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Reinhard Markner
27.11.2002 14.47
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»Inhaltsbezogen«

Was man nach 1945 »inhaltsbezogen« nannte, lief vorher unter dem Schlagwort »arteigen« (vgl. dazu auch Birken-Bertsch/Markner 2000, Kap. 3). Mit anderen Worten, das deutsche Volk und die germanische Rasse sollten nicht länger unter der Knute der lateinischen Grammatik stehen. (Was natürlich die richtige, aber auch reichlich triviale Beobachtung zum Kern hat, daß jede Sprache je eigene grammatische Strukturen hat.)

Die zitierte Bemerkung von Weisgerbers Lieblingsschüler Helmut Gipper läßt sich übrigens nur verstehen, wenn man weiß, daß der greise Weisgerber versuchte, den Begriff »Sprachwissenschaft« für die eigene Lehre zu reservieren, das Synonym »Linguistik« hingegen für mißliebige sprachwissenschaftliche Strömungen aus dem fremdvölkischen Ausland. Das ist ihm allerdings mißlungen.

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Norbert Schäbler
27.11.2002 11.51
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Umstrittene Grammatik

Zwar besteht (noch) kein nachhaltig geäußerter Wunsch, auf diesen Internetseiten auch über die Problematik der Grammatik und des Grammatikunterrichts zu diskutieren, doch scheint es mir wesentlich, einen Blick über den Tellerrand hinaus zu riskieren.
Unaufgefordert zitiere ich deshalb aus einem Buch von Bernd Stadler, und benenne klar meine damit verbundene Absicht:
Es soll beim Leser das eindeutige Wissen entstehen, daß über verschiedene Erkenntnisse der Sprachwissenschaftler bereits in den Nachkriegsjahren bald sachlich, bald mit ideologischer Ausrichtung diskutiert wurde, wobei es bis zum heutigen Tage nicht gelang, den Grammatikunterricht auf ein sicheres Fundament zu stellen.
Anders bei der Frage der Rechtschreibung, in die sich der Staat einmischte und von seiner Erlaßtechnik Gebrauch machte.
Seitdem haben wir zwar eine eindeutige Richtlinie – aber eine fehlerhafte Orthographie!

Ich bringe die Gedanken von Bernd Stadler ein,
- weil ich davon überzeugt bin, daß sich eine Diskussion in ähnlicher Weise auch im Bereich der Orthographie abspielen wird und muß.
- weil es offenkundig ist, daß weltanschauliche und ideologische Gesichtspunkte sowie historische und politische Zwänge auf die sachlichen Erkenntnisse der Sprachwissenschaftler einwirken.
- weil es mir wichtig erscheint, Meinungsführerschaften zu durchleuchten, Hintergründe zu erforschen und wie auch immer zustande gekommene Mehrheitsverhältnisse und Seilschaften aufzudecken – zugunsten der Sache.


Zum Buch:
Stadler gibt auf wenigen Seiten (SS 11 bis 17) in seinem Buch „Sprechhandeln und Grammatik“ einen stichpunktartigen Überblick über verschiedene sprachwissenschaftliche Ansätze. Er versucht mit Hilfe einer Rückblende, die Ziele und Aufgaben des Grammatikunterrichts neu zu definieren.

Für eine mögliche Folgediskussion wäre eine Aktualisierung interessant, denn Stadlers Auflistung endet mit dem Jahre 1978.
Eine Namensliste von Sprachwissenschaftlern, die gegenwärtig die Diskussion dominieren, wäre eine große Hilfe für weitergehende Untersuchungen.





(Auszüge aus dem Buch „Sprechhandeln und Grammatik“ von Bernd Stadler, Oldenbourg Verlag, 1978; hier S. 11. bis 17)

1. Ziele und Aufgaben des Grammatikunterrichts

1.1 Grammatik als umstrittenes Schulfach

Dieses Kapitel ließe sich geradezu mit dem Titel einer Fernsehsendung „Pro + Contra“ überschreiben.

Wohl kaum bei einem anderen Schulfach klaffen die Meinungen so auseinander. War die Kritik an der traditionellen Grammatik noch verständlich, so hätte sie doch eigentlich nach dem Einbezug der inhaltsbezogenen Erkenntnisse WEISGERBERS, PORZIGs u.a. verstummen können.

Aber zu dieser Zeit blickten viele Linguisten bereits nach ausländischen Forschungsergebnissen und wähnten unsere Schulen in klarem Rückstand.

Jetzt, nachdem eine Flut von linguistischen Veröffentlichungen auf uns einbrandet und zahlreiche Schulbücher Strukturbäume überstrapazieren, ist die Kritik beleibe noch nicht verstummt.

Wogegen wendet sich die Ablehnung? Was wird dem Grammatikunterricht angelastet?

1.1.1 Kritik an der Formalisierung durch WEISGERBER und GLINZ

Beginnen wir mit einer knappen Zusammenstellung etwa ab 1950, als der Aufsatz von WEISGERBER erschien: „Grammatik im Kreuzfeuer“ (1) mit der bezeichnenden Aussagen: „Die Grammatik ist in die Lage gebracht, in der sie nicht leben und sterben kann.“

WEISGERBER führt als Gründe dafür an, daß die Beschreibung der Sprache zum damaligen Zeitpunkt nur Formales beträfe, nicht aber die sinnlich-geistige Ganzheit.

Ferner sei die Terminologie für die Sprachbeschreibung nicht aus der Sprache gewonnen, sondern aus der Philosophie oder anderen Sprachen übernommen worden, und er meint deshalb:
„Solange die Grammatik diese Fehler nicht beseitigt, droht ihr die Gefahr grundsätzlicher Sachferne, methodischer Unzulänglichkeit und nicht überprüfter Vorurteile.“ (2)

Eigentlich hatte schon vorher H. GLINZ solche Vorwürfe erhoben und zwar vor allem an der Satzlehre der bisherigen Grammatik. (3) Er hatte sich besonders gegen die Lehre von den beiden Ur-Satzgliedern Subjekt und Prädikat gewandt, die alle weiteren Glieder des Satzes zu Ergänzungen oder näheren Bestimmungen abwerteten.

1.1.2 Nutzlosigkeit des Grammatikunterrichts / K. GAISER / W. PFLEIDERER

So wundert es nicht, daß sich z.B. KONRAD GAISER in seiner Ablehnung der Grammatik gar auf Goethe beruft:
„daß ja eine ganze Wolke höchst kompetenter Zeugen, angeführt von Goethe da ist, die den Lebensgebrauchswert der Grammatik in Abrede stellen …“ (4)

Er knüpft dazu die Fragestellung: „Wieviel Grammatik braucht der Mensch?“ (5) und kommt zu dem Ergebnis, daß vielfach Grammatik der Fremdsprache fälschlicherweise mit Lehren der Muttersprache gleichgesetzt worden sei. (6)
Dem Schüler will er keinesfalls vor dem 12. Lebensjahr Grammatik aufgebürdet wissen. PFLEIDERER begründet dies aus der Erfahrung der Eltern.
„Die Laien, die in ihrer Jugend einen Unterricht in deutscher Grammatik genossen haben und ihn, als Eltern, mit ihren Kindern noch einmal genießen dürfen – sie wenden sich – man kann wohl sagen einmütig, und nicht selten mit Leidenschaft, gegen den Grammatikunterricht als gegen das ödeste und zweckloseste aller Unterrichtsfächer. Im Deutschunterricht Grammatik zu lehren, so sagte neulich einer, das komme ihm vor, wie wenn man im Turnunterricht den Kindern eine Theorie des Gehens, der Fortbewegung mit Hilfe der Beine beibringen wolle!“ (7)

Eine spätere Sprachbetrachtung folgert er aus der Sprachentwicklung des Kindes:
„Satzgefüge, dagegen vermag das Kind wohl einigermaßen richtig aufzufassen, aber nicht selbständig nachzubilden … Nebensätze gibt es wohl, aber fast nur als Antwort auf Fragen … Vergleicht man die sprachlichen Ausdrucksmittel mit denen des gebildeten Erwachsenen, so kann man wohl von einer gewissen Armut und Enge auf seiten des Kindes sprechen.“ (8)

1.1.3 Der Sprung nach vorn / Duden

1959 erschien der Große Duden Band 4 „Grammatik der deutschen Gegenwartssprache“. Hier werden wesentlich optimistischere Töne angeschlagen. Man glaubt, einen gewaltigen Sprung nach vorn getan zu haben und neuere Auffassungen von GLINZ (9), BRINKMANN (10), ERBEN (11) u. a. finden ihren Niederschlag.

