Kommentar von H. Jochems
Außerordentlich hilfreiche erhellende rationale Einsichten
Psycholinguistische Aspekte des 3. Kommissionsberichts
Im Vordergrund der Auseinandersetzung mit der Rechtschreibreform stehen verständlicherweise die Kritik an der unseren demokratischen Grundsätzen hohnsprechenden politischen Durchsetzung des neuen Regelwerks und der geduldige Nachweis, daß die meisten Änderungen vom sprachwissenschaftlichen und sprachgeschichtlichen Standpunkt her gesehen verfehlt sind. Weniger Beachtung hat bisher die Frage gefunden, wie die Rechtschreibreform psycholinguistisch zu beurteilen ist. Der 3. Bericht der Zwischenstaatlichen Kommission für deutsche Rechtschreibung [zitiert als 3KB] gewährt nun interessante Einblicke in die Gedankenwelt der Rechtschreibreformer, weist aber auch auf Lernprozesse hin, die in diesem Kreis seit 1996 stattgefunden haben. Das Grundsätzliche hätten sie freilich schon lange wissen können. Am 4. Mai 1993 erklärte nämlich Peter Eisenberg in der Bonner „Anhörung“ namens der Deutschen Gesellschaft für Sprachwissenschaft folgendes:
Die Schreibung des Deutschen ist das Ergebnis einer jahrhundertelangen Entwicklung, die im wesentlichen durch den Sprachgebrauch bestimmt wurde. Der Einfluß von Grammatikern, Literaten und Sprachpflegern wird bis heute meist überschätzt. Das Ergebnis der Entwicklung ist ein graphematisches System, das Bestandteil der deutschen Sprache ist. Der Sprachwissenschaft kommt die Aufgabe zu, dieses System zu erforschen und zu beschreiben, genau so, wie sie etwa das phonologische und das syntaktische System beschreibt. Die Systematik einer Sprache, die Menge der Regularitäten des Systems, liegt dem Sprachgebrauch der Sprecherinnen und Sprecher zugrunde. Sie bilden ihr Sprachwissen. Dieses Wissen bleibt im allgemeinen unbewußt, steht aber nach abgeschlossenem Spracherwerb für den Sprachgebrauch zur Verfügung. Es ist zu unterscheiden zwischen Regeln und Regularitäten. Die Regularitäten des Deutschen sind zu erforschen und zu beschreiben. Sie sind Teil der Sprache und können nicht Gegenstand einer amtlichen Regelung sein. (Zabel, Keine Wüteriche, S. 152f.)
Diese „Regularitäten“ sind vielmehr Gegenstand der „inneren Regelbildung“ (vgl. 3KB, S. 77). Umgangssprachlich ist zumeist von „Sprachgefühl“ (so auch 3KB, S. 57, 60, 66) oder von „Intuition“ die Rede (3KB, S. 65). Die sprachwissenschaftliche oder sprachdidaktische Beschreibung einer im Sprachgebrauch vorgefundenen „Regularität“ heißt „Regel“. Fremdsprachliche Schulgrammatiken bestehen zum Beispiel aus authentischen „Beispielen“ und daraus hergeleiteten „Regeln“, die den aktuellen Sprachgebrauch beschreiben. Ihrer Entstehung nach sind solche Regeln also deskriptiv, in ihrer Wirkung freilich zugleich präskriptiv, denn die Lernenden sollen beim Erwerb der fremden Sprache ja durch Einsicht und Einübung eine „Kompetenz“ entwickeln, die sich immer mehr dem Sprachvermögen der muttersprachlichen Sprachbenutzer nähert. Beim Erwerb der eigenen Sprache ist die Bewußtmachung der Regularitäten in Form von „Regeln“ eher die Ausnahme, nötig ist sie jedenfalls nicht (so auch 3KB, S. 57). Was würde ein gebildeter Deutscher wohl antworten, wenn ein Ausländer ihn fragt: „Wie bildet man im Deutschen den Plural der Substantive?“
Im 3. Kommissionsbericht finden sich vor allem im Kapitel A 13 „Umschulungen Kurse zur neuen Rechtschreibung“ Äußerungen, die einen Einblick in die psycholinguistischen Ansichten der Rechtschreibreformer gestatten. Hauptinformantin der Kommission war Lisa Walgenbach, „Sprachwissenschaftlerin und Spezialistin für Seminare zur neuen deutschen Rechtschreibung“. Ihre Ausgangsposition lautete vor zwei Jahren pauschal:
Die Reform ist ein Reförmchen. Zudem greift sie weder in das gewachsene Schriftbild der deutschen Sprache ein, noch beeinträchtigt sie die Lesbarkeit der Texte. Ihre Urheber verfolgen vielmehr die Absicht, die Grundregeln der deutschen Rechtschreibung zu verstärken, die Zahl der Ausnahmen zu reduzieren, Widersprüchliches zu beseitigen und das Regelwerk systematischer und damit verständlicher zu gestalten. (Rheinischer Merkur, 7.1.2000)
Doch auch eine Sprachwissenschaftlerin als Kursleiterin ist offenbar vor Überraschungen nicht gefeit:
