Re: Re: Re: Wortbildung und Schreibkonvention
Ursprünglich eingetragen von J.-M. Wagner
Willkommen im „Untergrundforum“, sehr geehrte Frau Popp!
Schönen Dank für die freundliche Begrüßung!
es interessiert mich, über die Beziehungen zwischen gesprochener und geschriebener Sprache eingehender nachzudenken.
Ja, das könnte nützlich sein. :-)
Die Aussage »Wörter werden zusammengeschrieben [...]« hat ja nur dann einen Sinn, wenn man schon weiß, was „ein Wort“ ist – nur dann kann man es auch als ein Wort schreiben.
Eben. Und der Text dieses Autors war so seltsam formuliert, als ob ihm diese Binsenweisheit nicht vor Augen stünde.
Die weitere Aussage »Was getrennt geschrieben wird, ist eine Wortgruppe.« ist dagegen viel interessanter, weil sie umgekehrt von der Schriftsprache zur gesprochenen Sprache weist.
Der Satz stellt gleichwohl die Verhältnisse auf den Kopf. Der Spezialist, der die Rechtschreibung regelt, kann aus Eigenheiten der Wortbildung Kriterien holen, ob eine Form zusammengeschrieben werden soll oder nicht, das Umgekehrte geht nicht. Oder praktisch nicht; siehe unten. (Der Rechtschreibspezialist KANN Kriterien aus der Wortbildung holen, er MUSS nicht; direkte transitive Schlüsse von der Sprache auf die Schreibung oder umgekehrt sind zu meiden. -- Zur Terminologie: Der Schluss erfolgte nicht von der Schriftsprache, sondern bloß von einer Schreibung aus.)
Nimmt man diese Aussage als eine vom Typ „wenn A, dann B“ (hier: wenn etwas [nach außerschriftlichen Kriterien] ein Wort ist, dann wird es zusammengeschrieben), dann ist die (im Sinne der Aussagenlogik) zugehörige Negation vom Typ „wenn nicht B, dann nicht A“.
Ich will gegen diesen Ihren Satz keinen Einwand erheben, möchte aber darauf hinweisen, dass die Sprache nicht so säuberlich gebaut ist, wie Sie möglicherweise annehmen.
Es gibt auch Grauzonen, Formen, bei denen man streiten kann, ob das sprachlich Phrasen oder Komposita sind. Und dann muss der Lexikograph trotzdem entscheiden, ob er eher getrennte oder Zusammen-Schreibung empfehlen will.
Die Negation lautet also: Wenn etwas nicht zusammengeschrieben wird, dann ist es kein Wort.
So, wie das da steht, ist es wieder Unsinn. Zum Beispiel ist nach weit verbreitetem Dafürhalten eine Form wie fern halten (neue Schreibung) nur ein Verbalkompositum (ein zusammenhängendes Wort). Deswegen ja der ganze Aufstand, wenn es nach neuer Regelung getrennt geschrieben werden soll. Aus meiner Getrenntschreibung können Sie durchaus nicht schließen, dass ich es für KEIN Kompositum halte, sondern nur, dass ich mich nach der neuen Konvention richte. Die Schreibkonventionen müssen nicht UNBEDINGT in einem einfachen einheitlichen Verhältnis zu den sprachlichen Zusammenhängen stehen.
Die Schreibung ist kein Kriterium, das man bei der Entscheidungsfindung in Sachen der gesprochenen Sprache anwenden kann, denn sie ist nicht a priori gegeben. Vielmehr folgt die Schreibung erst aus einer solchen Entscheidung.
Das scheint mir sehr scharfsinnig gesehen.
Das heißt aber auch, daß man anhand der Schreibung auf die getroffene Entscheidung zurückschließen kann. Was meinen Sie dazu?
Daran ist ein Körnchen Wahrheit (siehe oben). Allerdings nur unter sehr speziellen Bedingungen. NUR, wenn DURCHWEG Komposita zusammengeschrieben werden und Phrasen getrennt (und es keine diskontinuierliche Kompositumsschreibung wie typischerweise in englisch Oxford Street gibt), könnte man auf Grund überwiegender Zusammenschreibung bestimmter kritischer Formen durch unvoreingenommene Sprachbraucher VERMUTEN, dass diese Sprachbraucher solche Formen als Komposita (zusammenhängende Wörter) empfunden haben.
