Was ist hier eigentlich passiert?
Dieses Forum hat u.a. den Zweck, daß man hier Zitate mit Schreibweisen eintragen kann, die die mehr oder weniger befremdlichen Folgen der Rechtschreibreform demonstrieren. Daran habe ich mich, wie andere auch, einigermaßen fleißig beteiligt. Da kann es natürlich schon mal vorkommen, daß die Beispiele gar nicht immer so richtig triftig sind. Darüber kann man ja in Ruhe reden.
Ich habe nun folgendes erlebt:
Auf meinen Hinweis vor einigen Wochen auf »heller häutig« (SZ) werde ich in einer privaten Zuschrift davon informiert, das Wort »häutig« gebe es durchaus im Zusammenhang mit medizinischen Dingen, ähnlich wie »knochig« oder »fleischig«. Für den Hinweis bedanke ich mich, stelle aber fest, daß es sich in dem von mir zitierten Zusammenhang darum ja nicht gehandelt hätte. Die Antwort, privat: »Sie haben sich beim Beckmessern vertan, Herr Lachenmann. Stehen Sie doch einfach dazu!«
Später zitiere ich eine Stelle aus der SZ, das berühmte »bitte schön«, und zwar weil ich der Überzeugung bin, hier hätte ohne die Reform »bitteschön« gestanden. Das ist wissenschaftlich, zugegebenermaßen, so hochkarätig fundiert wie wenn jemand heute vom »scheidenden Finanzminister Eichel« spricht eine persönliche Vermutung, für die man seine Anhaltspunkte zu haben glaubt. Aber es kann in beiden Fällen auch ganz anders sein. Vielleicht scheidet der Finanzminister nicht, vielleicht hat tatsächlich der Autor »bitte schön« geschrieben und nicht der Reformkonverter hat das auseinandergerissen. Wieder ertönt der Ruf aus dem Publikum es ist nicht derselbe Rufer man wolle endlich einmal erleben, daß ich »zurückrudere«. Was hatte ich denn jetzt wieder schreckliches getan? Daß es auch »bitte schön« gibt, habe ich ja gar nicht bestritten, aber in diesem Fall hätte man nach meiner Überzeugung das früher zusammengeschrieben, und wenn meine Überzeugung falsch ist, muß sich niemand darüber aufregen, dann gehen die Ansichten hier eben auseinander. Bewiesen ist hier garnichts (bei »heller häutig« habe ich das Manuskript gesehen, das ist zumindest der Beweis dafür, daß bei der SZ Auseinanderschreibungen gedruckt werden, die der Autor nicht gewollt hat).
Auch bei meinem Beispiel »braun gebrannt« werde ich belehrt, daß dies nicht unbedingt zu beanstanden sei. Mich beschleichen so langsam Zweifel, ob die statistische Konsultierung bei Google eine ausreichende Differenzierung gewährleistet, da unterschiedliche Schreibweisen zu unterschiedlichen Aussagen führen können. So sind die Zusammenschreibungen »bitteschön« und »braungebrannt« meines Erachtens vermutlich in ihrer Bedeutung meistens klar zuordenbar, während die Wortkombinationen »braun gebrannt« und »bitte schön« auch im Zusammenhang mit anderen Aussagen vorkommen können und für die vergleichende Zählung m.E. deshalb nur bedingt herhalten dürften. Was Google angeht, stelle ich außerdem immer wieder fest, daß man auf da gute und weniger gute Texte bis hin zu primitivstem Teeniegestammel stoßen kann, in welchem Mengenverhältnis diese zu den seriösen Einträgen stehen, weiß vermutlich keiner, und von daher rührt meine völlig leidenschaftslose Skepsis. Ich weiß nicht, was an diesen Überlegungen so verkehrt sein soll, zumindest könnten diejenigen, die darüber anders denken, dies unaufgeregt erläutern und meine Bedenken zerstreuen.
