Rückblickende Vorausschau 1996
Wie wir schreiben sollten Die Rechtschreibreform ist bankrott
Die Erneuerung der deutschen Orthographie stürzt nicht über ihre Lächerlichkeit, sie geht an ihren Widersprüchen zugrunde / Von Theodor Ickler
Es gibt Brücken, über die keine Straßen führen, Kernkraftwerke, die nie in Betrieb gingen, und Jahrhundertromane, die den Schreibtisch nie verließen.Zu den gigantischen Bauruinen gesellt sich nun die Reform der deutschen Rechtschreibung. Mehrere Jahrzehnte wurde daran gebastelt, Hunderte von Experten wurden bemüht, und am Ende wurde ein zum Reförmchen gegen massiven öffentlichen Widerstand mit Hilfe der politischen Exekutive durchgesetzt. Es bedurfte offenbar des praktischen Umgangs mit der Reform, daß den wirklich Betroffenen deutlich wurde, was ihnen angetan wird. Die Folgen sind offensichtlich: so sehr, daß die beiden dominierenden Wörterbücher sich selbst und einander widersprechen. Nun erst formiert sich ein Widerstand, der weit stärker und artikulierter ist, als alle Proteste gegen das Unternehmen waren. Der Erlanger Linguist Theodor Ickler zieht das Resümee. F.A.Z. (Thomas Steinfeld)
Orthographie ist das Haxl, bei dem die Schullehrer das Schreiben erwischt zu haben meinen, und es also da festhalten; es hinkt dann freilich bei ihnen auf den drei übrigen Beinchen. Dudens deutsche Rechtschreibung ist das dümmste deutsche Buch. Nun, es gibt, wie wir sehen werden, dümmere Bücher als den Duden, aber in Heimito von Doderers bissiger Bemerkung hat die deutsche Haßliebe zur Rechtschreibung ihren dichtesten Ausdruck gefunden. Besonders seit der Vereinigung der Schulrechtschreibung mit dem Buchdruckerduden (1915) beherrscht niemand mehr das immer komplizierter gewordene Regelungswerk, aber als Waffe, mit der man jederzeit dem lieben Mitmenschen eins auswischen kann, erfreut sich der Duden anhaltender Beliebtheit. Als vor einem Vierteljahrhundert der emanzipatorisch gesinnte Zeitgeist einen Weg zu weisen schien, den Schullehrern diese Geißel zu entwinden, waren viele begeistert, während andere naturgemäß den Untergang des Abendlandes heraufziehen sahen. Ein von der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft beherrschter Kongreß vernünftiger schreiben (1973) lenkte die scheinbar radikalen, in Wirklichkeit denkbar bescheidenen Wünsche der zweihundert, wie es hieß, reformwilligen Teilnehmer auf die Einführung der Kleinschreibung: Die reaktionäre großschreibung fällt nicht, wenn wir sie nicht niederschlagen! Wer ein gutes Wort für das Bestehende einlegte, war dem traditionellen bildungserbe der kaiserzeit verhaftet. Das war verrückt, aber es hatte immerhin Stil und Schwung.
Dann kam die Epoche der Kommissionen und Unterkommissionen. Forschungsarbeiten wurden angeregt, und sie brachten Erstaunliches zutage: Die deutsche Rechtschreibung ist nicht so dumm, wie sie auf den ersten Blick aussieht, es steckt eine geheime, von den Schreibenden intuitiv gefundene Rationalität darin wie in der Sprache selbst.
Schreiben für Leser.
Hatte man gerade noch in blanker Naivität die eindeutige Zuordnung von Laut und Buchstabe gefordert mit der gefällig schlichten Konsequenz Schreib, wie du sprichst! , so sah man nun ein, daß die Rechtschreibung noch andere Ziele verfolgt. Man kann nämlich nicht alles schreiben, was man spricht, und zum Ausgleich schreibt man manches, was nicht gesprochen wird. Wir schreiben Kind, obwohl man weder den Großbuchstaben noch das stimmhafte t am Ende hört, und doch ist beides tief sinnvoll und ein gewaltiger Fortschritt gegenüber kint, wie unsere Vorfahren im Mittelalter zuschreiben pflegten. Das d verdankt sich dem Stammprinzip: Der eigentliche Wortstamm, Träger der Bedeutung, endet, wie man an Kindes, Kinderei usw. sehen und hören kann, tatsächlich auf d; das t der Grundform ist bloß die automatische Folge einer die ganze deutsche Sprache durchherrschenden mechanischen Regel, der sogenannten Auslautverhärtung. Daraus lernt man zweierlei: Eine kultivierte Rechtschreibung dient dem Leser, denn sie macht die Bedeutung für das Auge sinnfällig. Für den Schreiber jedoch stellt sie eine Erschwernis dar, denn sie setzt nichts Geringeres voraus als eine fast schon wissenschaftliche Analyse der Sprache.