Bei der Besprechung der Änderungen stellt sich zur Verblüffung vieler Kursleiterinnen und -leiter heraus, dass die Kenntnis der alten Rechtschreibung im Großen und Ganzen nicht auf einer Kenntnis der Regeln beruht. Die allermeisten beherrschen die (alte) Rechtschreibung gut, können die einzelnen Schreibungen aber nicht begründen. Das Sprachgefühl steuert die Kommasetzung, die Getrennt- und Zusammenschreibung, die Groß- und Kleinschreibung und auch die Laut-Buchstaben-Zuordnung. [...] Die meisten Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer, obwohl zu einem ganz großen Teil Akademiker, verfügen nicht über dieses [grammatische] Wissen! Das erstaunt die Linguistik nicht, denn bewusste Grammatikkenntnisse sind weder eine hinreichende noch eine notwendige Voraussetzung für sprachlich erfolgreiches Handeln und sie waren es bisher auch nicht bei der Anwendung der alten Rechtschreibung. (3KB, S. 57f.)
Man beachte den feinen Unterschied: Kursleiterinnen und -leiter erfahren hier etwas, was sie eigentlich immer hätten wissen müssen; für die Berichterstatter der Reformkommission ist dies natürlich nicht neu, ja sie lassen sogar durchblicken, daß sie auf Grund dieser Sachlage Akzeptanzschwierigkeiten für ihr Regelwerk durchaus erwartet hatten nur eben die Kursleiterinnen und -leiter nicht:
Das der Linguistik bekannte Phänomen der Differenz von Know-how und Know-that hat nun ganz entscheidenden Einfluss auf das Erlernen und die Akzeptanz der neuen Rechtschreibung, denn diese neue Rechtschreibung präsentiert sich in der Form eines Regelwerks, also ausformulierter Regeln und einer bestimmten Begrifflichkeit und Terminologie. Aber gerade diese Präsentation ist nicht die Art, wie man die alte Rechtschreibung beherrscht hat und wie man nach einer Übergangszeit auch die neue Rechtschreibung beherrschen wird. Aus dieser Differenz [von Rechtschreibgefühl und Rechtschreibregeln] folgt die immer wieder gemachte Beobachtung, dass die Teilnehmerinnen und Teilnehmer zunächst einmal viele Neuregelungen emotional ablehnen. [...] Wenn bei der Neuregelung pädagogischer Hilfestellung wegen und aus sachlogischer Einsicht mit einer „gezielten Variantenführung“ gearbeitet wird, so ist das notwendigerweise vollkommen kontraintuitiv zur Sprachhaltung des normalen Sprachteilhabers. (3KB, S. 58)
Hier zeigt sich nun, daß die Berichterstatter der Zwischenstaatlichen Kommission die psycholinguistischen Grundlagen der Rechtschreibung entweder nur unvollkommen begriffen haben, oder aber zur Täuschung fachlich nicht versierter Leser die Verhältnisse verschleiert darstellen. „Know-how und Know-that“, Können und Wissen, sind zwei Seiten ein und derselben Sache, nämlich der Sprachkompetenz (einschließlich der Schreibkompetenz) solcher Sprachbenutzer, deren Sprachentwicklung abgeschlossen ist. Die anstößigen Regeln der „neuen Rechtschreibung“ sind aber eben nicht wie bisher deskriptiv und zugleich präskriptiv, also mit einer empirischen Grundlage in der Sprachwirklichkeit, sondern rein präskriptive Festlegungen („Bestimmungen“, 3KB, S. 10) einer staatlichen Rechtschreibkommission. Diese ist freilich realistisch genug, die „Dynamik sprachlicher Prozesse“ (3KB, S. 108) außerhalb der Normierungsbehörde nicht zu übersehen:
Die Neuregelung lässt an manchen Stellen Varianten zu, z. B. bei der Fremdwortschreibung, bei der Kommasetzung. Dies geschieht einmal in der pädagogischen Absicht, den Umgewöhnungsprozess zu erleichtern, vor allem aber aus der linguistischen Erkenntnis, dass Sprachwandel ein Wesensmerkmal einer jeden Sprache ist. Dieser Wandel impliziert, dass es immer Varianten in der Sprachverwendung gibt. Das ist trotz Normierung und amtlicher Verordnung auch in der Rechtschreibung so. (3KB, S. 58)
So wie Peter Eisenberg es seinen Kollegen (eine Kollegin war damals nicht dabei) „auseinander gelegt“ hat, verhält es sich auch nach dem Eingeständnis der Reformer: Die Sprache entwickelt sich weiter. Ob aber eine neue Schreibung ins Wörterbuch und in das Rechtschreibprogramm des Computers kommt, darüber entscheidet bis in alle Ewigkeit die Zwischenstaatliche Kommission. Geht ihr Realismus auch so weit, Schreibentwicklungen vorherzusehen, die sich ganz und gar nicht auch nicht mit den kühnsten Interpretationstricks in das Korsett des künstlich kreierten neuen Regelwerks pressen lassen? Daß der unverordnete Schreibbrauch der Vergangenheit heute schon die Reform in Schwierigkeiten bringt, erkennt der Bericht offen an:
Noch immer sind innerhalb und (zumal) außerhalb der Schule Texte in alter Rechtschreibung weit verbreitet. Hier liegt da normgetreues Schreiben nicht nur durch Regelvermittlung erlernt, sondern auch durch Einprägen von Wortbildern erreicht wird zweifellos ein Hindernis. (3KB, S. 8)
„Zweifellos“ ist die Reihenfolge hier falsch: Rechtschreibung lernt man unter unmanipulierten Bedingungen aus Texten, d. h. aus „Wortbildern“, auf die sich die Bewußtmachung und die gelegentliche Regelformulierung beziehen. Die Crux mit der Neuregelung ist, daß sie Texte in Gestalt der in „jahrhundertelanger Entwicklung“ entstandenen Rechtschreibung nicht aus der Welt schaffen kann, ihre eigenen künstlichen Kreationen sich also in einer außerordentlich ungünstigen Konkurrenzsituation befinden. Auch hier sollte der Fremdsprachenunterricht zu denken geben: Systematische Rechtschreibunterweisung findet dort praktisch nicht statt, wenn man im Englischen von solch peripheren Erläuterungen wie „prefer wird im Past Tense zu preferred“ absieht. Dagegen wird jedes neue Wort in Aussprache und Schreibung sorgfältig vorgestellt und eingeübt. Es geht eben darum, das Übliche zu vermitteln. Wie konnten deutschsprachige (und überwiegend ausschließlich deutschsprachige) Linguisten nur auf den Gedanken verfallen, daß hinter den üblichen deutschen Schreibungen „Einzelfallfestlegungen“ stehen, die man nach Belieben veränderten Regeln „unterwerfen“ kann?
Die Neuregelung ist mit dem ausdrücklichen Programm angetreten, Einzelfallfestlegungen zu minimieren und sie allgemeineren Regeln zu unterwerfen. Sie musste dabei in Kauf nehmen, dass es zu Neuschreibungen kam, die einer langen Gewohnheit entgegenstanden. Das hat Anstoß erregt. (3KB, S. 12)
Noch einmal: wenn die staatliche Rechtschreibanleitung zu „Neuschreibungen“ führt, die einer „langen Gewohnheit“ entgegenstehen, kann es sich nicht um deskriptive Regeln handeln. Nun kann man sich aber vorstellen, daß das Problem einiger der bisherigen deskriptiven Regelformulierungen darin bestand, daß sie unangemessen oder falsch die Schreibwirklichkeit widerspiegelten. Diesen Mangel hätte man abstellen können, natürlich immer im Hinblick auf die tatsächlichen sprachlichen Bedingungen, die für die einzelnen Schreibungen maßgeblich sind. Im Teil B des 3. Berichts wird jetzt auf außerordentlich komplizierte Weise vorgeführt, wie man die durch die Neuregelung ausgelösten Falschschreibungen bei den „Verbindungen mit Partizipien“ wieder aus der Welt schaffen möchte, wie man also von „neuen“ zu „ganz neuen“ (nämlich den „alten“) Schreibungen gelangt. Dabei bleiben freilich besonders „Anstoß erregende“ Schreibungen wie „Laub tragende Bäume“ oder „die Eisen verarbeitende Industrie“ weiterhin unberücksichtigt. Im Großen Duden (16. Aufl., Leipzig 1967) liest man für diesen Fall folgende Regel:
Man schreibt zusammen, wenn die Fügung eine die Gattung kennzeichnende Eigenschaft, besonders eine Dauereigenschaft darstellt. (S. 604)
Meisterlich drückt Horst Klien hier aus, daß er eine deskriptive und zugleich präskriptive Regel vorführt: Man schreibt zusammen. Dies tut „man“, um seinem Leser eine Nachricht zukommen zu lassen: Im Unterschied zur Getrenntschreibung geht es um eine „Gattungseigenschaft“, „Dauereigenschaft“. Diese Kennzeichnung ist deskriptiv richtig, aber sie ist in ihrer Knappheit zu kompliziert. Sprachenkenner bemerken, daß es hier um eine Erscheinung geht, die im Hinblick auf den Verbgebrauch „Aspekt“ genannt wird: Soll sich die Aussage nur auf den vorliegenden Fall beziehen, oder soll sie allgemein gelten? Bekanntlich alternieren im Englischen deshalb in finiten Verbformen „Progressive Forms“ und „Simple Forms“. Ein Beispiel:
Am Dorfeingang trafen wir auf eine Gruppe Fußball spielender Jungen. [boys who were playing football] Fußballspielende Jungen sind nicht unbedingt gute Langstreckenläufer. [boys who play football]
„Jetzt gerade“ vs. „immer so“ ist also zu unterscheiden. In der Schreibpraxis kommen Sätze wie der erste sehr selten vor. Für solche zusammengesetzten Partizipien bedarf es also überhaupt keiner besonderen Regel gegenüber dem vorherrschenden Befund: Zusammengesetzte Partizipien schreibt man zusammen. Die Neuregelung leitet die Schreibenden dagegen an, auf Grund einer umständlichen Rückbildungsprobe die „kontraintuitive“ (vgl. 3KB, S. 58) nämlich falsche Schreibung zu wählen.