Aber ich würde auf ein solches Kriterium wegen der erwähnten Grauzonen nicht viel Wert legen. Auf diese möchte ich einmal genauer eingehen, weil mir das bei der RR eine der streitigsten Fragen zu sein scheint.
Ein Beispiel für die Grauzone steckt in fern halten. Die RR hat sich viel Feinde mit der Regel in ihrem § 34 gemacht, dass Kombinationen aus Adjektiv und Verb dann getrennt zu schreiben seien, wenn das sog Adjektiv gesteigert oder erweitert werden kann. Damit gerät zB férn halten oder das eindeutige Kompositum kúrz treten (1) in eine Reihe mit der Phrase schwer átmen und wird homograph mit der Phrase "[jemand] kurz tréten (2); und der strukturelle Unterschied zwischen den Formen (1) und (2) wird in der Schreibung ignoriert.
Wer Wert darauf legt, Komposita immer zusammenzuschreiben, der sollte mE an diesem Punkt gegen das Regularium verstoßen und mutig kúrztreten wieder zusammenschreiben.
Für den Kompositumstatus spricht ja hier der Bedeutungskontrast zu kurz tréten und vor allen Dingen die abweichende Akzentlage (die eindeutigen Phrasen in dieser Liste haben dagegen alle den Akzent auf dem Verb). Letzteres hat immer wieder zu der Frage geführt, warum die Erfinder der RR nicht einfach alles, was den Akzent vorn hat, als Kompositum eingeordnet haben, woraufhin kúrztreten die reguläre Schreibung geworden wäre.
Aber die Sache ist komplizierter. Wenn die kritische Form aus einer anfangsbetonten Partikel und sein besteht, wie bei fértig sein, dann dürfte DAS von deutschen Sprachbrauchern nun wirklich als eine nur locker verbundene Verbalphrase empfunden werden. Und der Akzentlage nach steht kúrz treten ebenso neben dieser Phrase, wie es neben férn halten (dem Verbalkompositum) steht.
Solche Phrasen mit Anfangsbetonung gibt es auch nicht nur bei sein. Vgl auch noch fértig werden, ~ bekommen und noch einiger andere Kombinationen mit inhaltlich sein ähnlichen Verben. Genau WIE die innersprachliche Wortbildungsregel ist, wann adjektivähnliche anfangsbetonte Partikeln im Deutschen mit Verben zusammen NICHT als Kompositum funktionieren, ist gar nicht einfach zu klären, wie man bei eingehender Beschäftigung mit der Frage plötzlich merkt.
Mir scheint daher, dass die Autoren der RR hier ausufernden Fragestellungen aus dem Weg gegangen sind und einfach die mechanische Regel mit der Erweiterbarkeit und Steigerbarkeit der Anfangs-Partikel eingeführt haben, damit man ohne weiteren Tiefsinn sofort entscheiden kann, ob nun getrennt zu schreiben ist oder nicht, egal, was die Linguisten hier über die Zuordnung zu Komposita oder nicht noch rauskriegen. Bei der Gelegenheit sind ihnen dann auch ein paar sprachlich eindeutige Komposita in die Gruppe der getrennt geschriebenen Formen geraten, was der deutschen Schreibung nun ebenfalls ein paar diskontinuierlich geschriebene Komposita beschert hat (in Wortbildungstypus und Schreibungstypus ist deutsch férn halten = engl "Óxford Street).
Ein sachlicher Kritiker, der hier wirklich eine Verbesserung vorschlagen wollte, müsste den ganzen Komplex der deutschen Formen Partikel-mit-Akzent + Verben analysieren und eventuell der Wortbildungsstruktur angemessenere und dazu möglichst auch noch leichter lernbare Regeln dagegen stellen. Meckern ist hier leicht, besser machen ist schwer! (Da es noch andere Zweifelsfälle der deuschen Wortbildung gibt, führt die Forderung, Komposita immer zusammenzuschreiben, zu den haarigsten Problemen jeder deutscher Rechtschreibregelung; auch die alte Rechtschreibung war diesbezüglich nicht stark.)
Wirklich taugliche Gegenvorschläge dieses Typs, bei denen rundum bessere Schreibregeln vorgeschlagen werden, habe ich auf diesem Gebiet bei den Schmähern der RR bisher nicht gesehen.
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