Wer erklärt uns die neue Rechtschreibung?Sieben Jahre sind vergangen, seitdem die „Gemeinsame Absichtserklärung zur Neuregelung der deutschen Rechtschreibung“ unterzeichnet worden ist. In dieser langen Zeit ist am Regelwerk und in den Wörterbüchern unaufhörlich geändert und „verbessert“ worden, und noch immer sind viele Fragen offen. Sieben dieser Fragen haben wir gemeinsam mit den Schweizer Monatsheften ausgewählt, Zweifelsfälle, die ein Licht auf das ganze Ausmaß der Verwirrung, Willkür und Inkonsequenz dieser mißglückten Reform werfen.
Es ist Zeit, daß sich die Verantwortlichen der Öffentlichkeit erklären. Wer gibt uns eine Erklärung? Die Reformkommission? Die Dudenredaktion? Die Kultusministerkonferenz? Die Befürworter der Reform sind hiermit aufgefordert, kurze Antworten auf die von Stefan Stirnemann formulierten Fragen bis zum 20. Oktober an eine der folgenden Adressen zu schicken: Frankfurter Allgemeine Zeitung, Literaturblatt, 60327 Frankfurt am Main; literatur@faz.de beziehungsweise Stefan Stirnemann, Schweizer Monatshefte, Vogelsangstrasse 52, CH-8006 Zürich; info@schweizermonatshefte.ch.
Eine Auswahl der Antworten wird abgedruckt. Unterdessen protestieren jetzt erstmals auch internationale Autoren gegen die Rechtschreibreform. Harry Mulisch, Stanislaw Lem und andere wollen, daß ihre Bücher in der alten Rechtschreibung übersetzt und gedruckt werden. Wir dokumentieren den von der Forschungsgruppe Deutsche Sprache angeregten Aufruf.
I. Heißersehnt?
Das Wort heißersehnt gilt den neuen Wörterbüchern als „alte Schreibweise“, es soll gemäß Paragraph 36 E1 (1.2) des neuen Regelwerks getrennt geschrieben werden: heiß ersehnt. Nun lesen wir bei Erich Kästner: „Die Wirtschafterin kämpfte in der Küche wie ein Löwe. Doch sie brachte die heißersehnten und heiß ersehnten Bratkartoffeln trotzdem nicht zustande“ (in: „Notabene 45. Ein Tagebuch“). Dieser Satz bot bis 1996 keine Schwierigkeiten, widerspricht aber heute der amtlichen orthographischen Norm. Wir fragen: Hat Kästner wirklich falsch geschrieben, oder stimmt etwas mit der neuen Regel nicht? Falls die neue Regel falsch ist: Wie lange wartet man, bis man sie berichtigt, indem man nicht eine „alte“, sondern die gute Auffassung wieder zu Ehren zieht? Wer gibt uns eine Erklärung? Die Reformkommission? Die Dudenredaktion? Die Kultusministerkonferenz?
II. Eszett?
Die nagelneue Regelung des Eszett geht zurück auf Johann Christian August Heyse (1764 bis 1829). Sein erfolgreiches „Lehrbuch der deutschen Sprache“ wurde zuerst von seinem Sohn Karl Ludwig überarbeitet, später von Otto Lyon. Nun lesen wir im Protokoll der II. Orthographischen Konferenz von 1901, daß sich Otto Lyon „entschieden gegen die Einführung der Heyseschen Schreibweise erklärt“ habe. In der sechsundzwanzigsten Auflage der Grammatik Heyses von 1900 schreibt Lyon: „Der Schreibgebrauch hat sich in überwiegender Weise dafür entschieden, am Ende einer Silbe wie auch vor einem t, das ss in ein ß zu verwandeln.“ Die Beschlüsse der Konferenz trugen dem Rechnung. Im Jahr 1901 wurde also der Schreibgebrauch bestätigt; er ist seither natürlich noch allgemeiner geworden. Wir fragen: Warum soll ein so allgemeiner Brauch plötzlich nicht mehr gelten? Und welcher alte und allgemeine Schreibgebrauch wird als nächster aufs Korn genommen?