Und die Großschreibung der Substantive? Die zeigt dem Auge, von welchen konkreten oder abstrakten Gegenständen in einem Text die Rede ist. Sehr sinnvoll auch dies.
Noch ein drittes Prinzip wurde allmählich anerkannt: die Unterscheidungsschreibung. Wiederum hört man keinen Unterschied zwischen das und daß, seid und seit, faßt und fast. Es ist kein Zufall, daß dem Leser gerade im Kernbestand der allerhäufigsten Wörter diese Orientierungshilfe gegeben wird. Der Schreibende muß natürlich um so mehr lernen, ja manchmal sogar nachdenken.
Das sind die wichtigsten Grundsätze der deutschen Rechtschreibung; andere,wie die Loyalität gegenüber den Herkunftssprachen, die uns solche Schrecknisse wie Diphthong aufs Papier bringen heißt, sind im Grunde unwesentlich, auch wenn die Fremdwortschreibung am ehesten geeignet ist, Laien und Kultusminister auf die Palme zu bringen.
Was brachte nun die Rechtschreibreform, deren Scheitern wir gerade erlebt haben? An der Zuordnung von Lauten und Buchstaben sollte sich nicht viel ändern. Am auffälligsten war die Ersetzung des ß durch ss nach betonten kurzen Vokalen: Hass, fasst und so weiter. Bisher galt: Doppel-s kann nicht vor Konsonanten und am Wortende stehen, sondern wird in diesen Fällen durch ß ersetzt. Wenn also ein Doppel-s wie in Wasser durch die Wortbildung plötzlich vor einem Konsonanten zu stehen kam wie in wäßrig, dann trat automatisch ß ein. Ebenso am Wortende: hassen, aber Haß. Das war eigentlich nicht so schwer zu lernen. Die Neuregelung machte die Verdoppelung von Konsonantenbuchstaben etwas systematischer. Die Freude darüber wurde allerdings stark gedämpft, wenn man erfuhr, daß es nicht weniger als acht Gruppen von Ausnahmen gab, bei denen nach kurzem betontem Vokal dennoch kein Doppelkonsonant stand, sowie vier Gruppen von Ausnahmen, bei denen trotz Unbetontheit des Vokals ein nachfolgender Konsonantenbuchstabe verdoppelt wurde. Die höchst sinnvolle Unterscheidungsschreibung das/dass sollte in dieser neuen Gestalt erhalten bleiben, obwohl mindestens einer der Reformer sie bis zuletzt bekämpft hatte, weil sie in der Tat seit je für einen ganz großen Teil der Rechtschreibfehler verantwortlich war. Ein Hauptanliegen der Reformer war die Ausdehnung der Stammschreibung auf weitere Wörter. Durch Erfahrungen mit der Durchsetzbarkeit gewitzigt, beschränkten sie ihre Neuerungen allerdings auf selten gebrauchte Wörter wie Bändel (wegen Band) und Gämse (wegen Gams), während sie an die Eltern (trotz alt) nicht Hand anzulegen wagten. Immerhin bescherten sie uns behände, schnäuzen und Stängel, obwohl kaum jemand bei diesen Wörtern an Hand, Schnauze und Stange denken dürfte. Dazu natürlich die bewußt falschen Verknüpfungen, die durch Schreibungen wie einbläuen, Quäntchen und Tollpatsch nahegelegt werden eine Apotheose der Halbbildung, die viel Heiterkeit, aber auch Unmut hervorrief. Es ist erstaunlich, daß man von solchen Mätzchen partout nicht abzurücken bereit war, obwohl sie offensichtlich die Gefahr bargen, dem ganzen Unternehmen einen vorzeitigen Tod durch Lächerlichkeit zu bereiten. Heute sehen wir, daß die Ausweitung der Stammschreibung ein Irrweg war. Bringt man den Schreibenden erst einmal auf die Suche nach möglicherweise stammverwandten, umlautfähigen anderen Wörtern, so ist kein Halten mehr: sätzen (wegen Satz), märken (Marke) und so weiter warum nicht? Nur Mut!
