Kleine Fleißarbeit
Ickler: Sobald man etwas zurückgeht, nur ein paar Jahre, stößt man auf erstaunlich viele Getrenntschreibungen.
Schäbler: Der Textrezeption kommt im Schreiblernprozeß eine überragende Bedeutung zu, dient sie doch der Wortspeicherung, sozusagen der Anlage einer riesigen Auswahldatei, oder letztlich eines Wörterbuchs im Kopf.
Wie Norbert Schäbler wage ich mich aufs wissenschaftliche Glatteis und bringe diese beiden Gedanken so gut es geht auf die Reihe. Die Verfechter der deskriptiven Methode speisen ihre Erkenntnisse, was Orthographie sei, aus Datenbanken, hier wird regelmäßig auf Google verwiesen. Dies ergibt nach persönlichen Einschätzungen mehr oder weniger hingenommen die postulierte Praxis der »Schreibgemeinschaft«, also den Status quo quer durch die Gesellschaft, denn was alle oder die meisten tun, ist faktische Orthographie, der es zu folgen gilt, wenn man unbeanstandbare Orthographie liefern will oder die es zu dokumentieren gilt, sofern man ein Wörterbuch macht.
Norbert Schäbler spricht von der Datenbank oder dem Wörterbuch im Kopf des Einzelnen. Der »Rechtschreibbürger« wird beim Schreiben in der Regel weder Google noch Duden noch Ickler konsultieren, es sei denn, er hat es mit einem ihm ungewohnten Wort zu tun, sondern diese selbstangelegte Datenbank in seinem Kopf, und zwar tut er das natürlich unbewußt. Und solange er dieser Datenbank folgt, schreibt er in der Regel so gut wie immer richtig, es sei denn, es handelt sich um einen Wenigschreiber, der aber für Rechtschreibfragen so uninteressant ist wie der Wenigtrinker für die Weinkunde.
(Nebenbei: Viel lesen garantiert noch lange keine gute Beherrschung der Orthographie, das erlebe ich hier in nächster Nähe. Es hat vermutlich mit Veranlagung zu tun, wie man Wortbilder im Kopf abspeichert und ob man sie orthographisch »richtig« wiedergeben kann.)
Ich habe, da mein »gesunder Menschenverstand« völlig zu Recht als ungeeignetes Kriterium für Rechtschreibung in Frage gestellt wurde, ich aber wiederum Google für fragwürdig halte in dieser Sache, meinerseits dort gegoogelt, wo der Normalgebildete unserer Breiten seine orthographischen Erfahrungen und Datenspeicher vermutlich her hat, nämlich in der deutschen Literatur. Die dilettantische Herangehensweise ist mir bewußt, dennoch will ich meine Eindrücke hier wiedergeben. Ich habe einige Texte aus ca. 200 Jahren daraufhin, zugegebermaßen eher flüchtig, angeschaut, wie dort die Praxis der GZS gehandhabt wird.
Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit. Von Wolfgang von Goethe. Herausgegeben von Theodor Friedrich. Leipzig, Druck und Verlag von Philipp Reclam jun. O.J., handschr. Exlibris auf dem Vorsatz: 22.III.16
so oft die Truppen heranrückten / Man lief, sie vorbeipassieren zu sehen / daß sie nur in kleinen Partien durchmarschierten / seine wohlaufgeputzten ... Staatszimmer / sie baldigst kennen zu lernen / indem sie das Gefrorene weggoß / nur um den Grafen loszuwerden / ohne im Gedächtnis ein Besonderes wiederzufinden / über das Maß seiner Figuren hinauszugehen / Ich war nämlich mit allen Bildern wohl bekannt / kam mir die angeborne Gabe zu statten / noch jetzt zurückrufen / in einen Konzertsaal hineingezwängt / keine besonderen Abteilungen stattfanden / als sie einen Augenblick innehielt / immer dieselben geblieben sind / an immerwährender Zerstreuung / bei uns vorübergehn / daß man dem Herzog nicht entgegengehen ... werde / sie solle sich still halten / daß sie haltmachten / den gehofften Siegern entgegenzugehen / über ihn wegfliehen müßte / er hielt es für geratner, zurückzugehen / was ihm schon der Schall des Feuers hätte klarmachen sollen / ich bin auch um euertwillen vergnügt / der nicht teil daran nehmen mochte / hatte sie etwas Abendbrot zurecht gemacht / herab in das gewöhnliche Speisezimmer zu kommen / herabstieg, vorübergehn, herauszutreten, herabkam usw.
Fazit: GZS bis auf wenige Ausnahmen wie bis 1996 üblich, bei einem Text, der wohl nicht in der Orthographie Goethes aber immerhin nach der Praxis gefaßt ist, die vor fast 100 Jahren gängig gewesen ist. Wandel verschwindend gering.
Theodor Fontane, Briefe I, Propyläen Verlag. Erste wort- und buchstabengetreue Edition nach den Handschriften. S. 175 ff. (August 1882):
vorübergehn, an ihn heranzutreten / ich kam dadurch so zu sagen auf meine Kosten / so wie Ruhe eintritt / wird [mir] gut gethan haben / mit herumzuzieren / in alle Welt hineingegangen / (übrigens immer: morgen Abend, gestern Abend usw., Correkturbogen, controlirt, im Uebrigen) / es ist wo möglich noch gleichgültiger / stehen bleiben / was weiter erzählt werden darf usw.