1.1.4 Weisgerbers neues Wagnis der Grammatik

So kommt WEISGERBER 1960 zu dem Schluß, daß das Wagnis der Grammatik jetzt wieder von neuem gerechtfertigt sei.
„Die Wende im grammatischen Wollen scheint vollzogen … der Sprung zum anderen Ufer erscheint als das geringere Wagnis gegenüber dem Verweilen in einer immer mehr als unhaltbar erkannten Position“ (12) und es verwundert nicht, wenn HENZE 1965 schreibt:

1.1.5 Überwundene Krise / Henze

„Daß die Frage nach der Daseinsberechtigung der Sprachlehre zu bejahen ist, wird allgemein anerkannt. Die Tendenz, die immer unerfreulicher und unfruchtbarer gewordene Grammatik ganz aus der Schule zu verbannen, war nur eine vorübergehende Reaktion auf die Krise der fachwissenschaftlichen Grundlagen und auf eine frühere Didaktik, in der Deutschunterricht identisch war mit Sprachlehre im Sinne von Belehrung über die deutsche Sprache, als ob der Zugang zur Muttersprache in der gleichen Weise zu finden sei, wie bei einer Fremdsprache.“ (13)

1.1.6 Fragwürdiger Bildungswert / Elschenbroich

Dagegen glaubt ELSCHENBROICH nicht nur den Bildungswert der Grammatik umstritten:
„Offensichtlich handelt es sich nicht nur um Unterschiede in der Meinung darüber, inwiefern grammatisches Wissen überhaupt ein Bildungswert sei und inwieweit im besonderen in der Erlernung der Grammatik die Voraussetzung für sprachliches Können liege; Die Kluft ist tiefer: es machen sich verschiedene Auffassungen geltend von dem, was Sprache ihrem Wesen nach sei.“ (14)

1.1.7 Linguistische Rückstände deutscher Schulgrammatik / Hebel
Inzwischen hatte sich nämlich die isolierte Stellung der deutschen Grammatikforschung innerhalb der globalen Linguistik herausgestellt und nun erhoben sich gegen die deutsche Grammatik in der Schule erneut Vorwürfe, z.B. von HEBEL:
„Doch droht zur Zeit die Gefahr, daß Wissenschaft und Unterricht sich in der Sprachlehre, im Grammatikunterricht, so auseinanderentwickeln, daß der Unterricht sich vielleicht noch, – wie auch immer ideologisch – mit pädagogischen Scheingründen rechtfertigen möchte, aber nicht mehr aus der Sache, also fachwissenschaftlich. Ich denke dabei an den Rückstand, den der Grammatikunterricht gegenüber der modernen Linguistik hat.“ (15)

1.1.8 Mängel der inhaltsbezogenen Grammatik / E. Frey

Auch FREY sieht diese Gefahr:
„Angesichts des bisher ungeprüft gebliebenen Führungsanspruchs der „inhaltbezogenen“ Grammatik einerseits, angesichts der epochemachenden Arbeiten der Ost-Berliner Arbeitsstelle andererseits scheint es geboten, daß die Schulgrammatik ihre Lage und Möglichkeiten bedenke.“ (16)

So begrüßt sie einerseits die Weiterentwicklung in der inhaltsbezogenen Sprachwissenschaft für die Schule:
„… es ist ohne Umschweife anzuerkennen, daß viele Deutschlehrer, die Weisgerber wirklich lasen und durch ihn bekannt wurden mit der Satzlehre von E. DRACH, mit Erkenntnissen H. BRINKMANNS, später vor allem mit GLINZ, die hier von Wortfeldforschung hörten, eine Auflockerung der alten, trockenen und dabei doch unsystematischen Grammatik, eine Blickerweiterung und einen frischen, freien Atem und in vielem ganz einfach eine Sanierung des Grammatikunterrichts ermöglicht sahen.“ (17)

Sie stellt aber zugleich fest, daß die inhaltsbezogene Forschung starke Mängel aufweist und durch neuere linguistische Methoden ergänzt werden müßte:
Die Opposition sinnlich-geistig (bei WEISGERBER) geht an der heutigen Forschungssituation vorbei; sie trifft aber doch wohl auch, mit ihrem wertenden Unterton (die Inhalte sind die höheren Werte) den Sachverhalt Sprache nicht. Dieser scheint besser getroffen in der Annahme der modernen Linguistik, die an der sprachlichen Äußerung Ausdruck und Inhalt und an beiden Substanz und Form unterscheidet.“ (18)

1.1.9 Nicht didaktisierte strukturalistische Grammatik / Sowinski

Allerdings sieht nicht nur sie Schwierigkeiten für den schulischen Einsatz als beträchtlich an, sondern auch SOWINSKI und HÖGY warnen:
„Im Gegensatz zur inhalts- und leistungsbezogenen Sprachwissenschaft fehlt ein solches Zusammenwirken von Erforschung und Didaktik der deutschen Sprache hinsichtlich der strukturalistischen Methoden und ihrer Ergebnisse noch völlig, wenn man von den Methoden der Systemerprobung bei H. GLINZ absieht.“ (19)

„Die einzelnen strukturalistischen Ansätze stellen sich nicht als Teile eines geschlossenen Korpus dar und machen daher dem Anfänger den Zugang schwer; systematische Didaktiken auf strukturalistischer Grundlage … fehlen bislang.“ (20)

1.1.10 Anwendbarkeit der generativen Grammatik / Hartmann

Der Notwendigkeit eines geschlossenen Systems widerspricht HARTMANN und antwortet damit auf EMMY FREY, die ihm vorgeworfen hatte, grundlegende Begriffe aus dem Formzusammenhang zu reißen.
„Wer aber einmal versucht hat, mit dieser Form der Grammatik zu arbeiten, wird festgestellt haben, wie klein der benötigte Formzusammenhang gehalten werden kann … Gerade in der gegenwärtigen Grammatik ist es leicht, nicht ein System zu lehren, sondern nur so viel wie für das Sprachverhalten einer bestimmten Altersstufe oder zur Klärung einer aktuellen Situation notwendig ist.“ (21)

1.1.11 Gefahr der Linguistisierung der Schulgrammatik / Gipper

Wer aber die Entwicklung in den Schulbüchern verfolgt, der kann durchaus anderer Ansicht sein und sich hierbei GIPPER anschließen:
„Die Gefahr einer Linguistisierung der sogenannten geisteswissenschaftlichen Disziplinen ist nicht von der Hand zu weisen und niemandem kann daran weniger gelegen sein als all denen, die an einer sogenannten Weiterentwicklung der Sprachwissenschaft interessiert sind.“ (22)

Er wirft den neuen Grammatikern vor allem einen Wasserkopf an Theoriebildung vor:
„Theorie, Empirie und Praxis gehören also eng zusammen, sie bedingen sich wechselseitig, sie stehen in einem echten dialektischen Verhältnis. Nun ist aber festzustellen, daß in der modernen Linguistik in aller Regel der Theoriebildung der Vorrang eingeräumt wird. Selbst die in ihrer Zielsetzung praxisorientierten Disziplinen bleiben doch weitgehend in der Theoriebildung stecken und vernachlässigen häufig die Sprachwirklichkeit, das heißt die Beobachtung und Beschreibung der tatsächlichen Sprachprozesse in konkreten Lebenssituationen. Damit einher geht ein erschreckender Rückgang an praktischen Sprachkenntnissen.“ (23)
Da diese Theorie hauptsächlich an fremden Sprachen gewonnen worden sei, ließe sie sich nicht oder nur schlecht übertragen:
„Das dem binären Prinzip verpflichtete Darstellungsschema, die bekannten Strukturbäume bzw. Stemmata, sind am Englischen entwickelt und erprobt, sie passen schon schlecht auf viele synthetische Satzstrukturen, die typisch für das Deutsch sind und sie versagen weitgehend bei völlig anders strukturierten Sprachen.“ (24)

1.1.12 Gegen einen neuen Formalismus / Stein

Ein weiterer Vorwurf besteht in der starken Formalisierung und es erhebt sich der Verdacht, ob wir mit diesen Grammatiken nicht einem neuen Formalismus Tür und Tor öffnen. So sieht es zumindest GERD STEIN in seinem 1972 erschienenen Buch „Reflexion über Sprache“ (25)
„ … er kritisiert den gewollten Formalismus, der dazu führt, daß Phänomene, die den Schülern selbstverständlich sind, durch aufwendige Operationen und komplizierte Begriffe erklärt werden sollen“; die Präzision ist nur scheinhaft „weil mittels des äußerst formalistischen Verfahrens Banalitäten mystifiziert werden.“ (26)

Formalisierung muß zumindest in der Schule gewisse Grenzen wahren, um die Materie nicht unnötig zu erschweren.
„Wohl muß hier betont werden, daß die Formalisierung sprachwissenschaftlicher Untersuchungen mit den Mitteln mathematischer Symbolsprachen nur dann wirklich gerechtfertigt und nötig erscheint, wenn ganz bestimmte Ziele dies unbedingt erfordern …
Für die allgemeine Sprachwissenschaft, d.h. für die Erweiterung unserer Kenntnisse über die Strukturen der Sprachen der Welt sind diese Formalisierungen jedoch in der Regel weder nötig noch in jedem Fall förderlich. Um die Formeln zu verstehen, muß man sie nämlich ohnehin wieder in Wortsprache rückübersetzen.“ (27)

1.1.13 Terminologische Schwierigkeiten / Gipper

Man muß ja auch an den unerhörten Zeitaufwand denken, wenn wir das Zeichnen von Strukturbäumen und Graphen mit einbeziehen wollen. Daneben geht es noch um die unerhörte Fülle linguistischer Terminologie, die „wahrhaft hybride Ausmaße angenommen hat“ (28) und nicht nur Kindern, sondern auch Lehrer und Spezialisten des Faches verunsichert.
Die Schule hat eben keine Linguisten auszubilden.

