Frankfurter Erklärung (Flugblatt von Friedrich Denk, Frankfurt 1. Oktober 1996)
Dieses Faltblatt diente als Argumentationsgrundlage für die spätere Resolution
Stoppt die überflüssige, aber milliardenteure Rechtschreibreform!
Nach Erscheinen der neuen Rechtschreiblexika von Bertelsmann und Duden und den ersten Erfahrungen an den Schulen ist es endlich möglich geworden, den Umfang und den Inhalt der geplanten Rechtschreibreform genauer zu analysieren, ihre Folgen für die deutsche Sprache und Literatur im In- und Ausland, für die Jugend und für uns alle zu ermessen und die ungeheuren Mühen und Kosten abzuschätzen, die dieser Vorschlag, wenn er durchgeführt würde, verursachen wird.
10 Argumente gegen die Rechtschreibreform
1. Der Umfang der Reform ist lächerlich gering. Er betrifft nur etwa 0,4, bzw. (wenn man die ss-Regelung wegläßt etwa 0,05 Prozent eines Textes. Anders gesagt: Von der ss-Regelung abgesehen, bleiben etwa 99,95 Prozent aller Buchstaben auf einer Textseite unverändert. Und dafür sollen wir über eine Milliarde DM bezahlen?
2. Der Inhalt der Rechtschreibreform ist oft überflüssig (die ss-Regelung z.B. vermeidet den häufigsten Fehler – „das“ statt „daß“ – nicht im geringsten), konfus (in Zukunft sollen wir „Eis laufen“, doch wie bisher „seiltanzen“, das „Goldene Zeitalter klein, die goldenen Zwanziger aber groß schreiben (neu: „großschreiben“), „jenseits von gut und böse“, aber „er tut mit Leid“, „schwer behindert“ aber (wie bisher) „schwerstbehindert“ (als Folge einer erfundenen Regel), „eine Furcht einflößende Gestalt“, aber „eine noch furchteinflößendere Gestalt“ (Duden, S. 35) und z.T. falsch: „ck“ ist kein Laut wie „ch“ und „sch“, sondern, wie jedes Kind weiß, ein Doppelkonsonant und muß wie „But-ter“ getrennt werden. Die Trennung „Zu-cker“ ist absurd. Noch toller ist die offizielle Trenn-Möglichkeit „vol-lenden“!
3. Die negativen Folgen für die deutsche Sprache sind einschneidend. Die Neuschreibung vergreift sich am deutschen Wortschatz. Wenn „sitzenbleiben“ oder „sitzenlassen“ nur noch getrennt geschrieben werden dürfen, werden diese Wörter mit ihren Ausdrucksmöglichkeiten aus unserer Sprache eliminiert. Klaus Heller, Mitglied der Regelkommission und zugleich Autor bei Klett und Bertelsmann, schreibt dazu: „Eine Differenzierung der Schreibung nach inhaltlichen Kriterien wird zugunsten der Getrenntschreibung ... aufgegeben.“ Ist Orthographie wichtiger als Stil? Seine Behauptung, daß „alle diese Fälle“, aus dem Textzusammenhang ... eindeutig zu verstehen“ sind, stimmt nicht. Was bedeutet es z.B., wenn jemand eine Frau sitzen läßt? Auch Adjektive wie allgemeinbildend, frischgebacken, naheliegend, nichtssagend, wohlgemeint usw. soll es in Zukunft nicht mehr geben. Das ist eine Verarmung.
4. Die Neuschreibung schadet der deutschen Sprache im Ausland und wird die Zahl der Schüler, die Deutsch lernen, verringern. Wenn heute ein junger Franzose die Wahl hat, ob er Deutsch oder Spanisch lernen soll, entscheidet er sich – wegen der notwendigen Neuanschaffung der Bücher und der Verwirrung der Schreibung – vielleicht lieber doch gegen das Deutsche. Und einer, der vor zwei Jahren begonnen hat, ärgert sich wie sein Lehrer, daß er jetzt manches mühsam Erlernte wieder umlernen muß. Auch zwingt die Neuregelung des Zusammen- und Auseinanderschreibens zu ungenauer Aussprache: „Kannst du den Fehler bitte richtig stellen?“ „Wir wollen dies fest halten.“ „Das ist ein frisch gebackenes Ehepaar.“ „Könntest du bitte morgen da sein?“ Wie soll der Lehrer erklären, daß man hier zwar zusammen spricht, aber getrennt schreibt? Weil es eine Kommission so bestimmt hat?
