Reform-Barbarismen im deutschen Lesebuch
Aus dem Nachrichtenarchiv hier ein Beitrag von Prof. Heinz-Günter Schmitz (vom 16. März 2001):
Die sogenannte Rechtschreibreform erweist sich in einem immer noch zunehmenden Maße als der von ihren Kritikern vorhergesehene große Missstand, als schwere Hypothek für die deutsche Sprachkultur. Dies zeigt sich mittlerweile unübersehbar im öffentlichen Sprachgebrauch, wo die „Neuregelung“ wegen ihrer bekannten Schwächen und Sinnwidrigkeiten entweder gar nicht oder nur in Teilen (und dazu noch in jeweils anderen Teilen) akzeptiert wird, so daß es zu einem verwirrenden Nebeneinander und Vermischen der verschiedenen Schreibweisen gekommen ist. Höchst bedenklich ist die Entwicklung aber gerade auch auch in jenem Bereich, in dem die Reform zuerst per Verordnung eingeführt worden war: in der Schule. Über die Schule sollte sich die Neuschreibung nach dem Willen ihrer Betreiber auch in der Allgemeinheit durchsetzen; nun wirkt sich umgekehrt das allgemeine Durcheinander nachteilig auch auf die Schule aus, erschwert das Erlernen und das Unterrichten der neuen Regeln und führt zu mehr Fehlern, auch solchen, die vorher kaum vorkamen. Zu dieser im Vergleich zu früher sehr viel ungünstigeren Lernsituation im Orthographieunterricht tragen nun aber auch noch die Lehrwerke ganz erheblich bei: Zum einen werden außer den Lehrbüchern und Textausgaben in „reformierter Rechtschreibung auch noch viele andere in der bisherigen Schreibung benutzt, wobei die letzteren an den meisten Schulen noch überwiegen. Zum andern aber und das ist schwerwiegender sind auch die ersteren keineswegs konsequent und einheitlich auf die Reformorthographie umgestellt.
Dies zeigt sich besonders an den neuen Lesebüchern. So begegnen etwa - und dieses Beispiel ist durchaus repräsentativ! im Lesewerk „Tandem 9“ zwar alle älteren und daneben viele neuere Autoren wie u. a. Kafka, Döblin, Kästner, Peter Weiss, Rose Ausländer, Kunert in reformierter Rechtschreibung (ganz im Gegensatz zu den im Buchhandel greifbaren Texten dieser Autoren!). Zugleich aber findet man viele andere neuere Autoren wie u. a. von Horváth, Tucholsky, Brecht, Benn, Hesse, Frisch, Thomas Mann in der bisherigen Schreibung, weil hier die jeweiligen Rechteinhaber der Umstellung nicht zugestimmt haben. Wenn wie bei v. Horváth und Th. Mann längere Prosaauszüge durch zusammenfassende Zwischentexte unterbrochen sind, stehen diese wieder in neuer Schreibung. Dieses ständige Wechselnmüssen zwischen den Orthographien hat selbst die Schulbuchredaktionen überfordert: Nicht selten finden sich daher beide Schreibweisen in ein und demselben Text in bunter Mischung, so z. B. in „Lesart 9“ u. a. bei Born, Bernhard, Botho Strauß oder Brecht.
Betrachtet man nun einmal etwas genauer die orthographisch veränderten Texte in einigen Lesebüchern, so führen sie die vielbeklagte Rückschrittlichkeit und Widersinnigkeit der Reform wieder einmal klar vor Augen. Dies gilt insbesondere für die neuen Getrenntschreibungen, die dem Prozeß der Kompositabildung, der für die neuere deutsche Sprachgeschichte so kennzeichnend ist und den die bisherige Orthographie weitgehend nachvollzogen hatte, entgegengerichtet sind, ihn jedenfalls nicht mehr abbilden. Dies kann in manchen Fällen zu Verständnisproblemen führen, wie in dem Mörikegedicht „Er ist’s“, wenn nun nicht mehr wohlbekannte Düfte (wie schon Mörike selbst wohlweislich schrieb), sondern wohl bekannte Düfte das Land streifen (Das lesende Klassenzimmer 6).
Die Eindeutigkeit ist auch beeinträchtigt, wenn in Engelkes Lokomotivengedicht das lang gestreckte (statt langgestreckte) Eisen-Biest nun lang geduckt (statt langgeduckt) zum Sprunge liegt (Das lesende Klassenzimmer 7) oder wenn es bei Kafka nun heißt, der Kaiser habe sich die Botschaft ins Ohr wieder sagen (statt wiedersagen) lassen (Lesebuch 10). Aber auch wenn das rein sachliche Verständnis durch den Kontext gewährleistet ist, ergeben sich durch die entsprechenden Eingriffe leichtere Bedeutungsverschiebungen (vor allem im konnotativen Bereich), die mit der durch die Getrenntschreibung hervorgerufenen Änderung von Wortbetonung und Satzmelodie in Zusammenhang stehen. So liest man z. B. wohlgemerkt nur im Lesebuch, nirgendwo sonst in den betreffenden Werkausgaben - bei Ebner-Eschenbach: Licht suchende statt lichtsuchende Äste, bei Böll: Bier trinkende statt biertrinkende Packer, bei Brecht: das viel besungene statt das vielbesungene Byzanz oder wiederum bei dem so überaus sprachbewußten Kafka schwer wiegende statt schwerwiegende Entschlüsse und groß angelegte statt großangelegte Überlegungen (Deutschstunden 10 bzw. Das lesende Klassenzimmer 8). In einem kurzen Auszug aus der „Absonderung“ von Georges-Arthur Goldschmidt werden zahlreiche Partizialkomposita, die der große Stilist, Kenner und Liebhaber der deutschen Sprache mit Bedacht gewählt hat und die die Prosodie seiner Prosa deutlich bestimmen, kurzerhand wieder zerschlagen: es heißt nun: mit wund gescheuerten (statt wundgescheuerten) Knien, übereinander stehende (statt übereinanderstehende) Fenster, am riesigen rot flammenden (statt rotflammenden) Horizont, braun umrandete (statt braunumrandete) Andachtsbilder, die Finger ... aneinander gepresst statt aneinandergepreßt hinzuhalten (Lesart 10).