Daß in Zusammensetzungen wie Betttuch alle drei Konsonantenbuchstaben künftig geschrieben werden sollten, war vernünftig. Aber warum sollte weiterhin Knien, geschrien und so weiter geschrieben werden, ohne das zweite, das eigentlich hörbare e? (Ein ähnliches Nebeneinander von logischer Pedanterie und Großzügigkeit war in der Zeichensetzung zu finden: Der Abkürzungspunkt galt weiterhin als Schlußpunkt, aber auf das Frage- oder Ausrufezeichen der wörtlichen Rede sollte noch ein Komma folgen: Komm!, rief er.)
Rad fahren (wie Auto fahren) war in Ordnung, das sah wohl jeder. Aber das Problem der Getrennt- und Zusammenschreibung liegt tiefer. Im Deutschen haben wir eine sehr große und ständig noch anwachsende Zahl von sogenannten trennbaren Verben wie aufsteigen, die nur im Infinitiv und Partizip zusammengeschrieben werden, sonst aber getrennt: Ich steige auf. Es war noch nie klar, welche Verben zu dieser Gruppe zu zählen sind: nebeneinandersitzen, klavierspielen? Genaugenommen ist der Begriff der trennbaren Zusammensetzung ein Unding, und die sauberste Lösung wäre zweifellos, alles, was in irgendeiner Stellung getrennt geschrieben wird, immer getrennt zu schreiben. Andererseits würde man damit wichtige Bedeutungsunterschiede nicht mehr durch die Schreibung zum Ausdruck bringen, und das wäre auch wieder schade. Von der Bedeutung als Unterscheidungskriterium hielten die Reformer allerdings nicht viel, sie bevorzugten rein formale Kriterien: Wenn der erste Teil einer Wortfügung weder gesteigert noch erweitert werden kann, sollte zusammengeschrieben werden. Also schwer fallen, weil man sagen kann: Es fällt mir sehr schwer oder es fällt mir schwerer, am schwersten. Das ist einleuchtend; andererseits geht dabei aber der Unterschied zu schwer fallen (= einen schweren Sturz erleiden) verloren, ein Unterschied, der sich normalerweise auch durch verschiedene Betonungsverhältnisse bemerkbar macht und insofern durchaus auch ein formaler Unterschied ist. Dafür hatten die Reformer aber keinen Sinn. Dies erklärt zum Beispiel, warum übrig bleiben getrennt geschrieben werden sollte wie artig grüßen, obwohl jedes gesunde Ohr hört, daß eine solche Analogie überhaupt nicht möglich ist.
Nach derselben Regel sollte man schreiben schwer behindert, aber schwerstbehindert. Neben anderen Einwänden war hier der Einspruch der Juristen zu erwarten, denn schwerbehindert im Sinne des Schwerbehindertengesetzes ist jemand, dessen Erwerbsfähigkeit um mindestens50 Prozent gemindert ist, während die rein beschreibende Wortgruppe schwer behindert nur die subjektive Einschätzung durch den Sprecher ausdrückt. In ähnlicher Weise sollten aus den allgemeinbildenden Schulen allgemein bildende werden. Die Kultusminister hatten es unterschrieben.
Nach dem Scheitern der Kleinschreibung bekehrte man sich zu vermehrter Großschreibung, um die Zahl der Problemfälle zu verringern. Substantive verlieren in bestimmten Wendungen nach und nach ihren substantivischen Charakter: Ich lese Buch kann man nicht sagen, wohl aber Ich führe Buch, und in dieser Wendung ist schon gar nicht mehr an ein richtiges Buch gedacht, das durch das Substantiv Buch bezeichnet würde. Die Reform wollte viele Wörter, die längst keine konkreten oder abstrakten Gegenstände mehr bezeichnen, durch Artikel oder Präpositionen aber noch als Substantive gekennzeichnet sind, groß geschrieben wissen: auf Deutsch, im Allgemeinen. Aber damit verschob man nur die Grenzen ein wenig und meist in unvorhersehbarer Weise: auf Grund, aber nicht zu Liebe, aufs Schönste, aber nicht am Schönsten und so weiter. Zudem waren in vielen Fällen, aber beileibe (bei Leibe? Nein!) nicht in allen Varianten zur Wahl gestellt, so daß man hätte lernen müssen, was jeweils erlaubt war und was nicht.