Dies ist schon deshalb zweifelhaft, weil immer noch nicht entschieden werden kann, welcher linguistischen Strömung weithin die Zustimmung gehört.
„Angesichts der Fülle konkurrierender Einführungen in die Linguistik und der Tatsache, daß infolge des Linguistikbooms vieles zu schnell und deshalb noch nicht ausgereift publiziert wird, erscheint es besonders dringend, den Lehrenden und Lernenden eine zuverlässige Orientierungshilfe zu bieten.“ (29)

1.1.14 Politisierung der Grammatik / Hoppe

Mit den neuen Terminologien und Zielstellungen der Grammatik ist ein weiteres Verdachtsmoment laut geworden, das HOPPE formuliert hat:
„Der Elan, mit dem unter der Überschrift „Reflexion über Sprache“ die abstrakten linguistischen Modelle aufgegriffen werden und auf progressive Begriffe und Vorstellungen der „kritischen Theorie“ oder des Marxismus bezogen werden, legt noch einen weiteren Verdacht nahe: man kann so – wie bisher – der Vorliebe für abstrakte, nicht von der Praxis her konzipierte linguistische oder literarische Lernstoffe nachgeben, denn die Theorien weisen der Sprache und Literatur pauschal eine politische Funktion zu, die genau gegenüber anderen Bereichen abgegrenzt werden kann.“ (30)

1.1.15 Grammatik als Mittel der Ideologisierung / Gocht

Und so sieht GOCHT den neueren Grammatikunterricht nicht so weit entfernt vom früheren, gefährlich nur auf einer anderen Ebene:
„Für radikale Kritiker ist es eine ausgemachte Sache, daß der Grammatikunterricht eines der infamsten Medien erzieherischer Repression war und ist. Die Deklinations- und Konjugationsexerzitien vergangener Tage erscheinen ihnen als schauriges Pendant zur Szenerie preußischer Kasernenhöfe. Wo Paradigmen wie Gebetsmühlen heruntergeschnurrt werden, ist humane Entfremdung zumindest so nahe wie bei der Arbeit am Fließband. Unser Zeitalter mag differenzierte und diffiziler sein, es ist aber beileibe nicht aufgeklärter. Selbst im kleinsten Beispielsatz einer grammatischen Übung wird dem Schüler das Gift einer falschen Weltanschauung eingeträufelt. Auf jeder Schulbank sitzt ein Ideologiepopanz!“ (31)

Angesichts solcher sich widersprechender, zum Teil heftiger Stimmen kann man immer noch von einer „Grammatik im Kreuzfeuer“ sprechen. (32)
Stellt sich die Wirklichkeit in den Richtlinien und Schulbüchern tatsächlich so zwiespältig dar?
Welche Zielstellungen soll sich der Grammatikunterricht in der Schule geben?

Literaturangaben werden bei Bedarf nachgereicht.

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nos

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Theodor Ickler
25.11.2002 04.34
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Skinner über autoklitisches Sprechen

Hier ein Auszug aus Skinners „Sprachverhalten“:

Manchmal unterscheidet man zwischen einer Sprache über Dinge und einer Sprache über Sprache. Das ist der Kern von Carnaps Unterscheidung zwischen Objektsprache und Metasprache. Diese Unterscheidung trifft aber nicht das, was mit dem Begriff „autoklitisch“ gemeint ist. Wenn sprachliches Verhalten einmal stattgefunden hat und ein Gegenstand der physikalischen Welt geworden ist, kann es beschrieben werden wie jeder andere Gegenstand. Wir haben keinen Grund, ein besonderes Vokabular oder eine spezielle Grammatik auszuzeichnen, die dazu benutzt werden. Die Reaktionsformen, die autoklitisch verwendet werden, werden auch zur Beschreibung des Sprachverhaltens als Gegenstand verwendet, und eben darum ist es auch schwer, die Eigenart des Autoklitikums zu erkennen. Dennoch ist die Unterscheidung außerordentlich wichtig, wie wir im folgenden sehen werden. Orthographisch heben wir die autoklitische Funktion durch Anführungszeichen auf. Ich sage, er hat recht enthält ein Autoklitikum. Er hat recht kann auch allein stehen und seine Wirkung tun, aber das begleitende ich sage übt eine bestimmte punktuelle Wirkung auf den Hörer aus. Bei Ich sage: „Er hat recht“ verlagert sich der Schwerpunkt auf ich sage; der Sprecher teilt dem Hörer etwas über sein gegenwärtiges Sprachverhalten mit, hat aber möglicherweise kein Interesse daran, ob der Hörer auf den Sachverhalt reagiert, der durch er hat recht beschrieben wird.
Auch in Ich sage, daß er recht hat ist das ich sage nicht im strengen Sinne ein Autoklitikum, obwohl es als solches gebraucht werden kann. Man kann das leicht überprüfen, indem man fragt, ob die Reaktion ebenso in einer Aussage zum Beispiel über vergangenes Sprachverhalten vorkommen kann. Ich sagte „Er hat recht“ ist in jeder Hinsicht dasselbe wie Ich sage „Er hat recht“, außer was den Zeitpunkt betrifft, zu dem die Feststellung Er hat recht auftrat. Die indirekte Rede Ich sagte, daß er recht hatte – mit einem Tempuswechsel in beiden Verben – deckt auf, daß auch im Präsens keine autoklitische Funktion vorlag. Das mag wie Haarspalterei aussehen, aber ein einziges Beispiel wird zeigen, wie notwendig es unter Umständen sein kann. Die Reaktion Es ist wahr, daß ich abwesend war enthält ein Autoklitikum (es ist wahr), das die Wirkung des begleitenden ich war abwesend in der Hinsicht modifiziert, daß dieser Teil geäußert wird, obwohl Variable existieren, die auf seine Unterdrückung hinwirken. In dieser Funktion kommt es einem Ich gestehe ein nahe. Aber wahr kommt auch in anderen und zwar sehr bedeutsamen Zusammenhängen vor. Da es sich auf Sprachverhalten bezieht, kann es, wie Tarski als erster gezeigt hat, nicht zur Primär- oder Objektsprache gehören. Es gehört, in Carnaps Begriffen, zur Metasprache. Aber die Metasprache ist nicht notwendigerweise autoklitisch, mag sie auch dieselben Ausdrücke verwenden und verschiedene Reaktionen mit autoklitischer Funktion einschließen. Der Satz Meine Feststellung „Ich war abwesend“ ist wahr unterscheidet sich von Es ist wahr, daß ich abwesend war. (320) Der erste Satz zielt darauf, beim Hörer eine Wirkung hinsichtlich der Wahrheit eines Satzes hervorzurufen, der zweite dagegen soll beim Hörer eine Wirkung im Hinblick auf die Abwesenheit des Sprechers erzielen. Die Unterscheidung tritt klarer hervor, wenn es sich um weniger komplizierte Umstände handelt. Der Satz Ich gestehe ein, daß ich abwesend war ist autoklitisch, aber der Satz „Ich war abwesend“ ist ein Eingeständnis ist nicht nur kein Autoklitikum, sondern hat ganz offensichtlich eine andere Funktion. In ähnlicher Weise hat der Satz Ich zögere zu sagen, daß er ein Lügner ist eine autoklitische Funktion, da er die Wirkung, die die Reaktion Er ist ein Lügner auf den Hörer ausübt, modifiziert. Dagegen hat der Satz „Er ist ein Lügner“ wird zögernd ausgesprochen auf den Hörer eine Wirkung, die das Verhalten des Sprechers betrifft. (Wie wir gleich sehen werden, kommt Russells Unterscheidung zwischen Primär- und Sekundärsprache unserer Unterscheidung von nichtautoklitischem und autoklitischem Verhalten näher als die Carnapsche zwischen Objektsprache und Metasprache.)


