Vage Begriffe
Im Vorwort zu „Deutsche Rechtschreibung, Regeln und Wörterverzeichnis“ wird unter 2.1 festgestellt, daß die Zuordnung von Lauten und Buchstaben sich an der deutschen Standardaussprache orientiere. Das habe den Vorteil, daß ein Wort immer in derselben Weise geschrieben werde, obwohl es regionale Varianten in der Aussprache geben kann. Schließlich: „Wer schreiben lernt, muss daher manchmal auch die Standardaussprache kennen lernen.“
Aus meiner Schulzeit ist mir gut erinnerlich, daß die „regionalen Varianten“ oft für Heiterkeit
sorgten. Ein Gedicht von Mörike hört sich nun mal recht komisch an, wenn es mit sächsischem, kölnischem oder hessischem Tonfall vorgetragen wird. In der Rechtschreibung aber verursachten die Varianten keine auffälligen Schwierigkeiten. Wir Rheinländer wußten, daß
wir mit den Berlinern die „jut jebratene Jans gemein hatten, dachten aber kaum daran, diese und ähnliche Wörter im Aufsatz oder im Diktat mit dem Anfangsbuchstaben „j“ zu schreiben.
Ein hessischer Klassenkamerad wurde häufig veräppelt, weil er den „weißen Mann“ wie den „weisen Mann“ aussprach, aber er wußte sehr wohl, wo ein „s“ und wo ein „ß“ hingehört!
So wundert es mich auf den ersten Blick, daß die „Amtliche Regelung“ einer der von der Hochlautung abweichenden Sprachvarianten besondere Aufmerksamkeit widmet. In § 13
heißt es unter E 2: „Für langen geschlossenen e-Laut und langen offenen e-Laut, die in der Aussprache oft nicht unterschieden werden, schreibt man ä, sofern es eine Grundform mit a gibt, zum Beispiel: quälen (wegen Qual). Wörter wie sägen, Ähre, Bär sind Ausnahmen. Hier tun sich gleich mehrere Fragen auf:
1.Warum wird von all den bekannten Aussprachevarianten nur eine einzige hervorgehoben, nämlich die besonders für die Waterkant und für Berlin typische Ignorierung des lautlichen Unterschieds zwischen e und ä ? Könnte man nicht mit demselben Recht feststellen, daß p oft wie b ausgesprochen wird, zum Beispiel im sächsischen „Baakblatz“?
2.Was ist eine „Grundform“? Wie weit darf oder muß ich den Stammbaum zurückverfolgen, bis ich auf eine verwandte Form mit a stoße? Muß meine zwölfjährige Nachbarin erkennen können, daß die „Fährte“ möglicherweise von „Fahrt“ oder „fahren“ abgeleitet ist?
3.Was verstehen die Reformer unter „Ausnahmen“? Gibt es von Wörtern wie sägen, Ähre, Bär wirklich nur eine Handvoll?
Zu Frage 1. glaube ich die Antwort zu kennen. Meine zwölfjährige Nachbarin spricht „Käse“ wie „Keese“ und „Säge“ wie „Seege“ aus, obwohl sie weder aus Berlin noch von der Waterkant zugewandert ist. Ähnliches (ehnliches) höre ich täglich (teeglich) von den meisten
der jüngeren Zeitgenossen, wobei Rundfunk- und Fernsehsprecher sich besonders hervortun.
Bei dieser Abweichung von der Hochlautung handelt es sich offenkundig nicht mehr um ein regional eingrenzbares Phänomen, sondern um eine Lautverschiebung, die sich langsam aber stetig im gesamten Sprachgebiet ausbreitet. Die Verfasser der „Amtlichen Regelung“ haben wohl erkannt, daß bei der Frage „e oder ä“ die Aussprache nicht mehr weiterhilft und glaubten deshalb, mit einer Regel aushelfen zu müssen.
Über die 2. Frage zerbreche ich mir vergeblich den Kopf. Was fange ich nur mit dem Begriff „Grundform“ an? Von welcher Grundform ist, bitteschön, das Wort „Käse“ abgeleitet? Ist es das lateinische „caseus“, das althochdeutsche „kasi“ oder gar das holländische „kaas“?
Zu Frage 3: Hier fühle ich mich von den Verfassern der Regel irgendwie veräppelt Innerhalb kurzer Zeit ist es mir gelungen, folgende Liste von Wörtern mit ä aufzustellen, zu denen eine Grundform mit a entweder nicht oder nur auf einem Umweg ausfindig gemacht werden kann:
ähnlich, allmählich, äsen, bäh, bähen, behäbig, bestätigen, blähen, bläken, erwägen, erwähnen, Fähe, fähig, Fläz, fläzen, fräsen, gähnen, gären, Gebärde, Gefährte, Gräte, Grätsche, Häher, Eichelhäher, Häme, hämisch, jäh, jähzornig, Käfer, Käfig, Käse, Krähe, krähen, Mädchen, Mähne, Mähre, Mär, Märchen, prägen, sämig, Schädel, schräg, Schwäre, spähen, spät, Strähne, träge, Trägheit, Träne,
verbrämen, während, zäh, Zähre
Dazu kommen noch geographische Namen wie Dänemark, Mähren u.ä. sowie zahlreiche Fremdwörter aus dem Griechischen und dem Lateinischen (Dämon, Pädagoge, Pietät,Majestät usw.).
Darf man eigentlich noch von „Ausnahmen“ sprechen, wenn es derart viele Abweichungen von einer Regel gibt? Und welchen Nutzen hat eine Regel überhaupt noch, wenn man auf
Schritt und Tritt über eine Ausnahme stolpert?
Die „reformierte“ Rechtschreibung rühmt sich, Willkür weitgehend durch Logik ersetzt zu haben. Logik aber setzt vor allem klare Begriffe voraus. Die Verwendung der Begriffe
„Grundform“ und „Ausnahme“ in der Amtlichen Regelung zeichnet sich nicht durch Klarheit, sondern durch Vagheit aus.
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Günter Schmickler
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