Verblüffung und Verunsicherung
Liebe Frau Menges!
Ich bin perplex; haben Sie das wirklich geschrieben? War Ihnen eventuell nicht klar, was ich jeweils gemeint habe? Kennen Sie den Hintergrund meiner Argumentation? Ich bin mir nicht sicher, wie ich Ihre Antworten verstehen kann stimmen Sie mir zu oder wollen Sie mir widersprechen? Teilen Sie die Kritik an der Reform oder nicht?
Ich versuche mal, unsere Positionen unter einen Hut zu bringen, und fange damit von hinten an: R. Menges: Wir lernen nicht nur aus der Vergangenheit, sondern auch aus der Zukunft! Lesen und Schreiben sind keineswegs nur instrumentelle Fertigkeiten, sondern beinhalten Fähigkeiten wie das Denken, Experimentieren und Konstruieren. Ein Physiker macht ein Gedankenexperiment, wenn er auf diese Art und Weise etwas aus der Zukunft lernen will. Ich stimme Ihnen nachdrücklich zu, daß solches Denken, Experimentieren und Konstruieren auch beim Lesen und Schreiben relevant sind was mir erst durch Ihre klare Formulierung so richtig bewußt geworden ist, liebe Frau Menges!
Auch ich widerspreche der Auffassung, daß Lesen und Schreiben lediglich instrumentelle Fertigkeiten zur Wahrnehmung von Bildungsinhalten seien wo bliebe da die Poesie? Aber diese Auffassung, die das Denken, Experimentieren, Konstruieren und die Poesie ignoriert, wird vom Vorsitzenden der Rechtschreibkommission, Prof. G. Augst, als Tatsache hingestellt! Er benutzt diese Tatsache als Argument, um die Diskussion über die deutsche Rechtschreibung zu versachlichen. Ich zitiere noch einmal aus seiner Pressemitteilung vom 31. Juli 1997: Rechtschreibreform: Kommissionsvorsitzender Augst fordert sachliche Diskussion
Der Vorsitzende der zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung, Professor Dr. Gerhard Augst (Universität-GH Siegen), fordert ein größeres Maß an Gelassenheit und Sachlichkeit in der Diskussion über die deutsche Rechtschreibung. Populistische Meinungsäußerungen dürfen, so Prof. Augst, Fakten nicht verdrängen. [...] Tatsachen seien vielmehr: [...] - Die neuen Rechtschreibregeln bedeuten keinen Kulturbruch. Lesen und Schreiben sind instrumentelle Fertigkeiten, die benötigt werden, um Bildungsinhalte wahrnehmen zu können. Änderungen in der Rechtschreibung haben keinen Einfluss auf den Wortschatz.
[...] Sie sehen, liebe Frau Menges, woher diese Auffassung stammt, der Sie mit Recht widersprochen haben, und zu welchem Zweck sie benutzt wird: Es soll damit die Kritik an der Reform zurückgewiesen werden! Gleichzeitig aber und das darf man dabei nicht übersehen sagt doch die Anwendung dieses falschen Argumentes etwas über den geistigen Horizont desjenigen aus, der es vertritt. Weil das in diesem Fall der Kommissionsvorsitzende und ehemalige Chefreformer, Professor (!) Augst ist, sagt dieses falsche Argument auch etwas über den intellektuellen Hintergrund der gesamten Reform aus daß man offenbar bei der Ausarbeitung der Reform von falschen Voraussetzungen ausgegangen ist.
Liebe Frau Menges, indem Sie dieses Argument von Herrn Augst zurückweisen, weisen Sie implizit die gesamte Reform zurück!
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R. Menges: Das Rad rückwärts zu drehen hat es in unserer Geschichte noch nicht gegeben, also müssen wir nach vorne schauen. Daher kann es nicht eine Sachlage geben, in der wir wieder bei der Ausgangslage 1996, wie Herr Kunze und Herr Ickler meinen, anfangen. Nach vorne schauen: Für meine Begriffe ist es ja genau das, was Herr Ickler macht! Die Ausgangslage für die Zukunft ist die jetzige Situation, in der wir »ein wahrhaft fehlerhaftes Unterrichtswerk« haben, bei dem man »sich auf nichts verlassen« kann. Was ist da nun zu tun?
Es kann nicht darum gehen, zu der überreglementierten Dudenorthographie zurückzukehren, sondern es kommt darauf an, einen Schritt vorwärts zu machen, der gleichzeitig zwei Probleme auf einmal löst: Es müssen die Fehler der jetzigen Regeln beseitigt werden, ohne dabei die Spitzfindigkeiten der alten Dudenregeln wiederherzustellen. Denn das eigentliche Problem mit der herkömmlichen Orthographie war ja im wesentlichen nicht die Orthographie an sich die war sehr gut! Das eigentliche Problem waren die Regeln, in die sie gekleidet war.