5. Die Neuschreibung benachteiligt die sozial Schwachen. Wo in Zukunft mehrere Schreibungen möglich sein sollen, gibt es oft eine, die die Unbildung des Schreibenden offenbart: Wer, was man jetzt „darf“, Ketschup (warum nicht gleich „Kettschapp“?) schreibt, „hi-nauf“, „ei-nander“, „vol-lenden“ oder gar – nach Bertelsmann – „Konst-ruktion“ trennt, kann sich nur blamieren. Und wenn einer – von den Vorschriften verführt – an ungünstiger Stelle aufs Komma verzichtet? „Sie kam ohne ihren Hund nach Hause gebracht zu haben zu ihrem Freund.“ Wo ist hier der Fortschritt?
6. Die Folgen für uns und unsere Kinder: jahrelange Verwirrung und Verärgerung. Abgesehen davon, daß es schon jetzt zwischen Bertelsmann („weit blickend“ und „wohl tuend“) und dem Duden (auch „weitblickend“, und nur „wohltuend“) zahlreiche Zweifelsfälle gibt, sollen unsere Kinder und wir uns jahrelang zu einer verwirrenden Neuschreibung zwingen, damit unsere Enkel es angeblich einfacher haben? Die Schüler sollen jetzt z.T. das genaue Gegenteil von dem lernen, was bisher richtig war. Und sie werden, wie wir alle, ein ganzes Leben lang in den allermeisten Büchern immer wieder auf die bisherige Schreibung stoßen. Aber wollen wir denn bei der Lektüre von Büchern immer wieder an der Rechtschreibung Anstoß nehmen müssen? Viele von uns sagen, sie würden sich einfach nicht an die „Reform“ halten. Doch wem nützt dieser Rückzug ins Private? b.w.
7. Die Neuschreibung ist häßlich. Ob „Basssänger“, Schiff-Fahrt“, „genusssüchtig“, oder Kaffeeersatz“ (Duden, Regel 24): Solche Schreibungen wirken in einem Text wie Pickel im Gesicht.
8. Die Folgen für die deutsche Literatur sind katastrophal. Wenn durch solche Häßlichkeiten und durch das ständige Stolpern über unsinnige Neuschreibungen (die „Laub tragenden Bäume hier zu Lande“), das Lesevergnügen schwindet, schadet das der Literatur. Auch werden, wenn alle Bücher nach und nach neu gesetzt werden, die Bücher teurer und weniger gekauft. Eine schöne Folge einer überflüssigen Reform! Schließlich wird manches durch die Neuschreibung unverständlich. Wie soll man z.B. den ersten Satz von Kafkas „Strafkolonie“ verstehen, wenn das vorletzte Wort auseinandergeschrieben werden muß? „’Es ist ein eigentümlicher Apparat,’ sagte der Offizier zu dem Forschungsreisenden und überblickte mit einem gewissermaßen bewundernden Blick den ihm doch wohl bekannten Apparat.“ Kafka schreibt und meint aber „wohlbekannt“! Und das ist etwas ganz anderes.
