: Was bedeutet diese Art der volkstümlichen Umsetzung der Reformschreibungsregeln (durch unbrauchbare Ersatzregeln) für die vom BVerfG betonte Akzeptanz der Rechtschreibreform? Dazu Passagen aus dem Urteil vom 14. Juli 1998:
Zitat: (Abs. 79 bis 83)
2. Gegen die Erteilung des Unterrichts nach den neuen Regeln haben die Beschwerdeführer Klage erhoben, über die noch nicht entschieden ist. Ihr Antrag auf Erlaß einer einstweiligen Anordnung ist erfolglos geblieben. Das Oberverwaltungsgericht hat ihre Beschwerde gegen die Ablehnung des Antrags durch das Verwaltungsgericht aus den folgenden Gründen zurückgewiesen (vgl. NJW 1997, S. 2536): [...] Die Rechtschreibung beruhe im deutschen Sprachraum nicht auf Rechtsnormen, sondern auf sprachlichen und damit außerrechtlichen Regeln, die auf Akzeptanz angewiesen seien. [...] Bei der Konkretisierung des gesetzlichen Schulauftrags habe das zuständige Ministerium sinngemäß die Prognose gestellt, daß die Rechtschreibreform die notwendige allgemeine Akzeptanz finden werde. Nach derzeitigem Kenntnisstand sei diese Prognose nicht zu beanstanden.
In den unmittelbar darauffolgenden Sätzen heißt es aber:
Zitat: (aus Abs. 83)
Da die außerrechtlich normierten Regeln der Reform auch durch staatlichen Einfluß, insbesondere den der Kultusministerkonferenz, geprägt seien, hänge die Akzeptanz maßgebend von der innerstaatlichen und fachlichen Kompetenz dieses Normgebers ab. Rechtschreibreformen würden in Deutschland seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts als letztlich staatliche Aufgabe verstanden.
Diese Passagen gehen auf das Oberverwaltungsgericht zurück; das BVerfG selbst hat festgestellt:
Zitat: (Abs. 167 und 168; Hervorhebung: J.-M. W.)
2. Nach diesen Maßstäben ist der angegriffene Beschluß des Oberverwaltungsgerichts verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden.
a) Entgegen der Auffassung der Beschwerdeführer hat das Oberverwaltungsgericht in den Gründen seiner Entscheidung die Bedeutung der Rechtschreibreform für die Spracherziehung in der Schule gewürdigt. Es hat die künftige Rechtschreibung in Beziehung gesetzt zum Schulauftrag nach den §§ 4 und 11 SchulG und für die Unbedenklichkeit der schulischen Einführung einer künftig geltenden Schreibweise der deutschen Sprache im Erlaßwege darauf abgestellt, daß sich die Schule lediglich allgemein zu erwartenden Rechtschreibänderungen anpasse. Dazu hat das Oberverwaltungsgericht ausgeführt, daß es der Rechtschreibreform nicht nur um eine Änderung der Schreibweise im Unterricht und in der Amtssprache, sondern um eine Reform der Schreibweise der deutschen Sprache im deutschen Sprachraum überhaupt gehe und daß nach der nicht zu beanstandenden Prognose der Kultusverwaltung die Rechtschreibreform die für eine Sprachgeltung notwendige allgemeine Akzeptanz finden werde. Das Oberverwaltungsgericht hat die Bedeutung dieser Reform für den Schulunterricht also darin gesehen, daß sich an dessen Ziel, Schülern die allgemein üblichen Rechtschreibkenntnisse zu vermitteln, nichts ändern werde. Diese Auffassung liegt nicht so fern, daß es die Beteiligten vor dem Erlaß der angegriffenen Entscheidung darauf hätte hinweisen müssen.
Auch hier wird wieder das OVG zitiert; der letzte Satz gibt zu erkennen, daß das BVerfG inhaltlich mit dem OVG übereinstimmt.
Mein Eindruck: Solange die »fachliche Kompetenz des Normgebers« als Maßstab für die Akzeptanz der Rechtschreibreform gesehen wird, spielt die tatsächliche Umsetzung der Reform (d. h. in der alltäglichen Praxis) keine Rolle selbst wenn dies mittels unbrauchbarer Faustregeln geschieht und selbst wenn die verschiedenen Zeitungsverlage ihre unterschiedlichen Hausorthographien pflegen. Gestützt wird dies durch eine fatale Selbstkonsistenz besser: selbsterfüllende Prophezeihung -: In der Erwartung, daß sich der allgemeine Schreibgebrauch an die Reformschreibung anpassen wird, wird diese an den Schulen unterrichtet aber letztlich ändert sich ja ersterer erst aufgrund der Unterrichtspraxis, und zwar mit dem Hinweis, daß die Reformschreibung die den Schülern vertrautere sei. Auf diese Weise kann man allerdings jede Reform begründen, denn dieser Zirkelschluß funktioniert auch, wenn man irgend etwas anderes an Stelle der Reformschreibung einsetzt; der Inhalt spielt hierbei keine Rolle.
Vielleicht hat aber das BVerfG bezüglich der »für eine Sprachgeltung notwendige[n] allgemeine[n] Akzeptanz« eine andere Auffassung als das OVG. Ob man es dazu bringen kann, die Gleichsetzung von Akzeptanz und Normgeberkompetenz zu hinterfragen?
Es bleibt für mich außerdem die Frage, ob nicht in der Darstellung des OVG ein Widerspruch deutlich wird, wenn einerseits darauf hingewiesen wird, daß die Rechtschreibung »nicht auf Rechtsnormen, sondern auf sprachlichen und damit außerrechtlichen Regeln«, andererseits aber Änderungen dieser außerrechtlichen Regeln (= Rechtschreibreformen) »als letztlich staatliche Aufgabe verstanden« werden. Damit ist keine Widersprüchlichkeit der Ausführungen des OVG gemeint, sondern ein Widerspruch eben in dem Verständnis, was eine staatliche Aufgabe sei.
Meine Meinung: Was außerrechtlich ist, bleibt es nur, wenn der Staat die Finger davon läßt und also keine Verordnungen dazu erläßt. In diesem Punkt stimme ich Herrn Icklers Forderungen nachdrücklich zu (vgl. den Strang Der Fetisch Norm). Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bestehende Rechtspraxis, die zu dem beschriebenen Verständnis geführt hat, sollte dringend überprüft und geändert werden.
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Jan-Martin Wagner
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