Fazit: GZS deutlich mehr zu Auseinanderschreibungen tendierend. Dabei ist zum einen zu berücksichtigen, daß die Briefe spontan von Hand geschrieben und orthographisch wohl kaum nachgearbeitet worden, zum andern vor der Duden-Reform der Jahrhundertwende entstanden sind. Bemerkenswerte Änderungen also in diesem Fall immerhin erst in einer Zeit vor ca. 120 Jahren.
Der Kinderfreund, zum Unterricht in dem Lesen und bei dem Lesen, vornemlich für Landschulen, von F.E. Frhr. von Rochow. Für Oberdeutschland, insbesondere Schwaben, bearbeitet von Riecke und Völter. Erster Theil. Zweite verbesserte Auflage. Stuttgart, bei August Friedrich Macklot. 1817.
wenn eine gute Kuh vorbeigieng / mit dem Brodsak herumziehen lassen / als sie nun zusammentrafen / schwerverdauliche Speisen / drei bis viermal Erbrechen / Er ließ es auch Kindern nach Verschiedenheit des Alters Kaffeelöffelchenweis reichen, wenn sie mit Husten befallen, allen Schleim hinunterschluckten, und dadurch nicht nur schwerathmend (keisterisch) wurden, sondern auch die Eßlust verlohren / hievon einigemal des Tags ein Glas voll zu trinken / Eben so wenig / sogenannte Hellerzinsen / gegen einander vergleicht / damit sie gleich von einander weichen / zu Grunde gerichtet / erzürnten sich unter einander / irgendwoher / die Blätter sind ... weißgesäumt / entgegengearbeitet / (die Stängel werden 2-5 Schuh hoch) / in die Nase hinaufgezogen / ...
Eindruck: Insgesamt kommen Wortgruppen, die von der GZS betroffen sein könnten, auffallend selten vor. Vielleicht wurde, weil es sich um ein Buch handelt, das für den Schulunterricht gedacht war, die Sprache bewußt einfach gehalten. Aber wo sie betroffen ist, findet man sehr viele Schreibweisen vor, die weitgehend mit denen übereinstimmen, die bei uns vor 1996 üblich waren.
Theodor Storm: Sämtliche Werke. Neue Ausgabe in vier Bänden. Georg Westermann, Braunschweig und Hamburg, o.J., allem Anschein nach Anfang 20. Jh.
zurückgeblieben / kennen lernte / selbstbestimmende lebende Wesen / stundenlang / das hereinbrechende Verhängnis / herabgenommen / wochenlang / ihr braungeschnitzter Lehnstuhl (ich nicke Herrn Ickler freundlich zu) / hinabgeschlichen / hindurchschlüpfen ... im weiteren Verlauf so gut wie keine ungewohnten Auseinanderschreibungen, d.h. seit ca. 100 Jahren von heutiger Praxis eigentlich nicht zu unterscheiden.
Nietzsche, Jenseits von Gut und Böse (1886). Kritische Studienausgabe, hg. von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, dtv/de Gruyter
an dem sich Metaphysiker aller Zeiten wieder erkennen lassen / scheinbar entgegengesetzten Dingen / die irgend welchen anderen ... / ich sehe solche neue Philosophen heraufkommen / So wenig der Akt der Geburt ... / ebenso wenig ... / wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist / zu Stande gekommen / tapfer darauf los arbeitet / zu einander gestellt / etwas zurückerobern / der sogenannte Positivismus / in welche die Romantik ... hineinblies, hineinsang / auseinander zu halten wusste / wenn man sie ernst nimmt / Man muss aber noch weiter gehen / hinausschaffen / die Seele selbst dabei los zu werden / neues Misstrauen hinaus gestossen / hundertmal / dass es bereits fest steht, was mit dem Denken zu bezeichnen ist / um so festzusetzen / zu einander / von einander / hinter einander / herausgewachsen / hinausläuft / hängen geblieben / dass Jeder von ihm fernbleibt / die Zähne zusammengebissen / die Augen aufgemacht / ...
Beobachtung: Es gilt ähnliches wie bei Fontane, was nicht verwundert, da der Text aus derselben Zeit stammt. Auseinanderschreibung vermehrt als in der Literatur vor 1996 gewohnt, aber selten wirklich befremdlich, insgesamt sind die Texte schon bei Fontane und Nietzsche trotz noch anderer orthographischer Abweichungen sehr viel vertrauter zu lesen als alles, was seit 1996 von den neuen Regeln beeinflußt in Zeitungen und Büchern anzutreffen ist.
Herr Ickler wird es mir nicht verübeln, wenn ich seine eingangs zitierte Aussage mit einem Fragezeichen versehe, da ich in meiner kleinen Forschungsarbeit keine Bestätigung dafür finden konnte, sondern eher überrascht war, auf wie erstaunlich wenige Getrenntschreibungen ich hierbei gestoßen bin in einem Zeitraum von 100 resp. fast 200 Jahren. Angesichts meiner bescheidenen Erkenntnisse ist auch meine Skepsis hinsichtlich der Datenbanken nicht ausgeräumt, insbesondere was Google betrifft. Da vertraue ich jedenfalls immer noch lieber meiner eigenen Schäblerschen Datenbank im Kopf, mit der bin ich bisher immer gut gefahren.
__________________
Walter Lachenmann
|