9. Die Neuschreibung ist eine vierfache Zwangsmaßnahme: Wenn man in Zukunft schreiben muß, was bisher ganz falsch war (z.B. „platzieren“), fühlt man sich betrogen oder vergewaltigt. Wenn man nur noch „Hilfe suchend“, aber nicht mehr „hilfesuchend“ schreiben darf, ist man in seiner Sprache eingeengt. Und schließlich werden die Schüler gequält. Diejenigen, die „Elemente der alten Schreibung“ verwenden, „müssen ... damit rechnen können, daß ihre ‚Regelverstöße’ sehr tolerant behandelt werden – umgekehrt wird jeder (!) derartige ‚Verstoß’ markiert werden müssen (!), um die Lernenden nach und nach an die neue Schreibung zu gewöhnen.“ (Informationen zur neuen deutschen Rechtschreibung, Mannheim 1994, S. 47) So sollen die Lehrer ihrerseits dazu gezwungen werden, ihren Schülern so lange auf die Finger zu hauen, bis sie die Neuschreibung kapiert haben. Z.B. statt Centre Court: Centrecourt oder Centre-Court, statt Comeback besser Come-back, statt Common sense: Commonsense oder Common Sense, statt: Corned beef: Cornedbeef oder Corned Beef, statt Countdown besser: Count-down! Man soll also die bisher dem Englischen entsprechenden Schreibungen, weil es eine Kommission so dekretiert hat, über Bord werfen (und dann im Englischunterricht wieder richtig schreiben)! Das ist eine Orwellsche (ab sofort: „orwellsche“) Vision, ein „Neuschrieb“, der allen aufgezwungen wird.
10. Die Neuschreibung ist ein Milliardengeschäft, das wir bezahlen sollen. Warum also die Rechtschreibreform, wenn sie fast keine Verbesserungen, zahlreiche Verschlechterungen, jahrelange Verwirrung und sehr viel Ärger zur Folge hat? Positiv ist die Reform eigentlich nur für die, die an ihr verdienen: Druckereien, Lexikon- und Schulbuchverlage, Software-Hersteller. Sie werden Millionen und Abermillionen umsetzen (die „Zeit“ rechnet allein für Rechtschreiblexika mit fast einer Milliarde, die Umstellung der Schulbücher soll 300 Millionen kosten). Büßen werden die belletristischen und die Kinderbuch-Verlage und vermutlich die meisten kleineren Verlage, am Ende aber wohl auch die Buchhändler (schwieriger Verkauf mancher Bücher in der alten Schreibung, womöglich geringere Rabatte und verärgerte Kunden). Bezahlen aber sollen wir alle: als Steuerzahler, als Eltern, als Leser. Und wer bezahlt die Abermillionen Stunden, die wir mit der Einführung und Einübung dieses Unsinns vergeuden?
Kommt unser Protest zu spät? Ist „der Zug schon abgefahren“? Keineswegs. Die Neuregelung ist noch nicht in Kraft getreten, das soll am 1. August 1998 geschehen, muß aber nicht. Im übrigen sind wir nicht Zaungäste am Bahnsteig, sondern Passagiere im anfahrenden Zug und merken, daß er in die ganz falsche Richtung fährt. Wollen wir in diesem Zug bleiben?
Angesichts der wirtschaftlichen Lage darf eine „Reform“, die in fast allen Punkten überflüssig ist, in vielem sogar eine Verschlechterung bedeutet und – abgesehen von der besonders überflüssigen ss-Regelung – nur etwa 0,05 Prozent eines Textes betrifft, auf keinen Fall dazu führen, daß Millionen von Büchern neu gedruckt (und zugleich alte makuliert und „entsorgt“) werden müssen.
Wir fordern die verantwortlichen Politiker auf, diese „Reform“, deren Einführung Millionen von Arbeitsstunden vergeuden, jahrzehntelange Verwirrung stiften, dem Ansehen der deutschen Sprache im In- und im Ausland schaden und mehr als eine Milliarde kosten würde, zu stoppen!
Bitte geben sie das Flugblatt Ihren Bekannten, Freunden und Kollegen weiter!
Unterschreiben Sie auf einer der Listen, die an einigen Ständen der Buchmesse aufliegen!
Kommen Sie zu der Pressekonferenz am Donnerstag, 15 Uhr, Raum Allianz (Halle 4 C)
und am Sonntag, 13.30 Uhr, Saal Europa (Halle 4.0)!
Frankfurt am Main, den 1. Oktober 1996
Friedrich Denk, Deutschlehrer, Weilheim i.OB, Thomas Jaworek, Diplomchemiker, Main;
Thomas Rücker, Grafik-Designer, München; Thomas Schröer, Deutschleher, Weilheim i.OB
Presserechtlich verantwortlich: Friedrich Denk, Kaltenmoserstr. 34, 82362 Weilheim
– geändert durch Norbert Schäbler am 17.02.2002, 11.38 –
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