III. Gräulich?
Das Wort greulich wird nach dem Stammprinzip neu „gräulich“ geschrieben. Im Duden-Taschenbuch 26 steht dazu: „Man muß das Wort also in der Schreibung nicht mehr vom gleich lautenden Farbadjektiv gräulich unterscheiden.“ Nun lesen wir in der neuesten Ausgabe von Thomas Manns Idylle „Herr und Hund“ vom Flusse, der „unter anderen Umständen aber ein geradezu gefährliches Wesen annimmt, zum Strome schwillt, sein weites Bett mit gräulichem Toben erfüllt“. Der Text wurde anhand der Erstausgabe von 1919 neu durchgesehen. Die Stelle ist allerdings nicht eindeutig, denn ein kurz vor der Erstausgabe erschienener bibliophiler Druck bietet „greuliches Toben“, und das Manuskript ist seit dem 6. August 1921 verschollen. Wie immer es sich verhält: Nach den neuen Regeln ist es nicht einmal mehr möglich, die Wahl auszudrücken, die hier getroffen werden muß. Wir fragen: Warum verbietet man eine Unterscheidung, für die der Leser nur danken kann, wenn gleichzeitig im amtlichen Wörterverzeichnis gewissenhaftest „anstrengen“ von „ansträngen“ unterschieden wird?
IV. Wer informiert uns korrekt?
Der Paragraph 63 der neuen Regeln schreibt vor, die Fügung „Erste Hilfe“ wie viele andere klein zu schreiben: „erste Hilfe“. Die Nachrichtenagenturen befolgen diese Vorschrift freilich nicht. In der „Märkischen Allgemeinen Zeitung“ vom 2. Mai 2002 lasen wir, daß der Präsident der Reformkommission „Erste Hilfe“ für einen Begriff der Fachsprache hält, der außerhalb der neuen amtlichen Norm liege. Und dem „St. Galler Tagblatt“ vom 17. Mai 2003 entnehmen wir, daß ein anderes Mitglied der Reformkommission die Schreibweise „ohne Weiteres“ einführen möchte, obwohl Paragraph 58 (3) ausdrücklich die Kleinschreibung festlegt. Gehen die Änderungen jetzt gar nicht mehr in die Regelwerke ein, sondern werden nur noch auf Zeitungspapier gedruckt? Wir fragen: Welches Medium muß man konsultieren, welche Zeitung beziehen, um rechtzeitig zu erfahren, was gilt, nicht mehr gilt oder gelten wird?
V. -ig/-isch/-lich.
Laut Regelwerk sollen zweiteilige Adjektive, „bei denen der erste Bestandteil eine Ableitung auf -ig, -isch, -lich ist“, getrennt werden. Das klingt wie die Eselsbrücke eines Schulmeisters. Nun lesen wir alte und neue Wörter wie: winzigklein, rötlichgelb, prächtigbunt, zornigverachtungsvollst. Wir fragen: Da auch Wörter auf -ig, -isch, -lich mit anderen Wörtern eine Verbindung des Begriffs eingehen können, warum soll man diese Verbindungen heute nicht mehr als Wort schreiben? Überbrückt diese Eselsbrücke nicht die Sprachwirklichkeit?
VI. Der Drache?
Im Zuge der Vereinfachung unserer Rechtschreibung hat man die Zusammensetzung „furchteinflößend“ durch „Furcht einflößend“ ersetzt. Folgerecht ist der Drache nach dem Duden des Jahres 1996 ein Furcht erregendes und Feuer speiendes Tier. Vier Jahre später hat man weiter vereinfacht, und gemäß Duden 2000 ist der Drache ein furchterregendes, Feuer speiendes Tier. Nun lesen wir im Duden-Bedeutungswörterbuch von 2002, daß der Drache ein Furcht erregendes, Feuer speiendes Tier sei. Wir fragen: Ist das ein halber Rückschritt oder ein geheimnisvoller Fortschritt? Und welche Schritte sind noch geplant?
