Zehetmair beschwichtigt den Bayerischen Landtag
Die Rede wurde gehalten am Freitag, 27.10.1995.
Am 18.10.1995 hatte die Amtschefkommission der Kultusministerkonferenz in München getagt und 35 Wörter der vorgesehenen Neuschreibung – z.B. Astma, Atlet – abgelehnt.
Jene nachträgliche Ablehnung trieb den Dudenverlag beinahe in die Insolvenz, da die neuen Wörterbücher bereits gedruckt waren.
Die Rede soll zur Belustigung der Abgeordneten beigetragen haben.
Hohes Haus!
Mit der Neuregelung der deutschen Rechtschreibung berühren wir ein Thema, das in seiner Bedeutung nicht unterschätzt werden darf. Regelungen in diesem Bereich greifen nicht nur in die Schreibgebräuche der Schule, sondern der ganzen Sprachgemeinschaft regulierend – und an bestimmten Stellen auch verändernd – ein. Es ist daher nötig, sie sorgfältig vorzubereiten.
Der Kultusministerkonferenz liegt – nach achtjähriger Vorlaufszeit und vielen intensiven Beratungen in nationalen wie in internationalen Gremien – nunmehr der Entwurf für eine solche Neuregelung vor, und ich benutze gerne die Gelegenheit, Sie, meine Kolleginnen und Kollegen, hierüber zu informieren.
1. Hintergrund und Ziele des Vorhabens
Was ist der Hintergrund für dieses Vorhaben, das in der Presse nun schon seit mehreren Jahren immer wieder diskutiert wird?
Die gegenwärtig gültigen Rechtschreibregeln sind in die Jahre gekommen. Sie waren das Resultat der 2. Orthographischen Konferenz in Berlin 1901, und sie galten schon damals als verbesserungsbedürftig. Sie umfaßten ursprünglich 26 Paragraphen und eine Wörterliste, die in dreispaltigem Druck 36 Seiten dick war. Allerdings war eine Reihe von Fragen ungelöst geblieben: Regeln für die Interpunktion und für die Getrennt- und Zusammenschreibung wurden z.B. nicht aufgestellt. Die Ergänzung und Fortschreibung des Regelkanons erfolgte nicht durch staatliche Stellen, sondern von Fall zu Fall durch den „Duden“, der auf diese Weise eigentlich erst für eine einheitliche deutsche Rechtschreibung sorgte. Die im „Duden“ veröffentlichten Schreibweisen und Regeln hat die Kultusministerkonferenz 1955 für alle Schulen in Zweifelsfällen für verbindlich erklärt. Sie räumte damit einem privatwirtschaftlich geführten Verlag ein sehr weitgehendes, auch rechtlich nicht umstrittenes Gestaltungsrecht ein.
Auf dem Hintergrund der Entscheidung von Einzelfällen und durch die bereits 1915 erfolgte Integration des „Druk-ker-Dudens“ in die für die Öffentlichkeit bestimmte Ausgabe entstand im Lauf der Jahrzehnte ein Geflecht von teilweise recht spitzfindigen Regelungen, das im Interesse der Schreibenden der Vereinfachung bedarf. Die Redaktion des „Duden“ sieht diesen Bedarf ebenfalls. In ihrer Informationsschrift „Duden. Informationen zur neuen deutschen Rechtschreibung“ (Mannheim 1994) heißt es „Diese Einheitlichkeit (der deutschen Rechtschreibung) (...) ist 1901 über Kompromisse unter konkurrierenden Regelungen und Schreibvarianten zustande gekommen – oft auf Kosten von Systematik und Einfachheit. Und manches, was an Entscheidungen in der Zeit danach (vor allem durch Einzelfallregelungen) hinzugekommen ist, hat die Erlernbarkeit der Rechtschreibung eher erschwert als erleichtert.“
Der Entscheidungsspielraum verengte sich auf die Weise; Rechtschreibung und Zeichensetzung wurden unübersichtlich. So stehen etwa im Bereich der Kommasetzung vor Infinitiv und vor mit „und“ eingeleiteten nebengeordneten selbständigen Sätzen 3 Regeln 14 Ausnahmen gegenüber, die wohl nur wenige Schreiber vollständig beherrschen.
Ein Beispiel mag genügen:
Die Sätze „Setzen Sie sich dort drüben hin, und verhalten Sie sich ganz ruhig!“ werden durch ein Komma getrennt, die Sätze „Seien Sie bitte so nett und geben Sie mir das Buch!“ aber nicht.