Eigennamen und singuläre Bezeichnungen sollten weiterhin groß geschrieben werden. Die Abgrenzung gelang aber nicht, und schiere Willkür war die Folge: der Heilige Vater, das hohe Haus (= Parlament), die Große Strafkammer, die erste Hilfe. Wiederum wurde auch der Unterschied zwischen beschreibenden Ausdrücken (erste Hilfe = jede zuerst geleistete Hilfe) und neuen Kategorien (Erste Hilfe = besondere, in Kursen erlernbare Technik,deren Unterlassung strafbewehrt ist) durch die einheitliche Kleinschreibungverwischt, nach dem leserunfreundlichen Vorsatz der gesamten Reform.
Die Fremdwörter sollten ursprünglich weit stärker eingedeutscht werden, doch hatten die Kultusminister dies verhindert. Zugelassen wurden eineReihe von Nebenformen: Grafologie, Delfin, Buklee, Katarr, Panter,Tunfisch, Spagetti. Daran hätte man sich wohl bald gewöhnt. Andererseits ist unsere Zeit weiteren Eindeutschungen nicht mehr so günstig, wegen der Allgegenwart des Englischen und anderer Fremdsprachen. Spaghetti ißt man beim Italiener, und so haben sich unsere italienischen Nachbarn denn auch schon über den Provinzialismus gewundert, das h weglassen zu wollen. Im Prinzip ist aber gegen Eindeutschungsversuche nichts einzuwenden, auch wenn sie bei vielen Leuten auf wenig Gegenliebe stoßen. Warum allerdings derlängst eingedeutsche Tschardasch nicht mehr zulässig sein sollte, stattdessen aber Csardas (ohne Längenzeichen), war nicht recht einzusehen.
Hier ist vor allem die weitgehende Freigabe der Kommasetzung zu erwähnen, was allerdings dazu führte, daß Texte der Reformer selbst gelegentlich so aussahen, als seien die Kommas mit der Streusandbüchse über den Text verteilt worden. Die Entgrammatisierung der Kommasetzung zugunsten subjektiver Akzentsetzungen führte in archaische Epochen der Schreibkunst zurück und schrie geradezu nach neuen Empfehlungen, wie sie, ohne Verbindlichkeit natürlich, der Duden zu geben versuchte.
Bertelsmann oder Duden?
Seit Sommer 1996 liegen zwei umfangreiche Rechtschreibwörterbücher vor. Bertelsmann war zuerst auf dem Markt, aber man merkt nur zu bald, daß es sich hier um einen Schnellschuß handelt. Schon aus dem Geleitwort springt dem Leser ein Rechtschreibfehler entgegen: soweit wie irgend möglich. Das Bertelsmann-Wörterbuch ist allerdings im Gegensatz zum Duden nicht imstande, den Unterschied zwischen soweit und so weit (wie) zutreffend zu erklären.
Knüppeldick kommt es dann in der kurzen, mit falschen Zitaten und Stilblüten verzierten Geschichte der Rechtschreibung und in der Überblicksdarstellung des Bearbeiters. Er schreibt, die deutsche Sprache sei die Einzige auf der Welt, die Substantive groß schreibe. Hier muß einzige natürlich klein geschrieben werden. Der Autor weiß auch zu erzählen, 1901 habe man aus allen deutschen Wörtern das th entfernt und durch t ersetzt, nur nicht in Thron, wohl auf Drängen des Kaisers. Aber Thron ist griechisch, so daß es wie Theater usw. in jedem Falle sein th behalten durfte. Magnet hält der Bearbeiter für romanisch. In beiden Fällen weiß das Wörterverzeichnis es besser. Im übrigen stürzt aber diesesWörterverzeichnis den Benutzer in tiefe Ratlosigkeit. Scientiarium wollen wir gnädig für einen Druckfehler halten, auch wenn es gleich zweimal vorkommt. Aber Bertelsmann verlangt zum Beispiel die Schreibung Alma mater,obwohl im amtlichen Regelwerk just Alma Mater auch unter dem richtig geschriebenen Stichwort Ultima Ratio als weiteres Beispiel zitiert wird. Corpus delicti und Corpus iuris sind auch falsch. Bertelsmann erklärt, daß und warum man schreiben soll: an Eides statt. Aber wenige Zeilen später wird gelehrt: an Eides Statt.
