Franz Thierfelders Reformplädoyer 1946
In meiner Sammlung fand ich ein Heft „Pandora“ von 1946 (Aegis Verlag Ulm), Schwerpunktthema „Sprache und Schrift“. Den darin enthaltenen gegensätzlichen Standpunkten ist einleitend einiges aus der „Deutschen Grammatik“ von Jakob Grimm vorangestellt. Danach folgt auf einen Text in Kleinschreibung ohne Verfasserangabe – in Fraktur gedruckt – Thierfelders „Schönheit des Schriftbildes – Eine Verteidigung der Großbuchstaben“. Er kommt aber sehr schnell auf sein Hauptanliegen, nämlich die Einleitung einer Rechtschreibreform, die sich nahtlos an die gescheiterte Rustsche Reform angeschlossen hätte. Die Ähnlichkeiten mit dem Ablauf fünfzig Jahre später sind auffällig, manche Unterlassungen verhängnisvoll. Anscheinend ist ihm aber nie der Gedanke gekommen, daß man mit der vorhandenen Rechtschreibung auch noch einige Jahrhunderte gut leben könnte:
… An sich ist der Zeitpunkt, in dem die Reform mit einem Minimum an Kosten durchgeführt werden könnte, gekommen; ein bedeutender Teil unseres nationalen Schrifttums, gerade auch des älteren, muß neu gedruckt werden, und ein erschreckend hoher Prozentsatz unserer Bücher wurde durch den Krieg vernichtet. Empfohlen werden kann die Reform jedoch nur dann, wenn sie nicht nur in allen Zonen Deutschlands, sondern auch in den Gebieten jenseits unserer Grenzen eingeführt wird. Die Sprache ist vielleicht das wichtigste einigende Band, das uns nach der Katastrophe geblieben ist, das Symbol, an dem wir uns untereinander noch erkennen, das einzige auch, das wie in früherer Zeit unser geistiges Leben mit der außerdeutschen Welt verknüpft. Wir müssen ernstlich prüfen, ob wir heute schon innerlich soweit gesammelt sind, daß wir die orthographische Erneuerung objektiv und maßvoll durchführen können. Die früheren erregten Aussprachen in Aufsätzen, Broschüren und Diskussionen haben gezeigt, daß sich viele zu Wort melden, die unsachliche Nebenabsichten verfolgen; es wäre zu bedauern, wenn die Reform der Rechtschreibung als neuer Erisapfel in unser gespaltenes, noch immer tief beunruhigtes Volk geworfen würde.
Wem auch immer die Reform zur Durchführung anvertraut werden sollte, der darf eins nicht vergessen: jeder Radikalismus macht den gewünschten Erfolg unmöglich, weil er Teile der deutschen Sprachgemeinschaft mit Sicherheit veranlaßt, ablehnend beiseite zu treten. Die Festsetzung einer Rechtschreibung ist nie ein Akt gewesen, der für „die nächsten tausend Jahre“ gilt; wie sich die Sprache unaufhaltsam, bald langsamer, bald schneller wandelt, so auch die Schreibweise, und es gibt mancherlei Änderungsbedürftiges, was man zweckmäßig erst auf der nächsten Konferenz erledigen wird. Denn jederzeit weist die Sprache eine Menge von Fällen auf, in denen der Gebrauch schwankend geworden ist, ohne daß man bereits klar sieht, nach welcher Seite sich das Sprachbedürfnis der Volksmehrheit endgültig entscheiden wird. Ein Entschluß, der heute noch heftigen Widerspruch und damit unnötigen Kostenaufwand bewirken würde, ist morgen vielleicht des allgemeinen Beifalls sicher. Auch ist aus technischen Gründen die stufenartige Anpassung der Schreibung an die Sprachentwicklung zu empfehlen; zwar entsteht niemals „endgültig“ Ruhe, nach der die Geistesträgen so sehr verlangt, dafür wird der Sprung von einer Reform zur anderen nicht so groß, daß zwischen dem bisher gültigen und dem neu zu druckenden Schrifttum eine schwerüberbrückbare Kluft entsteht. Es wäre zu prüfen, ob nicht etwa aller [!] dreißig Jahre eine Rechtschreibreform stattfinden sollte; in der dazwischen liegenden Zeit wäre von einer dazu berufenen Stelle das Material zu sammeln, das die Konferenz zu begutachten hätte.