Auch in anderen Bereichen kam es zu nicht ganz leicht nachvollziehbaren und erlernbaren Festlegungen:
Man schreibt als Ganzes gesehen, aber im ganzen gesehen; beim Bisherigen bleiben, aber beim alten bleiben; im Freien übernachten, aber im dunkeln tappen; Auto fahren, aber radfahren. Und man trennt Psych-ago-ge, aber Psy-cho-lo-ge, päd-ago-gisch aber pä-do-phil, Wes-pe, aber We-ste.
Eine Systematisierung der Regeln, die Beseitigung von Ausnahmen und die Angabe von leicht handhabbaren Begründungen für bestimmte Schreibungen sind daher an der Zeit.
Der zur Zeit der Amtschefkonferenz der KMK vorliegende Vorschlag geht auf einen Auftrag zurück, den die Kultusministerkonferenz und das Bundesinnenministerium dem Institut für deutsche Sprache in Mannheim im Jahre 1987 erteilt und nach der heftigen Diskussion des ersten Entwurfs von 1988 im Jahre 1991 erneuert haben.
Das von Sprachwissenschaftlern aus Deutschland, Österreich und der Schweiz erarbeitete Regelwerk wurde im Rahmen einer öffentlichen Anhörung im Mai 1993 in Bonn, an der eine Vielzahl von Vertretern aus Wissenschaft, Wirtschaft und Kultur teilnahm, zur Diskussion gestellt. Es bildete die Beratungsgrundlage für die „3. Wiener Gespräche zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ vom 22. – 24.11.1994.
Der Entwurf beruht auf folgenden Grundsätzen:
- Er bemüht sich um eine behutsame inhaltliche Vereinfachung der Rechtschreibung mit dem Ziel, eine Reihe von Ausnahmen und Besonderheiten abzuschaffen.
- Er weitet den Geltungsbereich der Grundregeln aus und verstärkt das im Deutschen grundsätzlich geltende Prinzip, nach dem ein Wortstamm auch in Zusammensetzungen und Ableitungen seine Schreibung nicht oder kaum verändert wird.
- Er bietet eine Neuformulierung der Regeln nach einem einheitlichen Konzept und macht die jeweiligen Schreibungen durch die Angabe von Begründungen handhabbarer.
Die im Anschluß an die Wiener Gespräche überarbeitete Fassung liegt nunmehr zur abschließenden Beratung und Beschlußfassung vor. Mit Schreiben vom 06.09.1995 habe ich jedoch darum gebeten, angesichts der weitreichenden Konsequenzen der zu treffenden Entscheidung im Interesse einer nochmaligen sorgfältigen Überprüfung von einer Beschlußfassung der KMK bei der Plenarsitzung in Halle Ende September abzusehen. Einige Fragen mußten nach meiner festen Überzeugung nochmals erörtert werden.
Vor allem hatte ich Bedenken bezüglich der Eindeutschung von Fremdwörtern, die etwa zu Schreibungen wie Alfabet, Apoteke, Bibliotek, und Restorant geführt hätte. In einem zusammenwachsenden Europa sehe ich bei alle Loyalität gegenüber der eigenen Muttersprache keinen Sinn in einem so forcierten Vorgehen. Weder dürfen wir unser humanistisches Erbe vergessen, das sich auch in den aus den alten Sprachen entlehnten Schreibungen widerspiegelt, noch wollen wir Kinder, welche Fremdsprachen lernen, unnötig irritieren. Meine Vorstellung war also, die Integration von Schreibweisen weitestgehend auf Wortstämme zu beschränken, bei denen die Eindeutschung bereits im Gange ist, das sind z.B. Wörter, in denen die Stämme phon/fon und graph/graf vorkommen. Fotografie, Dikatafon und Grafik werden ja auch heute schon häufig mir f geschrieben.
Vorbehalten hatte ich auch gegenüber Veränderungen im historisch überlieferten Schriftbild von Wörtern wie Frevel, Thron und Fehde. Sie zu verändern erzeugt mehr Vorbehalte als gewonnen wird. Dabei übersehe ich nicht, daß auch im Bereich der Schreibungen gewisse Systematisierungen im Sinne des für das Deutsche auch sonst geltenden Stammprinzips für den Lerner wie den versierten Anwender hilfreich sein werden. Wenn rauh künftig wie blau, grau und schlau ohne h geschrieben werden soll, und so wie bisher bei „Hand“ – „Hände“ – „mäkel“ künftig auch: bei „Band“ – „Bändel“; Hand – „behände“ und „Überschwang“ – „überschwänglich“ verfahren werden soll, halte ich das für eine Erleichterung. Aber man darf das Kind nicht mit dem Bade ausschütten.