Bertelsmann schreibt vor: glatthobeln, glattgehen, gleichbleiben usw., hochbegabt, hochgestellte Persönlichkeiten, hochgewachsen, hochachten/schätzen und viele andere, die getrennt geschrieben werden müssen, da der erste Bestandteil erweitert oder gesteigert werden kann. In allen diesen Fällen weicht der Duden ab und hat recht.
Besonders groß sind die Abweichungen bei der Worttrennung. Keines der beiden Wörterbücher führt alle Trennmöglichkeiten an. Duden erklärt dazu ganz offen, daß er oft nur diejenige Variante angibt, die von der Dudenredaktion als die jeweils sinnvollere angesehen wird. Bertelsmann verfährt ohne eine derartige Erklärung grundsätzlich ebenso. Duden sieht nur die Trennung abs-trakt vor, Bertelsmann kennt abs-trakt und ab-strakt.Umgekehrt läßt sich Reneklode laut Duden auf zwei Weisen trennen: Renek-lode (ja, tatsächlich so!) und Rene-klode; Bertelsmann kennt nur letzteres.
Duden trennt bevorzugt A-nämie und verweist auf die Regel, die eine andereTrennung zuläßt, kennt aber nur An-algesie, obwohl in beiden Wörtern dasselbe Negationspräfix an- enthalten ist; Bertelsmann hat außerdem noch die Trennung A-nalgesie. Dieser Zustand war völlig unhaltbar. Was sollte der Lehrer tun, wenn ein Schüler ihm mit einer Schreibung kam, die nicht im Wörterbuch steht, nach den amtlichen Regeln aber ableitbar gewesen wäre, zum Beispiel mit derWorttrennung abst-rakt? Natürlich spiegeln beide Wörterbücher auch die Ungereimtheiten der amtlichen Vorlage getreulich wider. Grizzlybär soll als Grislibär eingedeutscht werden; nach den Regeln müßte es Grissli heißen (Verdoppelung des s nach kurzem betontem Vokal).
Von den Hauptforderungen, mit denen die neuere Reformbewegung vor einem Vierteljahrhundert angetreten war, war in der Neuregelung fast nichts mehr zu finden. Die Kleinschreibung war seit langem vom Tisch. Die Schwierigkeit der das/daß-Unterscheidung war genau dieselbe wie seit je, und das läßt sich auch nicht ändern, wenn man die Interessen des Lesers nicht ganz verraten will. Groß- und Kleinschreibung sowie Getrennt- undZusammenschreibung blieben so schwierig wie eh und je, es war zu keiner überzeugenden Lösung gekommen, und vielleicht ist sie gegenwärtig überhaupt nicht erreichbar.
Die neue Rechtschreibung war vielleicht geringfügig besser als die alte, obwohl diesem Vorteil auch neue Mängel entgegenstanden, so daß ein Aufrechnen schwerfiel. Verbesserungen in selten betretenen Randgebieten dürfen auch nicht überbewertet werden. Das auf den ersten Blick so angenehm liberale Zulassen mehrerer Varianten, besonders auf dem Gebiet der Eindeutschung, der Groß- und Kleinschreibung sowie der Getrennt- undZusammenschreibung, erwies sich bei näherem Zusehen als Erschwernis, da es den Lernstoff vervielfachte. Gerade im Kernbereich änderte sich kaum etwas- die vielgerühmte Behutsamkeit! Unter diesen Umständen mußte aber gelten: In dubio pro reo, und der Angeklagte war hier die alte Rechtschreibung. Man mußte an die Masse des bereits Gedruckten denken, an die 100 Millionen Bürger deutscher Zunge, die sich an die geltende Rechtschreibung gewöhnt hatten, an die Umstellungsschwierigkeiten für Tausende von Registern und Katalogen, an die Kosten für die Neuanschaffung von Wörterbüchern, Schulbüchern und Software, an die erwähnten Schwierigkeiten mit Fachbegriffen.