Zurück zu den Umschulungskursen! Den Lesern wird aufgefallen sein, wie häufig die Berichterstatter der Zwischenstaatlichen Kommission in ihren Darlegungen über die dortigen Schwierigkeiten das Wort „emotional“ verwenden. Noch ein Zitat:
Das neue Erscheinungsbild entspricht nicht dem Gewohnten; und da das Gewohnte nicht durch bewusste Regeln gerechtfertigt werden kann, ist das Rechtschreibgefühl emotional bestimmt. (3KB, S. 57)
Dieser Satz ist nicht nur psycholinguistisch unsinnig. Er müßte schon wegen der Tautologie in seinem letzten Teil überraschen, wenn er nicht an die seit Jahrzehnten durchgehaltene Sprachregelung des kleinen Reformerkreises erinnerte: Jede Kritik an ihren Vorschlägen ist „emotional“. Die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer dürfen sich noch glücklich schätzen, wenn sie nur ganz schlicht „emotional“ sind. Für Kritiker wie Theodor Ickler fährt die Kommission wesentlich schwereres Geschütz auf:
Auffällig ist, dass manche Reformgegner, auch wenn ihr Beruf die Wissenschaft ist, äußerst emotional und teilweise im höchsten Maße verunglimpfend arbeiten. (3KB, S. 110)
Im Vergleich mit diesem Vorwurf ist die Presseschelte Gerhard Augsts aus dem Jahre 1989 geradezu urban:
Auch hier sei der Wunsch der Kommission nach Diskussion wiederholt; nur: argumentativ sollten die Beiträge sein. Was bisher in den öffentlichen Medien von der Bildzeitung bis zur Frankfurter Allgemeinen gelaufen ist, hat meist mit Ratio wenig, aber viel mit Emotion zu tun. („Zur orthografischen Integration des englischen Geminatenwechsels“, Postskriptum)
Ende gut, alles gut. Wenn man der Zwischenstaatlichen Kommission und ihrer Informantin Lisa Walgenbach glauben darf, gelingt inzwischen den Kursteilnehmerinnen und -teilnehmern der beschwerliche Weg von der Emotion zur Ratio ohne Schwierigkeiten:
Alle Kursleiterinnen und -leiter berichten, dass am Ende des jeweiligen Kurses die Stimmungslage vollkommen anders ist als am Anfang: Die Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer stufen den Umfang der Neuregelung als klein und überschaubar ein; ihnen erscheinen die neuen Regelungen in den meisten Fällen einleuchtend und anwendbar, ihre Kritik richtet sich vor allem auf die Varianten; sie haben vielfach erhellende rationale Einsichten in das Funktionieren der Rechtschreibung generell gewonnen, was viele als außerordentlich hilfreich begrüßen. (3KB, S. 60)
Schade nur, daß die „erhellenden rationalen Einsichten“ vor der Sprachwirklichkeit nicht standhalten. Aber als professionelle Schreiberinnen und Schreiber werden die bekehrten Kursteilnehmerinnen und -teilnehmer ohnehin mehr dem Rechtschreibkonverter des Computers als ihren neuen Einsichten trauen, und Konverter lassen sich von einem Tag auf den anderen umstellen. Da werden es am Ende die Schülerinnen und Schüler schwerer haben, was jedoch durch eine „erhellende rationale Einsicht“ wettgemacht wird: Wer sich auf Experten deutscher Kultusminister verläßt, der ist verlassen.
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