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R. Menges: (Wagner)Die Frage ist nur, wo vorn ist.
Wir haben eine Rechtschreibreform, die es nicht gebraucht hätte. Ich sehe aber nur darin einen Sinn, diese Orthografie weiterzuentwickeln und nicht das Rad zurückzudrehen. Todenhöfer schreibt in seinem neuen Buch zum Beispiel die neue Rechtschreibung, aber er wendet diese mit ganz vielen Kommas an. Was genau meinen Sie mit weiterentwicklen, liebe Frau Menges? Was soll(en) das/die Leitprinzip(ien) für diese Weiterentwicklung sein? Welches Leitprinzip vermuten Sie hinter Todenhöfers Entscheidung, möglichst viele Kommas zu setzen?
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R. Menges: (Wagner)durch die Erfindung einer stark regelbezogenen Rechtschreibung das Schreiben erleichtern
Hier helfe ich gerade weniger Begabten keineswegs, denn diese Schüler haben Schwierigkeiten Regeln selbstständig anzuwenden und auf Neues zu übertragen.
Gerade die Anwendung von Regeln gelingt ihnen nicht. Ganz meine Meinung, Frau Menges! Und bitte teilen Sie diese Ihre Ansicht den Reformern bzw. der Rechtschreibkommission mit! Deren Ziel war es nämlich, die Anwendung von Regeln (die im Bereich der GZS weitestgehend auf formalen Kriterien beruhen, nicht auf inhaltlichen) zum Standard zu machen, weil das als Fortschritt angesehen wurde. Der vorreformatorische Zustand wird nämlich so beschrieben: »Außerdem ist vieles an der Rechtschreibung ungeregelt und damit extrem lernfeindlich.« (Augst: Thesen) Für die reformierten Rechtschreibung gilt dagegen: [Es ist die] Grundintention der Neuregelung, außerhalb bestimmter Teile der Wortschreibung im engen Sinn (Laut-Buchstaben-Beziehungen; Teil A des amtlichen Regelwerks) keine Regelung über das Wörterverzeichnis vorzunehmen. Das heißt, der Schreibende sollte sich in den Bereichen B bis F des amtlichen Regelwerks darauf verlassen können, dass die Schreibung allein auf Basis des Regelteils sicher hergeleitet werden kann, also ohne Konsultation des amtlichen Wörterverzeichnisses. Dies ist umso wichtiger, als das amtliche Wörterverzeichnis nicht jede aus den Regeln ableitbare Schreibung zeigen kann; insbesondere wird die Anwendung fakultativer Regeln (etwa im Bereich der Schreibung mit Bindestrich) gewöhnlich nicht vorgeführt. Streng logisch gesehen, hat das amtliche Wörterverzeichnis in Bezug auf die Teile B bis F des Regelteils nur illustrierenden, nicht normsetzenden Charakter.
(3. Bericht der ZKfdR, Seite 64) Es ist aber keineswegs so, daß allein eine stärkere Regelbezogenheit zu mehr Rechtschreibsicherheit führt. Im Gegenteil, im 3. Kommissionsbericht wird betont, wie wichtig der vom Sprachgefühl her gesteuerte Umgang mit der Rechtschreibung ist: Bei der Besprechung der Änderungen stellt sich zur Verblüffung vieler Kursleiterinnen und -leiter heraus, dass die Kenntnis der alten Rechtschreibung im Großen und Ganzen nicht auf einer Kenntnis der Regeln beruht. Die allermeisten beherrschen die [alte] Rechtschreibung gut, können die einzelnen Schreibungen aber nicht begründen. Das Sprachgefühl steuert die Kommasetzung, die Getrennt- und Zusammenschreibung, die Groß- und Kleinschreibung und auch die Laut-Buchstaben-Zuordnung.
(3. Kommissionsbericht, S. 57) Daran sehen Sie, liebe Frau Menges, daß auch Ihre zweite fundamentale Kritik an der Reform sehr berechtigt ist!
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R. Menges: (Wagner) durch die Veränderung der Schulorthographie die Rechtschreibung insgesamt ändern und ihr Niveau dem der Schüler anpassen
Dieses Thema wurde hier bereits kontrovers diskutiert:
1. Eine Rechtschreibung, die wir dem Niveau des Schülers anpassen, wird es niemals geben!
2. Eine Rechtschreibung muss für alle verbindlich sein, für den hochbegabten Wissenschaftler, den Germanisten, den Journalisten und für den Schüler.