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Th. Ickler

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Wolfgang Wrase
24.11.2002 14.22
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Hauptsatz oder Nebensatz?

Der Exkurs ist sehr interessant und aufschlußreich. Ich habe mich bei meinen Umwandlungsoperationen auch schon unwohl gefühlt, als ich einfach Anführungszeichen wegließ und den Doppelpunkt durch ein Komma ersetzte. Dennoch ist die Frage nach Hauptsatz/Matrixsatz usw. durch den Aufsatz nicht beantwortet, denn da ging es nicht um die Bedeutungsebene (wer behauptet was, wer beansprucht die Aussagekompetenz oder tritt sie ab oder ignoriert sie), sondern um die grammatische Struktur.

Deshalb sei die Nuß noch einmal präsentiert.

Es könnten mehr sein, finde ich.
Das wurde gedeutet als:
Konstituentensatz, finde ich. Der „Nebensatz“ fungiert als Akkusativobjekt des Matrixsatzes "... finde ich“.

Und nun:
Es könnten mehr sein. Finde ich.
Meiner Meinung nach handelt es sich hier beim ersten Teil nicht mehr (zwangsläufig) um einen Konstituentensatz, sondern (jedenfalls zunächst) um einen selbständigen Hauptsatz auf derselben Konstruktionsebene wie „Finde ich“.

Das nachgereichte „Finde ich“ nimmt zwar dem Sinn nach den vorhergehenden Hauptsatz nachträglich als „Akkusativobjekt“ in Anspruch – gemeint ist: (Das soeben Gesagte) finde ich. Allerdings muß diese nachträgliche Bezugnahme nicht zu einer eindeutigen grammatischen Abhängigkeit im Sinne eines Konstituentensatzes führen. Vergleiche:

(Sprecher A:) Es könnten mehr sein.
(Sprecher B:) Findest du?

Was A sagt, bleibt ein Hauptsatz, auch wenn danach B diesen Satz implizit als „Satzergänzung“ in Anspruch nimmt. Genauso kann es sich verhalten, wenn es sich um nur einen Sprecher handelt. Um dies zu verdeutlichen, ist es wie gesagt hilfreich, statt eines Hauptsatzes mehrere zu nehmen. Es werden dann ja nicht alle diese Hauptsätze zu Konstituentensätzen, nur weil ein anderer Sprecher anschließend fragt: „Findest du?“ oder weil derselbe Sprecher irgendwann (womöglich nach einer ganzen Rede und womöglich merklich herabgestuft) anmerkt: "... (Finde ich.)"

Also kann beim reinen Wortmaterial ES KÖNNTEN MEHR SEIN (kleine Zäsur) FINDE ICH nicht eindeutig entschieden werden, ob der Normalfall „Abhängigkeit“ (Konstituentensatz + Matrixsatz) vorliegt oder ob es eher zwei gleichrangige Hauptsätze sind. Im ersten Fall würde man (wie üblich) eher mit Komma schreiben, im zweiten Fall eher einen Punkt setzen. Von der Sache her gibt es wohl auch Zweifelsfälle, nicht nur die beiden Extreme „Abhängigkeit“ versus „Selbständigkeit“, sondern womöglich ein unklares Verhältnis der beiden Sätze. Auf der Ebene der Zeichensetzung wird man gezwungen, sich für eine der beiden Versionen zu entscheiden.

Weil aber das Komma im Vergleich mit dem Punkt zugleich einen kleinen rhetorischen Unterschied mit sich bringt (normale flüssige Überbrückung der beiden Sätze), kann man schließlich fragen, ob es nicht auch bei der Analyse der mit Komma dargebotenen Version denkbar oder gar angebracht wäre, zugleich die Möglichkeit Hauptsatz + gleichrangige nachgereichte Floskel (in der Gestalt eines verkürzten Hauptsatzes) in Betracht zu ziehen:

Es könnten mehr sein, finde ich.
Das entspricht:
Es könnten mehr sein, meiner Meinung nach.
Nämlich alles auf derselben grammatischen Ebene.

Und umgekehrt: Auch der Punkt könnte eher aus rhetorischen Gesichtspunkten gewählt sein, ohne daß die Grammatik anders dargeboten werden soll. Jedenfalls scheint es, als ob es sich bei „Es könnten mehr sein“, was wie ein Hauptsatz aussieht und vom Leser und vom Hörer zunächst auch so interpretiert wird, tatsächlich um einen Hauptsatz handeln kann, auch wenn der Kommentar "... finde ich“ nachgereicht wird. Je länger die Pause ist, die der Sprecher dazwischen macht (was der Schreiber durch einen Punkt, bei langer Pause durch einen Gedankenstrich oder auch durch beides ausdrücken kann), wird man statt der Abhängigkeit eher zwei gleichrangige Sätze wahrnehmen.

Stimmt das?

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Theodor Ickler
24.11.2002 08.01
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Das folgende ist ein Abschnitt aus dem gerade entstehenden Buch „Naturalistische Zeichentheorie“. Es hat nur entfernt mit Rechtschreibung zu tun, berührt allenfalls die Interpunktion (Anführungszeichen).