Man ermißt an diesen Beispielen, was die Reform mit solchen Änderungen, die man nach der traditionellen Stillehre durchaus zu den Barbarismen zählen könnte, gerade literarisch anspruchsvollen Texten antut und weshalb gerade die Dichter sie so heftig ablehnen.
Die Beispiele für die unsäglichen neuen Getrenntschreibungen, die sich ja auch im größten Teil der Presse tagtäglich finden (und das Sprachgefühl der meisten Autoren und Leser verletzen) lassen sich leicht vermehren. So liest man u. a.: Das hätte ... schief gehen ... können; der es fertig brachte; den Text ... auseinander nahm; das öffentliche Leben ... lahm gelegt; Wie viel bei Böll, eine Zeit lang bei Heißenbüttel, Acht geben, den Mund offen stehen lassen bei M.-L. Kaschnitz, tief liegende Augen bei Schlesinger, fertig gestellte Wohnungen bei Chr. Hein, Leid tun (in der Form es tut Leid) bei Goldschmidt und Ebner-Eschenbach; stehen bleiben bei Lenz , Strauß, Kunert usw. usf alles natürlich im Gegensatz zu den Originalfassungen! (vgl. die schon angeführten Lesebücher, außerdem: Deutschbuch 9).
Aber auch die anderen, ebenso unsinnigen oder überflüssigen Änderungen der Reform sind natürlich allenthalben in den Texten der genannten Lesebücher zu finden, wie neben vielen anderen Beispielen: irgendjemand (für irgend jemand), überschwänglich, Nein sagen, gräulich, rau ohne h, wobei diese letztere, ganz besondere Marotte der Reformer sogar dazu geführt hat, daß Allerleirauh jetzt Allerleirau heißen und einen Mantel von Rauwerk tragen muß (Deutschstunden 5).
Ein besonders ärgerlicher Reform-Barbarismus in vielen neuen Lesebüchern ist aber auch die Preisgabe der von den Autoren verwendeten Zeichensetzung: Von den neuen Freiheiten in der Kommasetzung - von denen man außerhalb der Schule aus guten Gründen nichts wissen will wird ausgiebig Gebrauch gemacht, was das Leseverstehen gerade bei Schülern nicht unerheblich erschwert. So hat man z. B.aus Brechts kurzer Erzählung „Die unwürdige Greisin“ nicht weniger als 13 Kommas, aus Robert Walsers einseitiger Geschichte „Der Beruf“ 10, aus Bölls bekannter Kurzgeschichte „Es wird etwas geschehen“ sogar 23 Kommas herausgestrichen (Lesart 9, Lesebuch 10)! Vor allem der in den Lesebüchern häufig vertretene Siegfried Lenz muß mit rigorosen Kommastreichungen aber auch noch mit vielen anderen Verschlimmbesserungen seiner Texte - dafür büßen, daß er die Reform als „kostspieligen Unsinn“ bezeichnet hat: in seiner Kurzerzählung „Die Nacht im Hotel“ fehlen gleich 18 Kommas! Auch in Hofmannsthals „Reiselied“ war die Kommaersparungswut der Schulbuchredaktionen sehr erfolgreich: in der vierzeiligen Anfangsstrophe konnten gleich drei von den vier Kommas eingespart werden!
Ziehen wir ein kurzes Fazit, so ergibt sich sich folgendes: Die Reform-Lesebücher an den deutschen Schulen enthalten erstens Texte in der neuen Orthographie, die von der Öffentlichkeit entweder gar nicht oder doch nur in Teilen mit mehr oder weniger großen Abstrichen verwendet wird. Sie enthalten zugleich auch Texte in der bisherigen bewährten Orthographie, die zwar an den Schulen nicht mehr unterrichtet wird, aber in der Öffentlichkeit und in der Verlagsproduktion nach wie vor die Hauptrolle spielt. Sie enthalten drittens Texte, die eine bunte Mischung beider Orthographien bieten. Während das frühere deutsche Lesebuch dies war immer ein nicht zu verachtender didaktischer Nebeneffekt der Lektüre dem Schüler einen „natürlichen“ orthographischen Anschauungsunterricht bot, da ihm hier die zuvor gelernte, geübte und auch außerhalb der Schule überall gültige Rechtschreibung mit ihren immergleichen und so immer vertrauter werdenden Schriftbildern entgegentrat, kann das Reformlesebuch eben diese wichtige Hilfestellung nicht mehr leisten. Schlimmer noch! Da es selbst das getreue Spiegelbild der allgemeinen orthographischen Verwirrung ist, trägt es nur zur orthographischen Verunsicherung der Schüler und damit auch wieder zur allgemeinen Verwirrung bei. Schließlich zeigte der Vergleich der orthographisch veränderten Lesebuchtexte mit ihren Originalfassungen wieder einmal, wie rückschrittlich, sprach- und sinnwidrig die Neuregelungen sind. Gerade die Betrachtung der Lesebücher macht deutlich, welchen wuchernden Schaden die selbsternannten skrupellosen Reformer der deutschen Sprachkultur zugefügt haben.
Heinz-Günter Schmitz
Germanistisches Seminar der Universität Kiel
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