Die Revolte
Und doch war alles so gut eingefädelt. Die rechtzeitige Einbeziehung der Kultusbürokratien nahm der stets zu fürchtenden Kritik von politischerSeite den Wind aus den Segeln: Wer kollaboriert, kann hinterher nicht gut protestieren. Da die Kultusminister selbst sich für den Inhalt der Reform nicht interessieren, bestand allerdings die Gefahr, daß sie sich später blamieren würden. Und sie taten es. Die jüngste Lachnummer des hessischen Kultusministers ist noch in frischer Erinnerung: Er kreidete dem Duden die Worttrennung ext-ra als eigenmächtige Pfuscherei an, obwohl sie doch zu den nachgerade allbekannten Neuerungen der Reform selbst gehörte. (Daß dieser Minister in seltsamer Verdrehung der wirklichen Verhältnisse den Duden abkanzelte und die Bertelsmann-Rechtschreibung rühmte, gehört zu den Rätseln, deren Lösung wohl eine ganz andere Art von Kenntnissen erfordert, als sie dem arglosen Linguisten zur Verfügung steht.)
Nur wenigen Zeitgenossen fiel der Widerspruch auf, der zwischen der groß herausgestellten Geringfügigkeit der Änderungen und der Behauptung bestand, die Reform sei längst überfällig und dürfe keinesfalls scheitern. Sehr geschickt wurde auch die Vorstellung von einem Zeitdruck suggeriert, unter dem man stehe. Inhaltlich, so hieß es nach der Wiener Konferenz, solle nun nicht mehr diskutiert werden, nur noch die Formalitäten und Termine der Durchsetzung stünden zur Debatte. In Deutschland wurde verbreitet, wenn wir jetzt noch lange diskutierten, würden die Nachbarstaaten Schweiz undÖsterreich nicht mitmachen. Das war gelogen, aber es wirkte. Nach der Frankfurter Erklärung vom Oktober 1996 hieß es: Zu spät! Es wurde daran erinnert, daß die Abc-Schützen in einigen Bundesländern bereits nach der neuen Rechtschreibung unterrichtet würden ein sehr schwaches Argument, da die Kinder drei Wochen nach ihrer Einschulung noch längst nicht so weit waren, daß die neuen Regeln sie überhaupt betroffen hätten. Die älteren Kinder hätte man ehrlicherweise warnen müssen, während der nächsten Jahre nicht zu viel zu lesen; es hätte ihre Rechtschreibleistungen verwirrt und zu Ärger Anlaß gegeben.
Zu keinem Zeitpunkt war die Öffentlichkeit über den vollen Umfang der Reform unterrichtet, bevor die jeweiligen Beschlüsse gefaßt wurden. Das fürdie Beurteilung unentbehrliche Wörterverzeichnis war noch längere Zeit in Arbeit, und auch das Regelwerk befand sich in ständiger Umarbeitung. Den Kritikern der bekanntgewordenen Neuerungen wurde die Reform übergestülpt, wie es bei Franzosen und Engländern unvorstellbar gewesen wäre.
Natürlich spielte, wie überall, auch das Geld eine wichtige Rolle. Einige Reformer vermarkteten ihr Insiderwissen sehr fix auf eigene Rechnung, was sie aber nicht hinderte, dem Duden seine kommerziellen Interessen anzukreiden. Die staatlichen Stellen wollten von Kosten nichts wissen. Und doch liefen in diesem Punkt alle Fäden zusammen. Paradox genug: Die Reformsollte kostenneutral sein, aber am Ende erwiesen sich die bereits verursachten Kosten als letztes Argument dafür, die Reform doch nochdurchzusetzen. Nicht mehr zu stoppen! hieß es mit gespielter Schicksalsergebenheit aus den verantwortlichen Kultusbürokratien. Aber das kannte man schon vom schnellen Brüter, von Wackersdorf und anderen Investitionsruinen, die nicht mehr gestoppt werden konnten, bevor sie gestoppt wurden. Als die Leute dies merkten, war es mit der Reform vorbei.
F.A.Z., Feuilleton, Samstag, 12.10.1996, S. 36, Nr. 238
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Th. Ickler
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