Eine Amtschefkommission der KMK hat sich letzte Woche auf meine Inititative hin nochmals mit der Materie befaßt und Einvernehmen darüber erzielt, daß besonders bei den Fremdwörtern und den anderen von mir angesprochenen Fällen nunmehr mit der gebotenen Behutsamkeit vorgegangen wird. Ich habe mich darüber gefreut, denn damit wurde die bayerische Linie bestätigt. Und nach dem, was ich Woche für Woche an Briefen erhalte, glaube ich nicht ganz verkehrt zu liegen, wenn ich erwarte, daß sich mit größerer Behutsamkeit auch die Akzeptanz des neuen Regelwerks verbessern wird.
Ich rechne daher mit einem einvernehmlichen Beschluß bei der nächsten Plenarsitzung der Kultusministerkonferenz in Mainz am 30.11./1.12.1995 und glaube, Bayern hat das Seine dazu beigetragen, daß dieser Beschluß dann auch der Öffentlichkeit vermittelt werden kann, selbst wenn – wie in solchen Fällen nicht anders zu erwarten – kein ungeteilter Jubel ausbrechen wird. Denn Rechtschreibung kann allein schon vom Gegenstand, der lebendigen und überaus differenzierten Sprache her, nicht „einfach“ werden. Übergangszonen und Zweifelsfälle wird es – wenn auch in deutlich vermindertem Maße – auch weiterhin geben.
2. Einrichtung einer zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung
Mit der Neuregelung soll auch die Aufhebung des Beschlusses der Kultusministerkonferenz vom 18./19.11.1955 „Regeln für die deutsche Rechtschreibung“ verbunden sein.
Im Sinne einer kontinuierlichen Sprachpflege ist auf Vorschlag der Teilnehmer an den 3. Wiener Gesprächen die Einrichtung einer zwischenstaatlichen Kommission für die deutsche Rechtschreibung beim Institut für deutsche Sprache in Mannheim beabsichtigt. Sie soll die praktische Umsetzung des Regelwerks beratend begleiten, die Sprachentwicklung beobachten und den staatlichen Stellen Vorschläge zur Anpassung von Schreibungen und Regeln machen. Ich habe diesen Vorschlag von Anfang an mit Sympathie begleitet.
Wir haben in Deutschland ja keine der „Académie Francaise“ vergleichbare Einrichtung. Das bedaure ich manchmal, denn im Bereich der Sprachpflege wäre es nicht schlecht, wenn ein Korrektiv vorhanden wäre, das mit der Autorität – und dem Augenmaß! – der Académie dem bisweilen feststellbaren Wildwuchs entgegenwirken könnte. Die bedenkenlose Übernahme von weder korrekt sprech- noch deklinierbaren Wortungetümen wie „stylen“, „designen“ oder „recyceln“ ins unsere Sprache und unsere Wörterbücher halte ich für bedenklich. Zum Teil gibt es für diese Wörter im Deutschen weder eine korrekte Aussprache noch lassen sie sich, wie die beiden letztgenannten Beispiele zeigen korrekt konjugieren („gerecycelt“? „gedesignt“?).
Auch hier soll die Kommission für die deutsche Rechtschreibung etwas bewirken. Ein bloßes Zur-Kenntnis-Nehmen des Sprachmülls, der in den letzten Jahren bei uns abgeladen wurde, scheint mir jedenfalls nicht der richtige Weg zu sein.
Vorstellungen zum weiteren Verfahren
Daß die Umstellung in den Schulen mit Behutsamkeit erfolgen muß und daß wir dabei in langen Fristen denken müssen, bedarf, so glaube ich, keiner ausführlichen Erläuterungen. Mit Schreiben vom August 1995 wurden daher die Schulen auf die voraussichtlichen Änderungen aufmerksam gemacht und um Vorinformation der Schüler, Eltern und Lehrer gebeten. Der Information der Öffentlichkeit insgesamt kommt natürlich eine ebenso große Bedeutung zu, auch die Erklärung der Staatsregierung ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Bürgerinnen und Bürger dürfen nicht den Eindruck erhalten, hier werde im Kabinettsstil der 18. und 19. Jahrhunderts hinter ihrem Rücken entschieden.
Das weitere Verfahren stelle ich mir wie folgt vor:
- Wir werden noch prüfen, ob als Termin des Inkrafttretens der Neuregelung in Schule und öffentlicher Verwaltung nicht doch erst der 01.08.1998 vorgesehen werden soll. Von diesem Zeitpunkt an wären dann die neuen Regelen dem Unterricht ausnahmslos zu Grunde zu legen.
- Bis zum Ablauf einer angemessenen Übergangszeit – gedacht ist an 5 – 7 Jahre – sollen die bisherigen Schreibweisen in den Schulen nicht als falsch gewertet, sondern als überholt gekennzeichnet und durch die neuen Schreibweisen ergänzt werden. Ein allzulanges Zuwarten erscheint mir im Hinblick auf den eher geringen Umfang der Änderungen nicht als erforderlich und im Sinne einer möglichst einheitlichen Schreibung in Schule und Öffentlichkeit auch nicht als zweckmäßig.
