Ickler-Bögelchen
An diesem Ort hat einmal jemand geäußert, wenn der Reform irgend etwas Förderliches abzugewinnen sei, dann wohl nur, für Fragen der Rechtschreibung sensibilisiert zu haben. Dieser Beobachtung könnte man uneingeschränkt beipflichten, zöge die gewachsene Aufmerksamkeit nicht zugleich eine höchst unwillkommene Nebenwirkung nach sich. Ich möchte sie das lauernde Lesen nennen. Bis vor wenigen Jahren konnte die Lektüre nahezu ausschließlich dem schriftlich dargebotenen Inhalt gelten. Heute legen sich ihr, jedenfalls sofern sie sich mit Reformschreibung auseinandersetzen muß, zahllose Stolpersteine störend in den Weg, die den sprachaufmerksamen Leser zum Innehalten oder Drüberhüpfen nötigen.
Von diesen lästigen Übungen bleibt selbst die Lektüre reformfreier bzw. vorreformatischer Texte im nachhinein nicht immer unberührt. Namentlich auf dem Gebiet der Getrennt- und Zusammenschreibung begegnen in ihnen zuweilen Varianten, über die man nun nicht mehr wie ehedem achtlos hinwegliest.
Die unangenehme Erfahrung machte ich in diesen Tagen wieder einmal, als ich, in gänzlich unphilologischer Absicht, zwei Ossobuco-Rezepte von Wolfram Siebeck miteinander verglich. Siebeck streitet bekanntlich nicht nur dafür, Hühner zu kochen und wegzuwerfen, vielmehr drängt es ihn auch, aus einem halben Dutzend Rezepten ein redseliges Buch nach dem anderen zu produzieren.
Beide Ossobuco-Rezepte lagen mir in vorreformatorischer Orthographie vor; das eine war 1984 gedruckt, das andere im Frühjahr 1998. Daß die Rezeptur bis auf kleine Abweichungen nahezu identisch war, dürfte hier schwerlich interessieren, nicht einmal, daß die frühere Fassung durchgehend getrennt geschriebenes Osso Buco bot, die jüngere dagegen die im Italienischen wohl übliche Zusammenschreibung Ossobuco. Dem Wortlaut nach identisch war in beiden Rezepten nur ein Satz, dieser freilich mit einer auffälligen Abweichung bei der deutschen Getrennt- und Zusammenschreibung. 1984: Um die Rustikalität nicht zu weit zu treiben, entferne ich vom Fleisch die Häute, die es zusammen halten, und fiesele es von den Knochen. 1998: " ... die es zusammenhalten. Wer hätte sich bei der Getrenntschreibung zusammen halten seinerzeit groß den Kopf zerbrochen, selbst wenn er es anders gehandhabt hätte? Vermutlich niemand. In nachreformatorischen Zeiten dagegen will selbst eine solche Kleinigkeit ins Auge springen, mag der entdeckte Fall auch gar nichts mit der Reformschreibung zu tun haben.
Auch ich möchte deshalb an dieser Stelle noch einmal betonen, für wie wertvoll, ja genial ich die Ickler-Bögelchen halte. Zum einen spiegeln sie den beobachteten Usus bei der Getrennt- und Zusammenschreibung wider, der durch den Zusatz seltener bzw. häufiger noch weiter differenziert werden kann, und zum anderen bieten sie die Möglichkeit, kleine Steine des Anstoßes für die künftige Lektüre wieder aus dem Wege zu räumen, mithin den lauernden Leser zu entlasten. Das ist doch wahrlich kein geringes Verdienst!
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Heinz Erich Stiene
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