Junge Kanoniere oder: Die Unbedingtheit der Liebe ist darzulegen
Bemerkungen zu den Bildungsstandards Deutsch (KMK-Beschlüsse vom 4. 12. 2003)
Aus der „Curriculum“-Diskussion der siebziger Jahre sind die „Lernziele“ (Richt-, Grob- und Feinziele) in Erinnerung geblieben. Es wurde damals so eifrig gezielt, daß Lehrpläne und Unterrichtsentwürfe sich wie Anleitungen für die Artillerie lasen. Dasselbe martialische Vokabular kennzeichnet die neuen Bildungsstandards für das Fach Deutsch. Sechzehnmal ist von „zielgerichtetem“ und „gezieltem“ Verhalten die Rede, siebzehnmal von „Strategien“, welche die Schüler anwenden sollen. Texte sollen sie zielgerichtet durch den gezielten Einsatz sprachlicher Mittel verfassen, Informationen holen sie nicht einfach durch Fragen ein, sondern durch gezieltes Fragen; Fehler vermeiden sie selbstverständlich durch „Strategien zur Fehlervermeidung“. Auch zum Lesen verfügen sie über „Lesestrategien“. Zu dumm nur, daß solche Lesestrategien weitgehend Phantasieprodukte sind. Die Lehrer selbst verfügen jedenfalls nicht darüber, sondern lesen langsam und gründlich, wenn sie Zeit haben, und schnell und flüchtig, wenn sie keine haben, und das ist auch schon alles.
Die Bildungsstandards sind typische Produkte von Kommissionssitzungen. Da alles Konkrete umstritten ist, einigt man sich auf die weitschweifigste Umschreibung von Selbstverständlichkeiten. der Text wird durch wissenschaftlich klingende Streckformen aufgebläht. „Schreiben“? Viel zu einfach! Man sagt jetzt: „einen Schreibprozess eigenverantwortlich gestalten“. „In der mündlichen Äußerung beachten sie wichtige Regeln der Aussprache, in den (sic) schriftlichen die der Orthographie und Zeichensetzung.“ Normal ausgedrückt: Sie sprechen und schreiben richtig.
Max Frisch wird in Originalorthographie wiedergegeben, Heinrich Heine in Reformschreibung, weil die Urheberrechte erloschen sind. Die KMK schreibt durchweg „selbstständig“ (bis auf einen vereinzelten Ausrutscher), offenbar in der irrigen Meinung, die Änderung habe etwas mit der Rechtschreibreform zu tun. „Litfasssäule“ und „Denkanstösse“ sind nicht korrekt. „weiterentwickeln“ wird auch nach der Rechtschreibreform zusammengeschrieben.
Die angestrebten Verhaltensweisen sind nicht einmal im Ansatz operationalisierbar abgefaßt. Wann ist eine Aufgabe „differenziert“und „angemessen“ gelöst, eine Meinungsäußerung „begründet“, „fundiert“, „sachkompetent“? Als Ersatz werden Musterlösungen geboten. Sie sind überaus konventionell. Zwei Liebesgedichte von Heine und Fried sollen verglichen werden: „Im Vergleich der Auffassung von Liebe in beiden Gedichten ist die Unbedingtheit und Absolutheit des Gefühls darzulegen, als Unterschied ist bei Fried darauf hinzuweisen, dass die Liebe ausschließlich im Ich erfahren und festgehalten werden kann, während alles andere vergänglich und flüchtig bleibt; bei Heine auf die Liebeserfahrung in der Verschmelzung von Ich, Natur und Liebe; für Fried gibt es keine Möglichkeit der Verschmelzung von Ich und Liebe mit der Natur mehr; möglich wäre eine knappe historische Einordnung oder Identifizierung.“ Das ist der überkommene Jargon der paraphrasierenden „Interpretation“, eine Welt für sich, deren „Beitrag zur Bildung“ und „Persönlichkeitsentwicklung“ junger Menschen doch sehr fraglich bleibt.
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Th. Ickler
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