Dann schreibt Herr Ickler: Sobald man etwas zurückgeht, nur ein paar Jahre, stößt man auf erstaunlich viele Getrenntschreibungen.
Das habe ich getan, die Quellen habe ich genannt, und das waren keine Erbauungs- oder Familienpostillen à la Gartenlaube von Anno Dunnemals selbst die hätten den Zweck genauso gut erfüllt sondern Klassikerausgaben renommierter Verlage und Originaltexte. Mein Eindruck war, daß die GZS seit Anfang des 20. Jahrhunderts sich nicht sehr auffällig von den Texten vor der Reform unterschied. Damit wollte ich ja niemanden belehren, ich wollte das einfach mitteilen! Und ich bezweifle, ob ich bei Google auf Zitate aus dem 19. und frühen 20. Jahrhundert in brauchbarer Menge und Form gestoßen wäre, jedenfalls erschienen mir meine zeitgenössischen Bücher hierfür durchaus geeignet.
Warum diese von mir angestellten Überlegungen zu solcher Aufregung führen konnten, ist mir völlig schleierhaft. Nun kann ja einer sagen: Überlegen Sie mal gut, woran das wohl liegen könnte, vielleicht hat das ja mit Ihrem persönlichen Auftreten und Ihrer ganzen Art und Weise zu tun. Aber was wäre an dieser Frage, bitteschön, wissenschaftlich?
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Abschließend bin ich so frei, zwei Nebenprodukte meiner Amateurrecherche weiterzureichen. Diese sind beileibe keine Glaubensbekenntnisse meinerseits, aber im Zusammenhang mit unserer Diskussion doch recht anregende Gedanken:
An einer Theorie ist wahrhaftig nicht ihr geringster Reiz, dass sie widerlegbar ist : gerade darin zieht sie feinere Köpfe an.
Die Falschheit eines Urtheils ist uns noch kein Einwand gegen ein Urtheil ; darin klingt unsre neue Sprache vielleicht am fremdesten. Die Frage ist, wie weit es lebenfördernd, lebenerhaltend, Art-erhaltend, vielleicht gar Art-züchtend ist ; und wir sind grundsätzlich geneigt zu behaupten, dass die falschesten Urtheile (zu denen die synthetischen Urtheile a priori gehören) uns die unentbehrlichsten sind, dass ohne ein Geltenlassen der logischen Fiktionen, ohne ein Messen der Wirklichkeit an der rein erfundenen Welt des Unbedingten, Sich-selbst-Gleichen, ohne eine beständige Fälschung der Welt durch die Zahl der Mensch nicht leben könnte, -- dass Verzichtleisten auf falsche Urtheile ein Verzichtleisten auf Leben, eine Verneinung des Lebens wäre. Die Unwahrheit als Lebensbedingung zugestehn : das heisst freilich auf eine gefährliche Weise den gewohnten Werthgefühlen Widerstand leisten ; und eine Philosophie, die das wagt, stellt sich damit allein schon jenseits von Gut und Böse.
Friedrich Nietzsche: Jenseits von Gut und Böse. Zur Genealogie der Moral.
Text- und seitenidentisch mit Band 5 der Kritischen Studienausgabe (KSA) in 15 Bänden ... ediert auf der Grundlage der Kritischen Gesamtausgabe, herausgegeben von Giorgio Colli und Mazzino Montinari, erschienen im Verlag de Gruyter, Berlin/New York 1967ff. Neuausgabe 1999 bei dtv.
(Ça va comme ça, scientifiquement parlé, mon cher ami tant érudit?)
Kleine Dreingabe: Oh Voltaire! Oh Humanität! Oh Blödsinn! Mit der „Wahrheit, mit dem S u c h e n der Wahrheit hat es etwas auf sich ; und wenn der Mensch es dabei gar zu menschlich treibt -- „il ne cherche le vrai que pour faire le bien“ -- ich wette, er findet nichts!
(Aber das ist wieder ein anderes Thema ...)
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Walter Lachenmann
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