„Intensionale Kontexte“

In der Auseinandersetzung zwischen Mentalismus und Naturalismus spielen die sogenannten „intensionalen Kontexte“ eine wichtige Rolle. („Ob Geist auf Natur reduzierbar ist, entscheidet sich für viele Philosophen am Schicksal der intensionalen Kontexte.“ Keil 1993:104) Wer das Argument der intensionalen Kontexte zugunsten des Mentalismus ausspielt, vertritt gewöhnlich eine dazu passende Zeichentheorie, in der es, unter welchem Namen auch immer, so etwas wie „intentionale Begriffe“ gibt:
„Intentionale Begriffe schaffen intensionale Kontexte, d. h. solche, in denen die Substitution extensionsgleicher Termini nicht immer wahrheitswerterhaltend ist.“ (Keil ebd.)
Man kann bestreiten, daß das Begriffspaar Intension/Extension für die Analyse der Sprache überhaupt von Bedeutung ist; das Problem der intensionalen Kontexte enthält jedoch in allen mir bekannten Darstellungen einen Fehler, der sich auf weniger anspruchsvoller Ebene nachweisen läßt. Betrachten wir eine der zahllosen, im wesentlichen immer gleichen Darstellungen:
"Ödipus freut sich darüber, Jokaste zu heiraten; er freut sich aber nicht darüber, seine Mutter zu heiraten. Wie kann ein Satz allein dadurch seinen Wahrheitswert ändern, daß man einen Ausdruck durch einen anderen ersetzt, der denselben Gegenstand bezeichnet?! Psychologisch sind solche Sachverhalte zwar nicht allzuschwer aufzuklären (´Ödipus wußte ja nicht, daß...´), doch dies nur um den Preis der Verwendung anderer intentionaler Ausdrücke. An dieser Eigenart der durch die mentalen Verben erzeugten Kontexte kommt kein zeitgenössischer Naturalist vorbei. In Abwesenheit einer erfolgreichen Reduktion des Idioms der propositonalen Einstellungen bleiben die entsprechenden Sätze opak, semantisch undurchsichtig. Aus diesem Grunde identifizieren wir mentale Zustände über ihre semantischen Gehalte und nicht über die ´objektiven´ Sachverhalte in der Welt, auf die sie sich ´beziehen´, denn eben die Undurchsichtigkeit dieses Bezuges ist das Problem der Intentionalität.“ (Ebd.)
Andere Fassungen: Der Herausgeber von Soul weiß, daß der Herausgeber von „Soul“ Millionär ist vs. Der Herausgeber von „Soul“ weiß, daß er Millionär ist. Das sei verschieden, denn: „Der Herausgeber von 'Soul' mag wissen, daß er selbst Millionär ist, während er nicht weiß, daß er selbst der Herausgeber von 'Soul' ist, weil er beispielsweise glaubt, daß der Herausgeber von 'Soul' der verarmte Richard Penniless ist.“ H. N. Castaneda in Frank (Hg.) 1994:179f.; ferner Gregory (Hg.) 1989:385 (Darstellung von Dennett und Haugeland s. v. „intentionality“). – Auch Freges berühmtes Beispiel Morgenstern/Abendstern wird in dieser Weise verwertet (z. B. von Klaus Opwis in „Kognitionswissenschaft“ 5, 1995:5); dabei unterläuft oft ein astronomischer Fehler, vgl. z. B. Hist. Wörterbuch d. Philosophie IX s. v. „Sinn/Bedeutung“. – Keil führt noch an: „Während es wahr ist, daß Ödipus absichtlich den Verkehrsrowdy erschlug, ist es unwahr, daß er absichtlich seinen Vater erschlug.“ (Keil 1993:205) Ferner: Er glaubt, daß Blaubeeren gesund sind vs. daß Heidelbeeren gesund sind. Usw. – Der Begriff der „referentiellen Opakheit“ scheint in diesem Zusammenhang zuerst von Quine eingeführt worden zu sein.
Auf seine einfachste Form gebracht, lautet das Argument also: Während der Satz
a) Ödipus heiratete Jokaste
ebenso wahr ist wie der Satz
b) Ödipus heiratete seine Mutter
- ist zwar der Satz
c) Ödipus wollte Jokaste heiraten
wahr, der Satz
d) Ödipus wollte seine Mutter heiraten
aber nicht.
Diese Behauptung ist jedoch falsch. Genauer gesagt, sie wäre nur dann richtig, wenn der Satz d) auf eine Lesart festgelegt wäre, die ihn als Paraphrase folgender Darstellung erscheinen ließe:
Ödipus dachte: „Diese Frau ist meine Mutter. Ich will sie heiraten.“
Die Identifizierung (und gegebenenfalls Benennung) der betreffenden Frau als seine Mutter müßte also von der erwähnten Person selbst vorgenommen werden. Eine solche Interpretation wird aber von Sätzen des Typs d) niemals erzwungen, sie muß vielmehr durch weitere Sätze erst hergestellt bzw. gesichert werden. In einigen Darstellungen geschieht das auch ausdrücklich.
Allgemeiner gesagt: Die Herrschaft der Benennung (und der zugrundeliegenden Kategorisierung bzw. Identifizierung) von im Text erwähnten Gegenständen liegt so lange beim Sprecher, wie dieser sie nicht an eine der von ihm erwähnten Personen abtritt. Dies kann nur durch wörtliche Rede eindeutig geschehen. In Castanedas Beispiel Paul glaubt von (jemandem, der tatsächlich) Mary (ist), daß sie glücklich ist vs. Paul glaubt, daß Mary glücklich ist wird durch die Einfügungen für den ersten Satz eine eindeutige Lesart hergestellt. Hier spricht der Sprecher des Ganzen; die Parenthesen sichern ihm die Benennungsherrschaft zu. Sie besteht rechtmäßig jedoch auch für den zweiten Satz; die Verlagerung der Identifikation der in Rede stehenden Person als „Mary“ in den Nebensatz ändert daran nichts. Es wäre zweckmäßig, zwei verschiedene Redeweisen einzuführen, etwa so: Paul sagt von Mary, sie sei glücklich (= von einer Frau, die Mary ist) vs. Paul sagt über Mary, sie sei glücklich (= über eine Frau, die er für Mary hält). Eine Verhaltensanalyse der Sprache würde sagen: Im ersten Fall wird Pauls Rede von (der Person) Mary gesteuert, im zweiten u.a. von (dem sprachlichen Reiz) Mary. Das entspricht natürlich dem Unterschied von „de re“ und „de dicto“.
Da die gewünschte „intensionale“ Lesart durch mindestens einen zweiten Satz hergestellt bzw. gesichert werden muß, verschwindet das Problem im Grunde, denn aus zwei oder mehr Sätzen läßt sich das Argument nicht mehr konstruieren. In natürlicher Sprache gehen intensionale und nichtintensionale Lesart in oft unklarer Weise nebeneinander her, d. h. die Benennungsherrschaft oder „Perspektive“ wechselt in kaum kontrollierbarer Weise.
„Die“ analytische Philosophie erscheint denen, die sie nicht kennen, oft als ein monolithischer Block, der sie nicht ist. (Frank (Hg.) 1994:12).
In diesem Satz stammt der „weiterführende“ Relativsatz aus der Kategorisierungsmacht des Sprechers; er gehört also nicht mehr zu dem, was die erwähnten Ignoranten glauben. Also nicht:
Die Ignoranten glauben: „Die analytische Philosophie erscheint uns als monolithischer Block, sie ist aber keiner.“
sondern:
Die Ignoranten glauben: „Die analytische Philosophie erscheint uns als (oder ist ein ) monolithischer Block.“ Sie ist aber keiner.
Das alles ist nicht besonders rätselhaft. Standpunktwechsel mitten im Satz kommt in alltagssprachlicher Rede auch sonst sehr oft vor, vgl. etwa:
Sir Ernest Rutherford entdeckte im Jahre 1911 den Atomkern. (FAZ 14.2.1996)
Rutherford wurde erst 20 Jahre nach dieser Entdeckung geadelt, so daß er zum erwähnten Zeitpunkt noch nicht Sir Ernest Rutherford hieß. Das wird aber von dem zitierten Satz auch nicht behauptet, man kann es lediglich aufgrund salopper Gewohnheiten vermuten und wäre dann in diesem Falle auf dem Holzweg.
In ähnlicher Weise läßt sich ein Irrtum aufklären, der im Rahmen der sogenannten „Satzmodus“-Theorie häufig anzutreffen ist. Nach manchen Sprachwissenschaftlern gibt es zu jedem Satztyp eine „Indirektheitsform“.
„Aus Sie fragte, wer das schon wolle kann man die rhetorische Frage Wer will das schon? rekonstruieren, aus Sie behauptete, daß das keiner wolle nicht.“ (Meibauer 1986:39; leicht verändert)
Meibauer bezieht sich ausdrücklich auch auf Ewald Lang, der hier zwischen „transparenten“ und „opaken“ Kontexten unterscheidet. Aus transparenten indirekten Redewiedergaben lasse sich der ursprüngliche Wortlaut (der direkten Rede also) rekonstruieren, in opaken nur der Inhalt. Aber das ist falsch. Die indirekte Rede tritt niemals mit dem Anspruch auf, den Wortlaut der direkten wiederzugeben, sondern vermittelt stets nur deren Inhalt. Es wäre Zufall, wenn darüber hinaus auch der Wortlaut weitgehend übereinstimmen sollte. Natürlich wird das oft zutreffen, weil wir dazu neigen, bei Redewiedergabe im großen und ganzen dasselbe lexikalische Material zu benutzen, das in der wiederzugebenden direkten Rede Verwendung fand.
Es ist im Sinne einer überspitzten „kommunikativen Ethik“ postuliert worden, nur eine transparente Redewiedergabe sei „fair“. Aber das ist unrealistisch und entspricht nicht einmal den Anforderungen, wie sie etwa vor Gericht gelten. Wenn jemand unter passenden Umständen sagt: Hier zieht es! – dann ist der Bericht: X forderte mich auf, das Fenster zu schließen durchaus eine korrekte und auch faire Wiedergabe des Gesagten.
Es ist auch kein Zufall, daß die natürlichen Sprachen so verfahren und nicht dem überspitzten Transparenzpostulat folgen, denn gerade dies macht ja den Unterschied zwischen direkter und indirekter Rede aus: Wiedergabe des Wortlauts gegenüber Wiedergabe des Inhalts.
Übrigens hat bereits Skinner solche Erscheinungen angemessen dargestellt:
"Er sagte, daß er gehen wolle erlaubt nur eine sehr grobe Wiederherstellung des wirklichen sprachlichen Verhaltens; vom mutmaßlichen Original Ich will gehen hat nur gehen überlebt, und wir können nicht einmal sicher sein, daß nicht eine andere der Situation angemessene Reaktion stattgefunden hat. Aber wir wissen ziemlich sicher, welche Art von Situation es war und welche Art von Wirkung die Äußerung gehabt haben könnte.“ (Skinner 1957:19, dt. Übers. Th. I., erscheint demnächst)

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Th. Ickler

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Matthias Dräger
15.11.2002 17.06
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Duden-Trennungen

Bei den von Theodor Ickler genannten Trennungen handelt es sich nur um eine Auswahl. So fehlen natürlich die göttlichen

Tee-na-ger

.

Auch

A-mei-se

ist sicher keine Glanzleistung, das haben die Duden-Leute ja selbst eingesehen, als sie mit ihrem ”Praxiswörterbuch“ die Rechtschreibreform abkochten („Für alle, die schnell und zuverlässig eine einheitliche Schreibweise herstellen wollen“). Draußen auf dem Praxiswörterbuch prangt noch ein toller Stempel: ”Was DUDEN empfiehlt“.

Mit ihren 21. und 22. Auflagen bringen die Duden-Leute Trennungen unters Volks, die sie eigentlich nicht empfehlen können – denn entweder ist man für das eine, oder für das andere. Oder kann man gleichzeitig

A-mei-se (so 21. und 22. Auflage, ebenso Tausende anderer
gleichartige Abtrennungen von Einzelbuchstaben und

Amei-se (so Praxiswörterbuch) empfehlen?

