§ 36 Ich streiche lieber die Segel
Lieber Herr Wagner,
vielen Dank für die Beispiele und die scharfsinnig angewandte Interpretationskunst. Ich räume ohne zu zögern ein, daß mir früher als Ihnen die Puste ausgeht, wenn die Aufgabe lautet, § 36 auf den Wortschatz anzuwenden. Hat übrigens jemand die alten Duden-Kommas bei ohne zu zögern vermißt? Ein Beispiel dafür, daß es manchmal besser ist, auf sie zu verzichten; man beachte auch den Sinn ohne zu zögern, der durch die Komma-Unterbrechungen nicht gerade unterstützt werden würde. Weglassen ist laut Ickler-Wörterbuch möglich (= gelegentlich vorkommend) bei kurzen Infinitivsätzen.
Ist es nicht so, daß man sich bei dem Versuch, § 36 anzuwenden, früher oder später im Kreis dreht? Wie man es auch anstellt, immer muß man irgendwelche Prämissen unterstellen, gelangt dann doch irgendwo zu Widersprüchen und je nach gewähltem Weg im Labyrinth zu der Folgerung, daß einmal an dieser, einmal an anderer Stelle die Regel und/oder das Wörterverzeichnis nicht in Ordnung ist; mal bei einer Regelformulierung, mal bei einem Beispiel, mal bei einer Anmerkung im Wörterverzeichnis. Ihre letzten Beiträge illustrieren das, wie ich meine.
Das fängt doch schon damit an, daß es heißt: A, B, C, D, E können mit B oder F Zusammensetzungen bilden. Man schreibt sie zusammen. Dann erfährt man auch, (1) bis (6), was das für Fälle sein sollen. Aber dann heißt es: In den Fällen, die nicht durch (1) bis (6) geregelt sind, schreibt man getrennt. Das wären also Kombinationen, die keine Zusammensetzungen sind. Aber woher will man wissen, was dafür überhaupt in Frage kommt? Dazu braucht man wiederum die Ausführungen im Anschluß, also unter E1 obwohl die Anweisung In den anderen Fällen getrennt eigentlich genügen müßte und E1 damit überflüssig wäre. Andererseits kommen Sie nach einigem Überlegen sogar zu dem Schluß, daß E1 unvollständig sein soll ...
Oder die Beobachtung, daß unter (2) eine Reihe von Wörtern wie kleinmütig auftauchen, bei denen man eigentlich nicht davon ausgegangen wäre, daß es sich um Kombinationen von (in diesem Fall) Adjektiv + Adjektiv handelt. Kann ja auch nicht sein, denn wenn es den zweiten Bestandteil gar nicht selbständig als Wort gibt, kann er auch keiner Wortart angehören. Dennoch sollen das Beispiele für die Kombination Bestandteil + Adjektiv/Partizip sein. Ein glasklarer Widerspruch. Und wenn man nun diesen Widerspruch erkannt hat, soll man dann trotzdem gleich konstruierte Wörter wie großherzig ebenso zu diesem Paragraphen rechnen? Das müßte man, wenn man die Beispiele in (2) ernst nimmt. Daraus ergäbe sich Getrenntschreibung, weil (2) nicht zutrifft (es gibt sowohl groß" als auch herzig).
Nun widerspricht das aber dem elementaren Sprachgefühl: groß herzig getrennt, nur weil es beide Teile selbständig gibt? Also flüchtet man sich in die Frage, ob der ganze Paragraph vielleicht gar nicht dafür zuständig ist. (Natürlich habe ich mir das überlegt.) Und man meint, damit die richtige Zuflucht gefunden zu haben: Ist ja gar keine Kombination aus zwei Wörtern, also trifft der ganze Paragraph (Kombination aus zwei Wörtern) nicht zu. Ist ja auch keine Zusammensetzung, sondern das kommt von großes Herz und ist davon eine Ableitung.
Aber Moment, dann paßt ja wieder (1): steht für eine Wortgruppe großherzig = mit großem Herzen, oder wie? So gesehen, stünde aber auch hochwertig für eine Wortgruppe (= von hohem Wert), aber wir hatten doch festgestellt, daß die Regeln Getrenntschreibung erfordern?
Und so weiter. Lieber Herr Wagner, Sie kamen zuletzt zu dem Ergebnis, daß der Abschnitt E1 (Getrenntschreibung) unvollständig sei. Man könnte auch an anderer Stelle flickschustern und zum Beispiel (1) erweitern: zu steht für eine Wortgruppe noch etwas ergänzen wie oder ist aus einer Wortgruppe oder Zusammensetzung abgeleitet; dann hätte man großherzig eindeutig zusammengeschrieben wobei man dann noch die Priorität gegenüber (2) festhalten müßte ...
Und dann haben wir ja noch die Widersprüche im Zusammenspiel mit dem Wörterverzeichnis, höchstwahrscheinlich usw.
Also, ich bitte, mich aus dieser Diskussion zurückziehen zu dürfen. Professor Ickler hat sich ja schon hinreichend durch das Paragraphendickicht durchgeschlagen (Kritischer Kommentar zur Neuregelung). Ich finde, es muß erlaubt sein nach einigen vergeblichen Versuchen, § 36 und andere wortgetreu umzusetzen , den Schluß zu ziehen, daß das alles sinnloser Murks ist.
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