Mal so'n Versuch
An die private E-Mail-Adresse von Frau Schavan geschickt:
Sehr geehrte Frau Ministerin,
dürften Sie verfügen, daß an den Schulen des Landes Baden-Württemberg zukünftig
zu lehren sei, 2 + 3 = 6?
Das ist eine richtig dumme Frage, nicht wahr? Warum sollten Sie etwas verfügen wollen, was offenkundiger Unsinn (und als solcher noch dazu leicht zu erkennen) wäre? Sie würden das natürlich nie verfügen wollen. Das ist mir klar, aber
DÜRFTEN Sie es rein rechtlich doch?
Wahrscheinlich dürften Sie es! (Und damit wird die dumme Frage doch ein bißchen spannend, finde ich.) Sie dürften es wahrscheinlich nicht allein; Sie müßten ziemlich sicher eine Zustimmung zu diesem Plan in der Kultusministerkonferenz erzielt haben (und noch einiges andere) – aber dann dürften Sie: Kultusminister dürfen verfügen, daß in zentralen Unterrichtsfächern für jeden klar erkennbare Fehler gelehrt werden! Sie können die Lehrer sogar gegen deren Willen dazu zwingen, diese Fehler zu lehren!
Das ist – ich gebe Ihnen recht – eigentlich unfaßbar, aber es ist Realität. Und Sie selbst sind mit dafür verantwortlich, daß es Realität ist. Ich wundere
mich, wie Sie das schaffen: Einerseits treten Sie mit Nachdruck dafür ein, daß die Qualität der schulischen Ausbildung erhalten und verbessert werden soll und
dann so etwas! Wie können Sie es mit Ihrem Gewissen vereinbaren, so frage ich mich in großer Ernsthaftigkeit, daß den baden-württembergischen Kindern die Chance genommen wird, ihre Muttersprache richtig zu lernen?
Sie wissen inzwischen wahrscheinlich schon längst, was ich meine, und haben innerlich auf Abwehr umgeschaltet: Ich, eine besonders erfolgreiche Ministerin, werde ungerechtfertigt und unsachlich angegriffen; dagegen muß ich mich zur Wehr setzen. Nein, weder ungerechtfertigt noch unsachlich: Die Rechtschreibreform, die Sie (mit den anderen Kultusministern) verantworten und deren Durchsetzung an den Schulen Sie erzwingen, ist so offenkundig fehlerhaft, wie 2 + 3 nicht 6 ergibt. Das wird doch auch gar nicht mehr ernsthaft bestritten! Ich will nur ein einziges Beispiel anführen: Die Ministerin hat völlig Recht! Jeder merkt, daß das völlig falsch ist! Wäre es richtig, so müßte man auch sagen dürfen: Die Ministerin hat völlig Arbeit!
Mit der Rechtschreibreform sind die Kultusminister Leuten aufgesessen, die der langjährige Leiter der Dudenredaktion, Dr. Günther Drosdowski, folgendermaßen
charakterisiert hat: Einige Reformer hatten von der Verschriftung der Sprache und der Funktion der Rechtschreibung für die Sprachgemeinschaft keine Ahnung,
von der Grammatik, ohne die es bei Regelungen der Orthographie nun einmal nicht geht, sowieso nicht. Sie mißbrauchten die Reform schamlos, um sich Ansehen im
Fach und in der Öffentlichkeit zu verschaffen, Eitelkeiten zu befriedigen und mit orthographischen Publikationen Geld zu verdienen. Selten habe ich erlebt, daß Menschen sich so ungeniert ausziehen und ihre fachlichen und
charakterlichen Defizite zur Schau stellen. Es ist schon ein Trauerspiel, daß die Sprachgemeinschaft jetzt ausbaden muß, was sich Zabel, Schaeder, Heller und andere ausgedacht haben.1
Es ist lange an der Zeit, dem ein Ende zu setzen. Es kann doch nicht andauernd so weitergehen, daß Kindern der Zugang zum richtigen Erlernen ihrer Muttersprache an den Schulen systematisch verwehrt wird. (Mein oben angeführtes Beispiel war nur EIN Beispiel! Mit den Fehlern und Mängeln der
Rechtschreibreform lassen sich problemlos ganze Bücher füllen!) Die Kultusminister haben einen schweren Fehler begangen, aber er wird doch nicht dadurch besser, daß sie versuchen, ihn auszusitzen. Die Schäden werden nur
immer größer (und langsam irreparabel, wie ich fürchte). Wenn alle unsere bedeutenden Schriftsteller (und fast alle Fachwissenschaftler – sofern sie nicht direkt oder indirekt in die Reform involviert sind), diese Reform ablehnen, kann man dann immer so weiter als Parole ausgeben? (Nebenbei: Kann eine Rechtschreibreform, die so schwer zu erlernen ist, daß eine Kultusministerin sie auch sechs Jahre nach Ihrer Einführung nicht richtig beherrscht – wie Ihr Schreiben an die Märkische Allgemeine am 8. August
belegt – für die Schüler wirklich einen Nutzen bedeuten?)
Ich vermute, daß Sie dieses Schreiben gar nicht zu Gesicht bekommen. Dennoch habe ich es geschrieben – vielleicht bleibt es ja doch nicht ohne alle Wirkung.
Mit freundlichen Grüßen
1 In einem Brief an Professor Ickler vom 10.11. 1996, den dieser inzwischen veröffentlicht hat
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Dr. Wolfgang Scheuermann
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