Drogenhändler nehmen ihr Zeug meist wenigstens selber und glauben, daß sie ihren Leuten einen tollen Trip verkaufen. Diese Ethik wird in Mannheim wohl kaum erreicht werden – können Fachleute der Duden-Redaktion wirklich glauben, daß sie mit ihren Basteleien, mit Hyper-Schreibungen wie Lay-out, ein ordentliches Produkt verkaufen?
Da ruft der Rabe: ”NIMMERMEHR!“

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Detlef Lindenthal
15.11.2002 06.10
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„Auf der Grundlage der neuen amtlichen Rechtschreibung ...“

... nachfolgend zwei Leckerlis aus Duden _21 (Oktober 1996):
S. 106: (1)Alp here Schreibweise für (1)Alb
S. 853: Jetzt sollen alle zusammmen singen.
Das bedeutet: Die Dudenleute hatten kein System drin, ihr Opus durch eine Rechtschreibüberprüfung laufen zu lassen und jede Änderung prüflesen zu lassen.

Dann die vielen Wörterverbote (siehe dazu auch http://verbotene-Woerter.de):
hochbegabt und hochqualifiziert verboten (hochexplosiv und hochverehrt noch erlaubt)
hochsensibel ist nicht enthalten.

Das größte Durcheinander ist bei den Wörtern mit wohl... und wieder..., gerade auch im Vergleich zum Bertelsmann-Wörterbuch.

Das Buch enthält 14 Seiten Kommaregeln: viel krauser Kram mit Regeln, die keine Regeln sind (und bekanntlich von den deutschen Zeitungen bis heute mutigst verworfen werden).

Hervorzuheben ist die schlechte Bindung: Klebebindung statt Fadenheftung (fällt nach einem halben Jahr Gebrauch auseinander), im Rücken ist kein Gazeband verklebt -> die Buchdeckel fallen ab.
Aus Sicht der Dudenleute hingegen ist das logisch: Das Buch ist nicht zum Gebrauch bestimmt, sondern dafür, daß es mit seinen breiten Rücken und seinen Gefahrgut-Warnfarben jeden Sekretärinnen-Handbuchbestand beherrsche und Geld in die Dudenkassen spüle. Dazu passend: Auf seinem Einband enthält das Buch 17mal die Buchstabenfolge neu, Neu oder NEU.
Also immer noch die bewährte Duden-„Ethik“: möglichst oft einiges ändern, damit die vorige Lieferung verfällt und die nächste Auflage gekauft wird; das ist die „Ethik“ von Drogenhändlern.

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Theodor Ickler
15.11.2002 04.19
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Duden 96

Den Duden habe ich anscheinend nicht rezensiert, das fällt mir jetzt erst auf. Komisch, denn dieses Buch ist mir geradezu unter den Händen zerfallen, vom vielen Durchblättern.

Hier ist ein kurzer Text, als schwacher Ersatz. Anderes ist in den vergleichenden Übersichten zu verschiedenen Wörterbüchern enthalten (s. Regelungsgewalt).

Was der DUDEN sinnvoll findet

„Die neuen Regeln zur Silbentrennung (Worttrennung) lassen – besonders bei Fremdwörtern – häufig mehrere unterschiedliche Trennmöglichkeiten zu. Der Duden gibt in diesen Fällen bei den Stichwörtern nur die Variante an, die von der Dudenredaktion als die jeweils sinnvollere angesehen wird.“ (DUDEN 1996, S. 12)

Am sinnvollsten erscheinen der Dudenredaktion folgende Trennungen:

Anas-tigmat
Anas-tomose
Emb-lem
Emb-ryo
Emig-rant
Empedok-les
E-nergie
E-pis-tyl
E-pit-rit
Euph-rosyne
Jangt-se
Lac-rosse
La-ot-se
Melanch-thon
Me-töke
Monoph-thong
monos-tichisch
Monst-ranz
Pank-ration
Pen-tathlon
Prog-nose
Katam-nese
Tu-ten-cha-mun


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Th. Ickler

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J.-M. Wagner
14.11.2002 18.57
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Und zum 1996er Duden?

Vielen Dank, Herr Ickler! Genau so etwas habe ich gesucht!

Und nun noch einmal die Frage: Wo steht -- eventuell auch außerhalb dieses Forums -- etwas Vergleichbares zum 1996er Duden? Dringend gesucht!

(So etwas muß es doch geben; sollte es denn keine Möglichkeit geben, die Besitzer jener Dudenausgabe mit einem freundlichen Hinweis auf einen Link zu einer derartigen Rezension über die „fabelhaften Qualitäten“ ihres „verläßlichen Dudens“ aufzuklären?)
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Jan-Martin Wagner

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Theodor Ickler
12.11.2002 14.02
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Bertelsmann 1996

Weiß auch nicht, ob meine Besprechung von 1996 schon irgendwo steht. Hier ist sie jedenfalls (ohne Kursivierung), ich will sie aber auch unter die Aufsätze stellen lassen:

Die neue deutsche Rechtschreibung, verfasst von Ursula Hermann, völlig neu bearbeitet und erweitert von Prof. Dr. Lutz Götze mit einem Geleitwort von Dr. Klaus Heller. Gütersloh: Bertelsmann Lexikon Verlag 1996.

