Ich halte es für einen ziemlich verfehlten Ansatz der Diskussion, die Beiträge daran zu messen, ob sie Icklers Wörterbuch in Frage stellen bzw. ob einer unterstellt, dies sei bei diesem oder jenem Beitrag der Fall. Diese Diskussion hatten wir tatsächlich schon einmal, sie entartete auf völlig absurde Weise und sollte sich wirklich erledigt haben. Andererseits kenne ich ähnliche Reaktionen auf kritische Meinungsäußerungen aus gut christlichen Kreisen, wo man nichts Schlimmeres tun kann, als gegen vermeintliche Kernaussagen der Heiligen Schrift sich skeptisch zu äußern. Bei genauerem Hinsehen sind die Kritiker heiliger Schriften in Wahrheit nicht selten näher an deren Verständnis als ihre leidenschaftlichen Exegeten und Verteidiger. Im konkreten Fall nehme ich dies für mich keineswegs in Anspruch, schließe es auch nicht aus, halte es aber erst recht nicht für ein unabdingbares Kriterium für das Mitredenkönnen bei unserem Thema.
Ja, eine Übergereiztheit läßt sich in den Reihen der Reformkritiker schon gelegentlich feststellen und daraus resultierend manche verfehlte und überflüssige Reaktion auch. Oder daß man plötzlich orthographische Sünden sieht, wo gar keine sind. Aber umgekehrt sollte man seinem gesunden Menschenverstand auch angesichts beeindruckender Statistiken nicht das Vertrauen versagen.
Statistische Ergebnisse, die wir hier immer wieder vorgeführt bekommen, bringen meines Erachtens nämlich die Gefahr mit sich, daß man in der Tat diesem gesunden Menschenverstand, oder besser: seinem im unbefangenen Umgang mit guter Literatur gewachsenen und insofern »natürlichen« Sprachempfinden mehr und mehr mißtraut, und, weil die Statistiken das hergeben, Schreibweisen auf einmal für möglich oder unbedenklich hält, die es einfach nicht sind.
So behaupte ich, wissenschaftlich nachweisen kann ich es natürlich nicht, daß nicht nur mir, sondern auch Herrn Ickler und vielen anderen in orthographischen Friedenszeiten, d.h. ohne jegliche Gereiztheit durch die Folgen der Reform, »braun gebrannt« in dem gegebenen Zusammenhang, also von Menschen auf einer Mittelmeerinsel erzählend, als orthographisch »falsch« aufgefallen wäre, nicht als »weniger gut«. Ich hätte nach kurzem Stocken unaufgeregt weitergelesen, denn solche Fehlleistungen hat es schon immer gegeben. Aber in diesem Fall ist diese Schreibweise nach meiner Überzeugung eine der zahllosen Folgen der von der Reform beeinflußten Marotte, die seltsamsten Sachen, die bislang völlig natürlich zusammengeschrieben wurden, plötzlich auseinanderzuschreiben. Und das gilt, dabei bleibe ich, rudere unbeirrt gegen alle Windmühlen und trotze heroisch allen Statistiken und Statistikern, auch für »bitteschön« in dem von mir zitierten Beispiel. Wobei mir das Spiel inzwischen schon auch etwas läppisch vorkommt; meinetwegen sollen bitteschön halt alle, die das wollen oder nicht besser wissen, »bitte schön« schreiben, es lacht heutzutage ja sowieso niemand mehr über solche Tolpatschigkeiten. Aber worüber reden wir dann überhaupt?
Für eine Schlußbetrachtung in dieser Angelegenheit dürfte es noch ein bißchen früh sein. Nach meiner Überzeugung müßte genau in diesem Bereich von Kritikern der Reform irgendwann mehr geboten werden als Mehrheitsverhältnisse. Ich will nicht falsch verstanden werden. Die Beschreibung des Sprachgebrauchs anhand von geeigneten Statistiken ist, das glaube ich gerne, sicherlich die einzig seriöse Methode in der Sprachwissenschaft, wenn es um die reine Darstellung der Orthographie geht. Daß diese Methode schließlich auf die persönlichen Entscheidungen des Autors oder der Autoren hinausläuft, insofern nur bedingt objektiv sein kann, wird immer eine Achillesferse sein, aber hier müßte sich eben das durchsetzen, was den Benutzern am meisten einleuchtet und angenommen wird, sagen wir einfach: das beste. Vorläufig gibt es eine solche Konkurrenz nicht, aber wenn es sie gäbe, würde sich leider nicht zwangläufig das beste durchsetzen, sondern das am effektivsten beworbene. Damit würde man leben müssen.
Es wird aber neben einem solchen rein deskriptiven, dokumentarischen Wörterbuch sicherlich eines geben müssen, das in Bereichen wie der GZS differenziert. Auch dies kann bzw. müßte sogar statistisch untermauert sein, denn die Statistiken geben doch nicht nur die Mehrheitsverhältnisse dieser oder jener Zusammen- oder Auseinanderschreibung vor, sondern ein Statistiker kann sich auch genauer ansehen, in welchem Bedeutungszusammenhang oder unter welchen sonstigen Konditionen die eine oder die andere Variante in der Praxis angewandt wird, und dies entsprechend auswerten. Da wird sich vermutlich zeigen, daß es tatsächlich Fälle gibt, wo das völlig austauschbar und beliebig ist, und andere, wo es Unterschiede gibt in der beabsichtigten Aussage, in der regionalen Praxis und möglicherweise gibt es noch andere Kriterien. Das ist natürlich ein sehr viel größeres Thema, und vorläufig sind wir ja froh, daß wir »unser« Wörterbuch so haben, wie es ist.
Meine Kenntnis von Wörterbüchern ist eher bescheiden, ich weiß aber, daß es solche umfänglichen Wörterbücher mit Anwendungsbeispielen gibt, die nicht erfunden, sondern aus hochwertiger Literatur zitiert werden. Das Problem dabei ahne ich: Welche Literatur ist da die richtige? Sicherlich nicht die allzuweit zurückliegender Jahrhunderte, obwohl man in der Erzählliteratur des 19. Jahrhundert gewiß noch lange fündig würde, ohne sich den Vorwurf der Altmodischkeit machen lassen zu müssen. Das ist eben auch wieder so eine Frage der persönlichen Entscheidung der Autoren. Wenn ich es richtig sehe, ist der alte Wahrig diesem Anspruch nicht übel gerecht geworden. (Jetzt erst habe ich Herrn Stirnemanns Rezension des Duden Bedeutungswörterbuches gelesen. Vermutlich wäre dies eine Entsprechung dessen, was ich meine.)
Schlußbetrachtung? Schlußworte wurden hier schon so viele gesprochen, lieber Herr Ickler, uns können Sie nicht hereinlegen!
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Walter Lachenmann
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