Re: Sachlich falsch
Man kann die Frage Was legitimiert die Aufstellung sachlich falscher Regeln? durchaus an und für sich beantworten, wenn man dabei immer an den Vorbehalt denkt, daß diese Frage und damit auch die Antwort nur dann Sinn hat, wenn wirklich falsche Regeln aufgestellt wurden. Daß die Regel, Leid, Recht, Not immer groß zu schreiben, weil es immer Substantive seien, falsch ist, ist einfach dadurch klar, daß es eben keineswegs immer Substantive sind und dann auch nicht groß geschrieben werden dürfen (mehr dazu weiter unten).
Die von mir in meinem vorigen Beitrag zitierte Begründung dafür, daß es sich nicht um Substantive handelt, zeigt auf, was allgemein unter einer (sachlich) falschen Regel zu verstehen ist: Es muß geprüft werden, ob die Regel mit anderen, ebenfall anwendbaren Kriterien vereinbar ist oder zu Widersprüchen führt. Im Rahmen dieser Kriterien ist diese Regel dann falsch (oder auch nicht). Das meinte ich mit dem hinzugefügten sachlich, daß eben auch andere Aspekte in der jeweiligen Sache maßgeblich sind.
Hier ist das Prinzip der Substantivgroßschreibung zu berücksichtigen. Über dessen Richtigkeit kann natürlich so lange keine Aussage gemacht werden, wie nicht klar ist, was der Bezugsrahmen dafür ist. Das ist aber bei der Entscheidung über die Richtigkeit der Großschreibungsverordnung von Leid, Recht, Not insofern belanglos, als daß dazu das Prinzip der Substantivgroßschreibung lediglich allgemein anerkannt zu sein braucht und es also gewissermaßen ein Axiom (im mathematischen Sinn) darstellt. In meiner Beurteilung bin ich davon ausgegangen, daß dem so ist nicht nur, weil es vor der Reform galt und weil eine Änderung dieses Prinzips (genauer: die Einführung der gemäßigten Kleinschreibung) von den staatlichen Behörden abgelehnt wurde, sondern auch, weil ich es für sinnvoll halte. (Wie stehen Sie zum Prinzip der Substantivgroßschreibung, Herr schubert.hermsdorf?)
Man könnte zwar einwenden, dieses Axiom sei genauso eine Ad-hoc-Vorschrift wie die, Leid, Recht, Not immer groß zu schreiben. Aber das stimmt nicht ganz: Es gibt zwar für beides keinen absolut zu setzenden Grund, aber es handelt sich nach wie vor um Elemente innerhalb eines bestimmten Gesamtsystems der deutschen Schriftsprache , und also ist zumindest zu schauen, was innerhalb dieses Gesamtsystems sinnvoll ist und wie sich diese beiden Vorschriften darin einordnen. Dabei fällt auf, daß die eine am sprichwörtlichen grünen Tisch als Einzelfallregelung entstanden ist, die andere dagegen sich über viele Jahrzehnte (mehrere Jahrhunderte) herausgebildet hat bzw. schrittweise zu dem gemacht wurde, was sie heute ist. Mag man von diesen Entwicklungsschritten halten, was man will, letztlich hat sich dieses Prinzip als für die schriftliche Kommunikation günstig erwiesen (siehe dazu etwa die Aspekte aus der Textlinguistik, der Geschichte der GKS und [auszugsweise] die Diskussion zum Thema Orthographie und Grammatik). Insofern nimmt bei dem Widerspruch zwischen dem Substantivgroßschreibungsaxiom und der amtlich reformierten Einzelfallregelung für Leid, Recht, Not ersteres eine übergeordnete, letzteres dagegen eine untergeordnete Position ein und zwar in einer Ordnung danach, was für das Gesamtsystem wichtiger ist. Diese Abwägung führt letztlich dazu, das Substantivgroßschreibungsaxiom als maßgeblich bzw. verbindlich anzusehen, und innerhalb des von ihm gesteckten Rahmens ist die amtlich reformierte Einzelfallregelung für Leid, Recht, Not falsch.
Also: Regeln sind (sachlich) falsch, wenn sie im Widerspruch zu allgemeinverbindlichen Rahmenbedingungen stehen.
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Jan-Martin Wagner
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