Morbus
Frau Menges ist eindeutig nicht auf dem neuesten Stand der Entwicklung. Die Wirtschaft sucht inzwischen nicht mehr den Angepaßten, der alles genauso vorprogrammiert macht, wie er es in den verschiedenen Stationen seiner Zurichtung auf Wirtschaftsbelange hin gelernt hat, sondern das querdenkerische, introvertierte Genie, das von all dem modischen Gewäsch nichts wissen will, sich in eine selbstgewählte Interessenwelt vergrübelt und dort in aller individuellen Unabhängigkeit auf Ideen kommt, die im Abhängigkeitsgeflecht der Wirtschaftsunternehmen auch nicht ansatzweise entstehen könnten, die sich die Wirtschaftsstrategen mangels eigener Kreativität aber zunutze machen wollen.
Inzwischen hat man in den Etagen, wo die Entscheider der Wirtschaft zu definieren versuchen, was ein moderner Mensch an Wissen und Fähigkeiten vorzuweisen, also in der Schule zu erlernen hat, damit er der Wirtschaft nützt – denn dies, nicht wahr, ist doch der Sinn eines jeden Menschenlebens – längst erkannt, daß alles, was bisher in diesem Zusammenhang von Bildungsstrategen erörtert wurde, total unnütz gewesen ist. Denn die Geschichte der Wirtschaft hat ja erwiesen, daß die bisherigen Rezepte und Entwürfe des modernen wirtschaftskompatiblen Menschen uns nicht vor unserer heutigen Situation bewahrt haben: Die Wirtschaft steckt weltweit in ihrer dicksten Krise, wir haben eine mehrheitlich phantasielose, politisch unreife, geistig unselbständige und ungebildete Bevölkerung, die ihr Seelenheil in minderwertigen, wenn nicht obszönen Medien und Vergnügungen vergeblich aber umso beharrlicher sucht, wir haben Firmenpleiten und Arbeitslose in nie dagewesener Menge. Wir haben geistig-seelische Hilflosigkeit bei gleichzeitiger existentieller Verunsicherung. Und das trotz gesellschaftspolitischer Theorien in Durham-Qualität seit mindestens 40 Jahren.
Also haben die bisherigen Rezepte und diese Durham-Theorie führt sie ja offensichtlich nur mit ähnlichen Allgemeinplätzen, die in diesen Kreisen für Wissenschaft gehalten werden, weiter überhaupt nichts gebracht. Die Wahrheit ist, daß in wirtschaftlich guten Zeiten selbst ausgemachte Idioten erfolgreich sein können. Umgekehrt werden in schlechten Zeiten auch Menschen mit noch so wirtschaftsorientierter Schulung, wie sie Frau Menges als zukunftsweisend postuliert und dabei offensichtlich den diesem Ausbildungs- und Menschenideal innewohnenden Horror gar nicht sieht, demselben Schicksal des Scheiterns anheimfallen, wie alles um sie herum.
Die Schulen müßten begreifen, daß sie die Aufgabe haben, den Kindern in erster Linie eine zunächst von jeglichem Berufsziel völlig unabhängige humane Bildungsgrundlage zu vermitteln, die es ihnen ermöglicht, sich später für ein nach eigenen Ideen gestaltetes Leben zu entscheiden. Dazu gehören selbstverständlich Schreiben, Lesen, Rechnen, Grundwissen in verschiedenen Bereichen der Allgemeinbildung und Musisches. Mit einer solchen Grundlage, bei der die in diesem Durham-Elaborat aufgeführten „Fähigkeiten“ als schon im Kindergarten und im Alltag vermittelt sozusagen bereits abgehakt sind, werden die jungen Menschen in jedem Beruf, für den sie sich entscheiden, leicht das hinzulernen, was dort gebraucht wird. Schon in den Grundschulklassen darauf hinarbeiten zu wollen, welchen Menschentypus „die Wirtschaft“ braucht, ist nicht allein unmenschlich, sondern auch dumm und überdies völlig vergeblich.
Der Gedanke, es sei letztendlich egal, welche Rechtschreibfähigkeiten die Arbeitskräfte in der Wirtschaft künftig haben, ist so unter jeglicher Würde eines für Bildung verantwortlichen Menschen, daß ich ihn selbst bei Frau Menges nicht vermutet hätte. Also gibt es doch den Morbus gleichen Namens, wobei er sicherlich noch viele andere Namen hat.
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Walter Lachenmann
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