3. Ein Herunterziehen der Regeln, Normen und Werte auf Schülerniveau wäre in jedem Fall unangebracht. Schüler benötigen Vorbilder, Ziele und Werte, an denen sie sich orientieren können. Volle Zustimmung zu Ihrem zweiten und dritten Punkt, liebe Frau Menges! Das Problem liegt aber in dem ersten Punkt: Es war das erklärte Ziel der Reform, das Schreiben zu vereinfachen und die Fehleranzahl zu reduzieren. Dazu noch einmal der Vorsitzende der Rechtschreibkommission, Prof. Augst: Auch nimmt die Zahl der Berufe zu, in denen geschrieben wird. Aber viele Menschen können nicht r i c h t i g schreiben. Man schätzt ihre Zahl im deutschen Sprachraum auf ca. 60 % der Bevölkerung. Sie vermeiden das Schreiben, um sich nicht zu blamieren; denn eine gute Rechtschreibung gilt vielen sogar als Ausweis von Intelligenz. Man könnte mehr üben, aber die Möglichkeiten der Schule sind ausgereizt.
(Augst: Thesen) Wie Sie wissen, hat man nicht versucht, die angestrebte Vereinfachung dadurch zu erreichen, daß die Regeln von Ballast befreit und klarer gefaßt wurden im Gegenteil, die amtlichen Regeln sind wesentlich schwerer zu verstehen als die bisherigen Dudenregeln. Nein, man hat es anders gemacht und der letzte Satz dieses Zitates weist bereits den Weg: Wenn man keine Chance mehr sieht, das Bestehende besser zu vermitteln, dann muß es auf ein leichter vermittelbares Maß reduziert werden. Dabei wird übersehen, daß es auch anders gehen könnte, und das ist umso überraschender, da die andere Möglichkeit (Durchkämmen der Regeln) viel näher liegt und viel weniger Unheil anrichtet.
Liebe Frau Menges, genau das, was Sie ablehnen, ist bereits passiert: Das Niveau der Rechtschreibung hat erheblich gelitten, denn es ist zu dem der Schüler hin verschoben worden! Das sehen Sie an vielen Dingen: - Angenommen, die durchschnittliche Intelligenz der Schüler habe sich nicht geändert. Wenn trotzdem weniger Fehler gemacht würden, kann das nur bedeuten, daß die Kriterien, die festlegen, was falsch ist und was richtig, dahingehend geändert worden sind, daß bisherige Fehler nicht mehr als solche zählen. Das bedeutet aber eine Anpassung an das Niveau der Schüler! Beispiele für diese Art der Vereinfachung:
- Warum darf man jetzt so viele Kommas weglassen?
- Warum gibt es jetzt offiziell grammatische Falschschreibungen? (Deshalb.)
- Warum soll man jetzt ck falsch trennen?
- Warum haben die Zeitungen ihre Hausorthographien? Warum ist von dpa von vornherein ein großer Teil der neuen Regeln abgelehnt worden?
- Warum stößt die Reform auf Ablehnung bei den Schriftstellern, bei der FAZ, bei weiteren Zeitungs- und Zeitschriftenredaktionen, beim Hochschulverband, bei manchen Altphilologen etc.?
- Durch den Wegfall von eigenständigen Wörtern (insbesondere zusammengesetzten Adjektiven) ist der Umfang des schriftsprachlichen Wortschatzes reduziert worden, und es sind damit Ausdrucksdifferenzierungsmöglichkeiten beschnitten worden. Ganz egal, wie gering der Umfang dieser Änderung sein mag darin liegt die Tendenz, daß die Schriftsprache primitiver wird.
(Wer nennt weitere Aspekte?)
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Zusammenfassung der Argumente von Frau Menges: - Ein Herunterziehen der Regeln, Normen und Werte auf Schülerniveau wäre in jedem Fall unangebracht. Schüler benötigen Vorbilder, Ziele und Werte, an denen sie sich orientieren können.
- Rechtschreiben sagt nichts über die Grundintelligenz des Menschen aus. Sie kann ein kleiner Teil davon sein [...]
- [Weniger Begabte] haben Schwierigkeiten Regeln selbstständig anzuwenden und auf Neues zu übertragen. Gerade die Anwendung von Regeln gelingt ihnen nicht.
- Wir haben eine Rechtschreibreform, die es nicht gebraucht hätte.
- Lesen und Schreiben sind keineswegs nur instrumentelle Fertigkeiten, sondern beinhalten Fähigkeiten wie das Denken, Experimentieren und Konstruieren.
Sehr gut, Frau Menges: Damit haben Sie die grundlegende Mißkonzeption der Reform erfaßt und die Probleme kurz und bündig beschrieben. Weiter so! Und: Was ist die Konsequenz?
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Jan-Martin Wagner
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