Welche Stelle freilich ist dazu berufen? Die Frage ist heute schwerer zu beantworten als früher, da es deutsche Zentralinstanzen verschiedenster Art gab, die das Recht der sprachlichen Betreuung glaubten für sich in Anspruch nehmen zu können. […] Wo ein solches Sprachamt am zweckmäßigsten zu errichten wäre, soll hier nicht erörtert werden; dagegen darf man sich sehr wohl schon jetzt Gedanken über seine mögliche Zusammensetzung machen, denn von ihr hängt der Erfolg einer Reform nicht zuletzt ab.
Sprachpflege ist nicht, wie man bei uns lange geglaubt hat, eine Beschäftigung für Musestunden [!] sprachbeflissener Dilletanten [!]; ebensowenig aber ist sie ausschließlich Angelegenheit der Sprachgelehrten. Die praktische Bedeutung und Anwendung der Sprache im öffentlichen und wirtschaftlichen Leben ist so groß geworden, daß in vielen Fällen philologische Gesichtspunkte allein nicht mehr entscheidend sind. Zwar wird der Fachgermanist nach wie vor als Berater bei allen orthographischen Überlegungen und Entscheidungen unentbehrlich sein, nicht weniger aber wird man des Journalisten, des Rundfunks, des Verlegers, des Dichters, des Buchdruckers, des Verwaltungsbeamten, des Industriellen und nicht zuletzt des Sprachlehrers und Pädagogen bedürfen. Die Aufzählung will nicht vollständig sein; es werden sich noch andere Gruppen melden und ihr besonderes Interesse an der Rechtschreibreform bekunden. Denn tatsächlich handelt es sich hier um eine der wirklich allgemeinen Volksangelegenheiten, die den Greis wie den Schüler, den Minister wie seine schlichteste Schreibhilfe betreffen. Ein ständiger Ausschuß für Fragen der Rechtschreibung wäre also auf breiter demokratischer Grundlage zu bilden, in dem die strittigen Fragen der Orthographie geklärt werden müßten. Ist in Deutschland wieder ein Sprachamt vorhanden, dann würde dieser Ausschuß einen Teil von ihm bilden. Zunächst aber könnte er auch ganz für sich bestehen, denn allein durch sein Vorhandensein ließen sich unerwünschte Sonderverfahren mit ziemlicher Sicherheit vermeiden. Ich erinnere daran, daß sich bereits voriges Jahr Lehrertreffen in Mittel- und Norddeutschland für radikale Eingriffe in die gegenwärtige Rechtschreibung ausgesprochen haben; was damals Absicht blieb, könnte morgen rasch verwirklicht werden.
Über die Organisation einer sprachpflegerischen Zentralstelle mögen die entscheiden, die dazu berufen werden; hier soll nur eine Forderung vertreten werden, die in Deutschland nicht laut genug erhoben werden kann: die Sprachpflege ist zwar eine Angelegenheit behördlichen Interesses, nicht aber behördlicher Betätigung. Wenn die Sprachpflege nicht von dem freien Willen der geistig interessierten Schichten einer Nation getragen wird, dann ist es besser, die Sprache dem Wildwuchs zu überlassen, der nie so viel verderben kann wie eine seelenlose Verwaltung.
Fassen wir noch einmal kurz zusammen, was vom Standpunkt vorsichtigen Bewahrens zur Rechtschreibreform zu sagen ist: die Erneuerung ist notwendig, sie sollte bald geschehen, gleichzeitig aber auf eine Grundlage gestellt werden, die die organische Fortentwicklung der Schreibung in Zukunft gewährleistet. An der Reform ist das ganze Volk interessiert und dementsprechend zu beteiligen. Da unsere Muttersprache das Fundament unseres Daseins in geistiger Hinsicht bildet und in ihrer Wirkung über die politischen Grenzen hinausreicht, darf die Reform erst dann durchgeführt werden, wenn die Anerkennung ihrer Ergebnisse im ganzen deutschen Sprachbereich gesichert ist.
Franz Thierfelder (1896 -1963) deutscher Publizist, Sprachwissenschaftler und Kulturpolitiker.
In der biographischen Notiz zu Thierfelder heißt es im vorliegenden Heft zu seiner vorhergehenden Tätigkeit nur: Seit 1926 war er, zuletzt als Generalsekretär, an der deutschen Akademie. Als diese nach 1933 politisiert wurde, schied er aus.
Wikipedia erwähnt: 1926 wurde er Pressereferent, 1930 Generalsekretär der Akademie zur Wissenschaftlichen Erforschung und Pflege des Deutschtums (Deutsche Akademie) in München, die er in den nächsten Jahren schwerpunktmäßig auf „Sprachförderung im Ausland“ ausrichtete. Angesichts des wachsenden politischen Einflusses der Nationalsozialisten unternahm der konservative Thierfelder „karrierebedingte Anpassungsleistungen“. [mit Beispielen]
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