Das rasche Erscheinen des vorliegenden Rechtschreibwörterbuchs im Sommer 1996 hat wesentlich dazu beigetragen, die Einsicht in die Revisionsbedürftigkeit der Rechtschreibreform zu fördern. Darin kann man ein Verdienst sehen.
Das Werk ist mit einem Geleitwort von Klaus Heller versehen, einem Mitarbeiter des Instituts für deutsche Sprache in Mannheim. Auf diese Weise ist es dem Verlag möglich geworden, den Namen der Dudenstadt auf den Einband und den Medienkonzern mit dem Forschungsinstitut in eine zweifellos vorteilhafte Verbindung zu bringen.
Heller schreibt: „Das gewohnte Schriftbild bleibt soweit wie irgend möglich erhalten.“ Hier muß so weit getrennt geschrieben werden, da es sich nicht um die Konjunktion handelt, sondern um den hinweisenden Teil der Korrelativkonstruktion (vgl. Regelwerk § 39 E1 (2), aber E2 (2.4)). Im Wörterbuchteil steht allerdings: ich werde ihm soweit wie möglich nachgeben; aber: lauf so weit wie möglich. Ebenso: ich bin soweit, ich bin soweit fertig, er kann es sowenig wie ich. All dies ist falsch.
Auf das Geleitwort folgen die üblichen Benutzerhinweise, Umschriftalphabete und Korrekturanweisungen sowie eine vier Seiten umfassende Darstellung „Zur Geschichte der Rechtschreibung“, für die der Herausgeber persönlich als Verfasser zeichnet. Sie ist sachlich und orthographisch mangelhaft.
Götzes Vorschau auf die amtlichen Regeln enthält weitere sachliche und orthographische Fehler, auf die hier nicht eingegangen werden soll, zumal sie in den (übrigens nicht gekennzeichneten) Nachauflagen teilweise schon korrigiert sind.
Es folgt ein Abdruck der amtlichen Regeln. Nach jeder Regel gibt der Herausgeber Hinweise auf die Unterschiede zur bisherigen Regelung. In diesen Abschnitten zeigt sich, daß Götze falsche Vorstellungen vom bisher gültigen Duden hat.
Zu § 32: Die Unterscheidung von Dank sagen/danksagen ist kein „Zweifelsfall“ wie sitzen bleiben/sitzenbleiben und wird auch nicht auf wörtliche und übertragene Bedeutung zurückgeführt, sondern entspricht der doppelten Flexionsmöglichkeit sagt Dank vs. danksagt. – Zu § 34: Als bisherige Regelung wird abhandenkommen angeführt. Das ist falsch. Auch die Gegenüberstellung von bisherigem festhalten und neuem fest halten ist nicht korrekt, da beide Möglichkeiten mit unterschiedlicher Bedeutung immer gegeben waren und auch nach der Neuregelung erhalten bleiben. – Zu § 36: Hier wird zunächst wieder abhanden kommen fälschlich als Neuschreibung gekennzeichnet. Auch dicht behaart, hell strahlend, leuchtend rot, schwach bevölkert waren schon früher möglich; neu ist nur ihre ausschließliche Geltung. Gefangen nehmen gehört nicht unter diesen Paragraphen. – Zu § 37: Die Alternativschreibungen viertel Kilogramm/Viertelkilogramm usw. sind keineswegs neu. – Zu § 39: Es trifft nicht zu, daß eine bisherige Alternativschreibung an Hand/anhand durch die alleinige Schreibung anhand ersetzt worden wäre; auch das Wörterbuch selbst ist anderer Meinung. Die variante Schreibung auf Grund/aufgrund ist nicht neu. Aufseiten war ebensowenig die bisherige Norm wie mithilfe. – Zu § 45: Die vereindeutigenden Schreibungen Drucker-Zeugnis/Druck-Erzeugnis sind nicht neu. Kaffeeersatz war nicht die durch Kaffee-Ersatz/Kaffeeersatz zu ersetzende alte Schreibung. Entsprechendes gilt für Sollstärke gegenüber angeblich neuem Soll-Stärke/Sollstärke. Vgl. Duden (alt) R 33ff. Hier sind also sämtliche Beispiele fehlerhaft, außerdem ist der Kursivsatz falsch gehandhabt. – Zu § 51: Goetheausgabe ohne Bindestrich war keineswegs die allein mögliche Schreibung, Helsinkinachfolgekonferenz natürlich erst recht nicht. Vgl. R 135 und R 149 des alten Dudens. – Zu § 52: Daß die bisherige Schreibung Frankfurt Hauptbahnhof usw. durch eine alternative Schreibung mit Bindestrich ergänzt worden sei, ist nicht richtig, vgl. R 154. – Zu § 55: Dienstag mittag ist keine neue Alternativschreibung, sondern die abgeschaffte alte Schreibweise. Bei auf Grund wird der obengenannte Fehler wiederholt. – Zu §56: Hier wird die Toleranzregel, die viertel Pfund/Viertelpfund zur Wahl stellt, als „vorteilhaft“ gelobt; sie entspricht aber dem bisherigen Gebrauch. Allerdings versuchte der Duden bisher, die beiden Schreibweisen mit unterschiedlichen Bedeutungsnuancen zu begründen. – Zu § 58: Neben auf das herzlichste ist künftig auch die Großschreibung zulässig. – Zu § 71: Die Kommasetzung bei mehreren attributiven Adjektiven ist keineswegs toleranter als bisher; das Beispiel neue computergestützte Lehrverfahren vs. neue, computergestützte Lehrverfahren entspricht vielmehr genau der bisherigen Regelung. – Zu § 108: Hier wird behauptet, -ss- werde neuerdings getrennt, wenn es „statt bisherigem -ß- steht“. Darum geht es jedoch nicht, sondern um die Ersatzschreibung mit Typensätzen, die kein ß enthalten. -
Der größte Teil dieser erstaunlichen Irrtümer hätte sich durch einfaches Nachschlagen im alten Duden vermeiden lassen. Die fehlerhafte Darstellung der geltenden Regeln wirft auch ein bezeichnendes Licht auf die von Götze so oft bekundete Befürwortung der Neuregelung.
Vor dem eigentlichen Wörterverzeichnis findet man eine alphabetische Kurzgrammatik.
Das Wörterverzeichnis enthält mehrere hundert rot umrandete „Kästen“, in denen anläßlich von Beispielwörtern die wichtigsten Neuregelungen veranschaulicht werden. Die kritische Musterung folgt der alphabetischen Ordnung.
„Kleingeschrieben wird das Zahlwort: (...) achtjährig (8-jährig), die ersten acht. (...) In festen Verbindungen wird Acht großgeschrieben: Acht geben (...) Großgeschrieben werden darüber hinaus Substantivierungen: der/die/das Achte.“ Die Unterbringung der Homonyme im selben Kasten ist irreführend. – Ein eigener Kasten zur Getrenntschreibung von besser gehen usw. scheint überflüssig, da derselbe Sachverhalt naturgemäß unter dem Positiv gut gehen seinen Platz hat und dort auch in einem weiteren Kasten angemessen dargestellt ist. – Blau machen soll „in Analogie“ zu blau färben usw. getrennt geschrieben werden, d.h. zu solchen Verbindungen, bei denen das Adjektiv erweitert oder gesteigert werden kann – eine etwas rätselhafte, zudem systemwidrige Begründung. – Die neue ss-Schreibung wird u.a. am Beispiel Cashewnuss durch einen Kasten veranschaulicht, nicht etwa unter Nuss. Auffindbar ist sie allerdings ohnehin nur durch Zufall. – Der Kasten auf S. 291 lautet: „danebenstehen/daneben stehen: Zusammensetzungen aus Partikeln wie daneben und Verben werden in den unflektierten (nicht gebeugten) Formen zusammengeschrieben: in der Diskussion danebenstehen (= sich nicht hineinversetzen können)" (...) „Als Wortgruppe wird das Gefüge jedoch getrennt geschrieben: Er hat daneben gestanden. Ebenso: daneben sein, daneben gehen, daneben liegen, daneben schießen. ® § 34 E1“. Hier und bei zahlreichen anderen Einträgen (dabeisitzen, darangehen, heraufgehen, übergehen, umfassen, widerhallen u.a., vgl. auch entlanggehen und preisgeben) ist kein Verständnis der Regel zu erkennen. – Unter eng anliegend heißt es: „Gefüge aus Adjektiv und Partizip werden im Einzelfall getrennt geschrieben.“ Was mag das bedeuten? – Bei fertig stellen, fertig bringen und anderen Fügungen mit fertig schreibt Götze: „Gefüge aus Adjektiv und Verb, bei denen das Adjektiv in dieser Verbindung steigerbar oder erweiterbar ist, werden getrennt geschrieben.“ (S. 384) Diese Bedingung ist aber beispielsweise bei fertig bringen gar nicht erfüllt. Einschlägig ist vielmehr die sonderbare Regel des amtlichen Regelwerks, wonach Adjektive auf -ig, -isch und -lich getrennt geschrieben werden. – Der Kasten Haus halten/haushalten stellt das grammatische Verhalten dieses Gefüges nicht zutreffend dar; die Schreibung haushalten, hausgehalten hat nach der Neuregelung keine Berechtigung mehr. – Superlativformen mit am „können“ nicht, sondern müssen klein geschrieben werden (Kasten S. 467). – „In Gefügen aus Substantiv und Verb schreibt man das Substantiv groß: Er war gestern Klasse. [§ 34 E3 (5)].“ Aber darum geht es nicht, sondern darum, daß klasse als Attribut klein geschrieben wird, als Prädikatsnomen hingegen nur noch groß (wo bisher die Option der Kleinschreibung bestand). Der zitierte Unterpunkt von § 34 bezieht sich auf Angst haben usw. und ist nicht einschlägig. – Linksgerichtet soll zusammengeschrieben werden, weil der erste Teil für eine Wortgruppe im Sinne von § 36 (1) steht, wohl nach links. Aber warum soll dasselbe auch für linksstehend gelten? – Der Kasten Mitternacht/heute Mitternacht drückt sich in auffälliger Weise um die Beantwortung der Frage, ob die Zeitangabe neuerdings tatsächlich Dienstagmitternacht geschrieben werden muß, wie es nach § 55 anzunehmen, dort aber ebenfalls nicht ausdrücklich verzeichnet ist. Die Neuregelung heute Abend – morgen früh – Dienstagmorgen gehört bekanntlich zu den größten Absurditäten der Reform, was aber Götze nicht von dem Kommentar abhält: „Gegenüber der bisherigen Schreibung herrscht jetzt Klarheit.“ (S. 309) Die bisherige Schreibung war: heute abend – morgen früh – Dienstag morgen. Was ist daran unklar? – Die Zusammenschreibung von preisgeben wird irrtümlich auf § 34 (2.2.) bezogen. Einschlägig ist vielmehr die Liste § 34 (3). – Das untrennbare Verb rechtfertigen wird zu Unrecht auf § 34 bezogen, und das defektive rechtschreiben gehört wieder anderswohin. – Wieso Schlegel (´Rehkeule´) das Stammprinzip verwirklicht, ist nicht zu erkennen. – Zu selbständig/selbstständig bemerkt Götze: „Die bisherige Regelung – Tilgung des zweiten -st- – wird aufgehoben.“ Das trifft aus historischer Sicht nicht zu. Auch ist die Feststellung „Beide Schreibweisen sind korrekt“ schief, da es sich nicht um zwei Schreibweisen desselben Wortes, sondern um zwei verschiedene Wörter handelt. – Die beiden (ungeschickterweise getrennten) Kästen auf S. 867 geben keine zutreffende Darstellung der Getrennt- und Zusammenschreibung von so oft bzw. sooft und ähnlichen Dubletten. Entscheidend ist der Unterschied zwischen dem hinweisenden so oft und der Konjunktion sooft. – Daß die „mehrteilige Konjunktion“ sowohl als auch getrennt geschrieben wird, bedarf keines besonderen Hinweises, da die beiden Teile ja ohnehin nicht in Kontaktstellung vorkommen. – Unter statt liest man: „Das feste Gefüge schreibt man getrennt: an Eides statt. Aber: an meiner Statt/anstatt meiner.“ Wenige Zeilen später heißt es im laufenden Text: „an Kindes Statt, an Eides Statt, an Zahlungs Statt“. – Der Kasten „Staub saugen/staubsaugen“ verweist zwar auf § 33, läßt aber nicht erkennen, daß es dort keineswegs um Zusammenschreibung trennbarer Verben geht, sondern um das untrennbare staubsaugen (er staubsaugt usw.), das Götze im Gegensatz zum Duden überhaupt nicht zu kennen scheint. Das mehrmals angeführte staubgesaugt ist sowohl nach alter wie nach neuer Orthographie unrichtig. Als Muster einer zutreffenden Darstellung kann der Kasten zu gewährleisten/Gewähr leisten dienen. – Zu Tabula rasa meldet der Kasten: „Im Gegensatz zur bisherigen Schreibweise (tabula rasa) wird das fremdsprachige Substantiv mit großem Anfangsbuchstaben geschrieben, da es sich nicht um ein Zitatwort handelt: Tabula rasa (machen). Ebenso: Terra incognita.“ Selbstverständlich stehen beide Ausdrücke genau so bereits im alten Duden. – Zu tropfnass, das auch schon im Regelwerk (§ 36) als Beispiel angeführt wird, sagt der Kasten: „Verbindungen aus einem Verbstamm und einem Adjektiv, bei denen der erste Bestandteil für eine Wortgruppe steht, schreibt man zusammen: das tropfnasse Hemd.“ Natürlich ist es für ein solches Kompositum ganz gleichgültig, „wofür“ der erste Bestandteil „steht“. Durch die überflüssige Auskunft buchstabiert Götze den entsprechenden Abschnitt der amtlichen Regelung mit dankenswerter Klarheit aus. – Zu vereinzelt/Vereinzelte wird wiederum behauptet, die Großschreibung der Substantivierung stehe „im Gegensatz zur bisherigen Schreibweise“, was jedoch nicht zutrifft. – Unter wiederholen wiederholt Götze einen alten Dudenfehler: Im Anschluß an Sie wollen das Geld wiederbekommen – als Beispiel der Zusammenschreibung in der Bedeutung ´zurück´ heißt es: „Ebenso: Sie wollen das Stück wiederholen. (Akzent auf dem Verb).“ Gegen diese gar nicht hierhergehörige Bestimmung wird dann die Akzentuierung des getrennt zu schreibenden Verbkomplexes abgesetzt: „In der Bedeutung ´erneut, nochmals´ wird das Gefüge getrennt geschrieben (Akzent auf der Partikel wieder): Sie will die Trophäe wieder holen (= erneut).“ – Die volksetymologische Schreibung Zierrat würdigt Götze in einem eigenen Kasten: „Analog zu der Vorrat wird zukünftig bei der Endung -rat ein vorausgehendes -r- geschrieben.“ Aber in dem Wort Vorrat ist -rat keine „Endung“, sondern das Grundwort eines Kompositums. – Die Kennzeichnung von zu Gunsten in der Verbindung zu seinen Gunsten als neu ist irreführend.- Viele Kästen sind überflüssig. So enthält der Kasten Kommuniqué/Kommunikee einfach noch einmal, was im laufenden Text des Wörterverzeichnisses ohnehin steht, daß nämlich das erste die Haupt- und das zweite die Nebenvariante sein soll.
Bei aller Fehlerhaftigkeit in Rechtschreibfragen ist das Werk politisch korrekt: „Es bleibt dem/der Schreibenden überlassen, ob er/sie statt der bisher üblichen Trennungsmöglichkeiten nach seiner/ihrer Aussprache trennt.“ Anstößige Wörter wie Emanze und Tippse sind nicht aufgenommen.
Bei dreieckig, durchackern, edel, Eja-, elektri-, Emi-, Eo- und einigen anderen Wörtern äußert Götze in eigens hierfür angelegten Kästen die Meinung, aus "ästhetischen Gründen“ werde die Abtrennung einzelner Buchstaben nicht empfohlen. Das ist eine Zutat, die im Regelwerk keine Grundlage hat. Falsch ist die Trennung e|o ipso, vgl. §107 E. Die Schreibweise Schahinschah (ohne Bindestriche) ist von Götze neu eingeführt und zieht die befremdliche Trennung Scha-hinschah nach sich. – Zahllose Trennmöglichkeiten werden jedoch – wie im neuen Duden – gar nicht erst angegeben. Keines der neueren Wörterbücher will wahrhaben, daß nach den neuen Regeln vol-lenden (§ 112) getrennt werden kann. – Nicht die Trennung Bang-ladesh ist neu, sondern die englische: Ban-gladesh. – Sketsch ist keine Neuschreibung. – Barutsche ist alphabetisch falsch eingeordnet. – Schlag acht Uhr soll in der Schweiz und in Österreich weiterhin klein geschrieben werden. Das ist offenbar ein versehentlich stehengebliebener Rest der alten Dudennorm. Wohl aus Versehen schreibt Götze auch spinnefeind klein, während er inkonsequenterweise bei jdm. Feind sein die absurde Neuregelung pünktlich befolgt.
Bei der Großschreibung lateinischer Substantive herrscht Unsicherheit: Alma mater, aber Alma Mater s.v. Ultima Ratio. Vgl. auch Corpus delicti, Corpus iuris, (aber Corpus Iuris canonici), Alter ego. Einschlägig ist § 55 (3), der für den substantivischen Teil Großschreibung verlangt.
Götze löst in vermeintlicher Befolgung der neuen Getrenntschreibung die infiniten Formen maschinenschreiben und maschinengeschrieben (mit dem Fugen-n, das eindeutig auf Komposition hinweist) in Maschinen schreiben und Maschinen geschrieben auf. – Einträge vom Typ „harntreibend; ein Harn treibendes Mittel“ tragen auch nicht zur Klärung bei.
Das Buch enthält so viele Fehler, daß nicht einmal eine repräsentative Auswahl vorgeführt werden kann. Das ist jedoch kein großer Schaden. Die bevorstehende Revision der Rechtschreibreform durch eine zwischenstaatliche Kommission führt zwangsläufig dazu, daß alle bisher ausgelieferten neuen Wörterbücher in Kürze überholt sein werden. Dadurch verliert die außerordentliche Fehlerhaftigkeit des vorliegenden Werkes an Gewicht.

