wissenschaftliche Nachprüfbarkeit
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Peter Schubert
Auf die Gefahr hin, andere Diskussionsteilnehmer zu langweilen, möchte ich noch einmal auf Herrn Wagners Frage nach sachlich Falschem eingehen. Sie, Herr Wagner, fragen: Enthält die neue Rechtschreibung semantisch oder grammatisch Falsches oder nicht? Wir haben uns ja schon geoutet: Sie als jemand, der die Reform für missglückt hält, ich als jemand, der manches an der Reform gut findet, anderes nicht gut findet, aber so, dass ich damit leben kann. Ihre Frage ist nur der Form nach eine Frage, im Kern ist es die Behauptung, die Reform enthalte semantisch und grammatisch Falsches. Und wer diese Behauptung aufstellt, muss sie begründen, also Sie, nicht ich.
Wie Sie sehen, sehr geehrter Herr Schubert, ist das Thema keinesfalls langweilig. Im Gegenteil, es ist gerade dabei, etwas auszuufern, und daher möchte ich versuchen, nach und nach zum Kern zurückzukehren (was aber niemanden davon abhalten soll, seine Gedanken weiterzuverfolgen).
Sie haben hier zum einen geschrieben: Sie, Herr Wagner, fragen: Enthält die neue Rechtschreibung semantisch oder grammatisch Falsches oder nicht? Zum anderen stellen Sie fest: Ihre Frage ist nur der Form nach eine Frage, im Kern ist es die Behauptung, die Reform enthalte semantisch und grammatisch Falsches. Das paßt nicht ganz zusammen, nicht wahr? Ich schlage vor, wir beschäftigen uns mit ersterem und schauen konkret nach, ob die neue Rechtschreibung semantisch oder grammatisch Falsches enthält. Dazu nun wiederum Sie:
Zu falsch und richtig: Die Gesetze der sprachlichen Richtigkeit sind andere als die Naturgesetze. Ich erkläre gern durch Beispiele und nehme es hin, dass jetzt aus irgendeiner Ecke wieder der Hinweis kommt, dass alle Vergleiche oder jedenfalls meine Vergleiche hinken. Ich denke, im Kern sollte es zunächst darum gehen, daß wir uns einig werden, was wir unter »sprachlicher Richtigkeit« und dem Kriterium »semantisch oder grammatisch falsch« verstehen; Vergleiche mit den Naturwissenschaften sind nur insoweit sinnvoll, wie sie darin weiterhelfen. (Daß es überhaupt so etwas wie »sprachliche Richtigkeit« und das Kriterium »semantisch oder grammatisch falsch« gibt, ist unzweifelhaft oder melden Sie da bereits Bedenken an?) P. Schubert:
Also: Die Behauptungen, die Erde sei eine Scheibe oder die Zahl Pi sei größer als 3,2, sind wissenschaftlich nachprüfbar. Wenn sie falsch sind, können sie durch keinen Parlamentsbeschluss und auch nicht durch die UNO-Hauptversammlung richtig werden. Auch Aussagen über die Sprache sind wissenschaftlich nachprüfbar, und auch an diesen Prüfungsergebnissen ist zumindest in der Sache durch irgendwelche Beschlüsse irgendwelcher Gremien nichts zu beschönigen oder zu verdrehen.
Allerdings kann so ein Gremium zu einem recht seltsamen Entschluß kommen, wie es auf wissenschaftliche Erkenntnisse reagieren und welche Konsequenzen es (wenn überhaupt) daraus ziehen will ganz generell gesprochen. (Beispiel: Die klugen Köpfe in den Industrieländern haben doch erkannt, wo die Menschheit dabei ist, sich ihr eigenes Grab zu schaufeln, aber was passiert? Tendenziell wird weitergemacht wie bisher.)
Was will ich damit sagen? Dies: Man sollte sich nicht wundern, wenn trotz bestehender wissenschaftlicher Erkenntnisse Fehler gemacht werden, und zwar auf allen Ebenen auch in der Wissenschaft selbst. Wissenschaftler sind nicht unfehlbar.
P. Schubert:
Die Behauptungen, Leid sei großzuschreiben und Bäcker sei vor oder nach oder zwischen dem ck oder gar nicht zu trennen, betreffen dagegen keine Naturgesetze, sondern menschliche Konvention. Richtig! Die Rechtschreibung an sich ist nichts als eine beeindruckende, sehr umfangreiche Sammlung von Konventionen, die sich über einen langen Zeitraum herausgebildet haben. Interessant und wichtig ist dabei, wie das geschehen ist und woran sich die Entwicklung und damit auch die Regeln selber orientiert haben bzw. orientieren. Das ist zudem der Aspekt, an dem sich entscheidet, wie es um die wissenschaftliche Nachprüfbarkeit (meine vorhergehende Behauptung) bei menschlichen Konventionen (Ihre Aussage, der ich zugestimmt habe) bestellt ist.
Fundamental orientiert sich die Rechtschreibung an der gesprochenen Sprache. Zu dieser gehören die Wörter mit ihren Bedeutungen (und Konnotationen) und die Grammatik. Außerdem tragen Satzmelodie, Tonfall, Betonungen, Dehnungen, Pausen, Mimik, Gestik etc. zur Kommunikation bei. Was versucht nun die Schrift? Sie ist dazu da, daß diese sprachliche Kommunikation mittels eines ich beschreibe es jetzt einfach mal auf diese ungewöhnliche Art nonverbalen, nicht gestikulierfähigen Mediums geführt werden kann. Geht das überhaupt? Offenbar ja. Warum?
Ich denke, daß das daran liegt, daß in der Schrift nur in begrenztem Maße unmittelbar Lautfolgen sybolisiert werden. Vielmehr bildet die Schrift das Satz- und Wortgefüge der Sprache ab, wozu die Satzzeichen und die Wortzwischenräume dienen. Gerade die Analyse der Verwendung der letzteren zeigt, daß dabei die Syntax, die Grammatik und die Semantik (wobei mir klar ist, daß sich diese nicht scharf gegeneinander abgrenzen lassen) entscheidend sind.
Das ist der Punkt, von dem ich behaupte, daß Aussagen über die Sprache wissenschaftlich nachprüfbar sind: Es geht darum, daß die Struktur der (gesprochenen) Sprache untersucht wird. Selbst wenn man einwendet, daß die Sprache selbst letztlich auch menschliche Konvention ist, so kann man sie trotzdem auf wissenschaftliche Weise untersuchen und zu nachprüfbaren Erkenntnissen kommen.
Konkret: Folgendes habe ich nachzuprüfen vesucht, bin aber zu einem anderen Ergebnis gekommen: P. Schubert:
Nebenbei: Dass man jetzt vor dem ck trennt, ist sachgerecht; [...] Was meinen Sie hier mit »ist sachgerecht«: Was verstehen Sie unter sachgerecht, und welche Kriterien sind bei Ihrem Urteil in diesem Fall maßgeblich?
__________________
Jan-Martin Wagner
|