- Es wird angestrebt und von den Verlagen für durchführbar gehalten, daß Fibeln für den Unterricht in den Grundschulen und Sprachbücher für die Anfangsklassen der anderen Schularten spätestens zum Termin der Inkrafttretens in der neuen Schreibung zur Verfügung stehen. Für eine rasche Zulassung schon im Vorgriff auf die Neuregelung wird Sorge getragen. Auch andere Schulbücher, die auf den neuen Regeln basieren, sollen ab der Unterzeichnung des Abkommens in der neuen Schreibung genehmigt und in den Schulen benutzt werden können.
- Im Interesse einer möglichst kostenneutralen Umsetzung ist – auch im Hinblick auf den eher geringen Umfang der Änderungen – nicht daran gedacht, die Zulassung für Lernmittel nur aufgrund der neuen Schreibung aufzuheben. Das heißt, Erdkunde- oder Physikbücher werden nicht allein deshalb ausgesondert, weil z.B. „daß“ künftig „dass“ geschrieben wird.
4. Zur Frage der Kosten
Veränderungen der Rechtschreibung lassen sich nicht ganz kostenneutral durchführen. In der Presse wurde seit 1993 mehrfach eine Zahl von 5 Milliarden für den Austausch der Schulbücher genannt. Der Verband der Schulbuchverleger hat diese im Mai 1993 im Rahmen der Bonner Anhörung von seinem Repräsentanten genannte Zahl in einem Schreiben mittlerweile deutlich relativiert: Kosten dieser Größenordnung wären nach seiner Mitteilung nur zu erwarten, wenn die in allen Schulen der Bundesrepublik vorhandenen Schulbuchbestände binnen einem Jahr gegen neue Werke ausgetauscht werden müßten. Ein Austausch von Büchern außerhalb des Sprachbuchbereichs allein aufgrund der Neuregelung ist jedoch gar nicht beabsichtigt, und Neubeschaffungen müssen ohnehin regelmäßig durchgeführt werden.
Für den Fall einer angemessenen Übergangszeit rechnen die Schulbuchverleger nach einer kürzlich erschienenen Pressemitteilung mit einem Gesamtaufwand von 300 Mio. DM für die inhaltliche Überarbeitung und technische Herstellung aller Schulbücher in Deutschland.
5. Rechtliche Fragen
Diskutiert wurde in den letzten Wochen, ob die Rechtschreibreform durch einen Beschluß der Kultusministerkonferenz umgesetzt werden kann oder ob hierfür eine gesetzliche Regelung zu erfolgen hat. Auslöser war eine juristische Dissertation, die zu der Auffassung gelangte, eine Neuregelung der Rechtschreibung tangiere letztlich Grundrechte und bedürfe daher der Gesetzesform. Ich habe den Sachverhalt prüfen lassen und meine, daß diese Auffassung doch etwas zu weit geht. Das Erlernen einer bestimmten Schreibweise unterliegt nicht dem Erziehungsrecht der Eltern, denn die Eigenheiten der Sprache entwickeln sich unabhängig davon und folgen auch nicht bestimmten Erziehungsvorstellungen. Mit andern Worten: Es geht um Schreibkonventionen, die angepaßt werden sollen, nicht um Erziehungs- und Bildungsziele. Es ist daher wohl doch nicht erforderlich, 16 Ländergesetze und auch noch ein Bundesgesetz zu erlassen.
Aufgeworfen wurde auch die Frage, in welcher Form die gleichmäßige Umsetzung der Neuregelung zwischen Deutschland, Österreich und der Schweiz verabredet werden soll. Angestrebt wird nicht ein völkerrechtlicher Vertrag im Sinn des Art. 32 GG, sondern eine gemeinsame Erklärung der Bundesrepublik Deutschland und der übrigen deutschsprachigen Länder.
6. Gesamtbewertung
Ein Kompromiß beinhaltet immer auch Elemente, mit denen nicht alle Beteiligten vollständig konform gehen. Dies gilt auch im vorliegenden Fall. Da die von mir gewünschte Überprüfung im Rahmen der KMK zu weiteren Verbesserungen geführt hat, zeichnet sich eine vernünftige Lösung ab.
Oberstes Ziel muß es sein, daß im deutschen Sprachraum einheitlich verfahren und der Kompromiß zwischen Deutschland, der Schweiz und Österreich umgesetzt wird.
Die bayerische Staatsregierung beabsichtigt daher, den Neuregelungsvorschlägen für die deutsche Rechtschreibung nach der nunmehr erfolgten Klärung der angemahnten Problempunkte zuzustimmen.
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nos
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