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Th. Ickler

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J.-M. Wagner
11.11.2002 17.02
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Gesucht wird ...

Ich habe Herrn Icklers Besprechung der 1996er Bertelsmann-Rechtschreibung nicht gefunden (auf die z. B. in der Stichprobensammlung verwiesen wird); unter den Aufsätzen steht nur etwas zur 1999er Ausgabe ("Omüll").

Außerdem suche ich dringend eine Rezension des 1996er Dudens, und zwar eine, die klipp und klar etwas über die Abweichungen vom amtlichen Regelwerk (d. h. die Fehlinterpretationen) sagt (und diese ggfs. zusammenfaßt). Ich finde einige Seiten (so z. B. in der Peilschen Sammlung und bei H.-J. Martin), auf denen die Entwicklung der Schreibweisen von Auflage zu Auflage dargestellt wird -- was zweifellos wichtig ist, aber es wird nicht dazugesagt, welche davon dem amtlichen Regelwerk entsprechen und welche nicht (siehe auch "Das Beispiel 'wieder' [Duden]"); genauso bei einer Gegenüberstellung des 1996er Dudens und dem 1996er Bertelsmann.

Wer hilft mir bei der Suche? Mit Dank im voraus,
__________________
Jan-Martin Wagner

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Dominik Schumacher
03.07.2001 18.18
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Die längeren Aufsätze auch hier in der Datenbank anzubieten hat Vorteile:
Sie sind in einem Vorgang neben allen anderen Einträgen durchsuch- und findbar.
Wir werden nach und nach alle Aufsätze hier an dieser Stelle neu anbieten. Sie sind jetzt schon erreichbar über die Verweiseleiste auf der Willkommensseite mit Klick auf den Wortteil Auf(satz). Ebenso ist dieses Forum sofort offen für neue Aufsätze angemeldeter Nutzer. Der Aufsatz selbst soll dabei der erste Beitrag, also das Leitthema sein. In weiteren Beiträgen (Antworten) kann dann allerdings der Aufsatz mit dem Autor lebhaft diskutiert werden. Neue Denkanstöße können so auch in den Aufsatz Eingang finden.

Leider mußte ich beobachten, daß das Einstellen des langen ersten Aufsatzes (40K) nur von Netscape Navigator, nicht aber von Internet Explorer oder iCab verkraftet wurde.

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