VII. Was wohl?
In einer Übersetzung des frühen sechzehnten Jahrhunderts spricht Alkinoos zu Odysseus von dessen „wolbekanten gesellen und helden“. Im späten zwanzigsten Jahrhundert hat die neue amtliche Norm alte und harmlose Adjektive wie wohlbekannt oder wohlgeraten zu Knacknüssen gemacht: wohlgeraten (Duden 1996)? Oder wohlgeraten, auch wohl geraten (Duden 2000)? Oder doch wohlgeraten (Wahrig, Bertelsmann 2002)? Nun lesen wir folgenden Satz eines Literarhistorikers in neuer Rechtschreibung: „Wie haben wir uns diese doch wohl bewußte Abweichung von einer wohl bekannten Regel zu erklären?“ In guter Rechtschreibung ist der Satz auf den ersten Blick verständlich; in „Orthografie“ liest man ihn dreimal und kann vermuten, was gemeint ist. Wir fragen: Schreiben wir, um einander Rätsel aufzugeben oder um einen Sinn möglichst unzweideutig zu vermitteln? Und wenn es die Möglichkeit gibt, die Vermittlung durch Zusammenschreiben zu sichern: Wer will diese Möglichkeit jetzt verbieten? Wer gibt uns eine Erklärung? Die Reformkommission? Die Dudenredaktion? Die Kultusministerkonferenz?
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Internationale Schriftsteller gegen die Rechtschreibreform
Liebe Kolleginnen, liebe Kollegen!
Berlin, den 7. Oktober 2003
Seit einigen Jahren hat die deutsche Sprache zwei Orthographien. Die eine Orthographie ist die, die sich seit der Goethezeit allmählich entwickelt und das ganze zwanzigste Jahrhundert hindurch bewährt hat. Es ist die Orthographie, in der Theodor W. Adorno, Hannah Arendt, Ingeborg Bachmann, Walter Benjamin, Heinrich Böll, Elias Canetti, Paul Celan, Friedrich Dürrenmatt, Albert Einstein, Sigmund Freud, Max Frisch, Hermann Hesse, Franz Kafka, Niklas Luhmann, Thomas Mann, Robert Musil, Rainer Maria Rilke, Nelly Sachs, Arthur Schnitzler, Max Weber und Ludwig Wittgenstein geschrieben und veröffentlicht haben. Es ist die Orthographie der deutschen Sprache in Literatur, Philosophie und Wissenschaft.
Die andere Orthographie ist eine, die in staatlichem Auftrag erfunden wurde. Sie ist minderwertig und erschwert den präzisen sprachlichen Ausdruck. Gleichwohl soll sie gegen den Willen der Mehrheit der Bevölkerung auf dem Verordnungsweg durchgesetzt werden, durch ihre Einführung in Schulbüchern und amtlichen Texten. Die große Mehrheit der deutschsprachigen Intellektuellen lehnt die staatlich verordnete Rechtschreibung ab. Eine der besten Zeitungen Deutschlands, die Frankfurter Allgemeine Zeitung, lehnt sie ab. Die renommiertesten Buchverlage (darunter Hanser, Suhrkamp, Diogenes, Piper) lehnen sie ab. Gleichzeitig aber wird den Kindern auf deutschen, österreichischen und schweizerischen Schulen beigebracht, daß die bessere Orthographie „veraltet“ sei. Es gibt leider Verlage, die sich auf die Seite der Bürokratie geschlagen und sich für die „neue“ Orthographie entschieden haben. Doch selbst in diesen Verlagen beharren die deutschsprachigen Schriftsteller darauf, daß wenigstens ihre Bücher in der herkömmlichen Rechtschreibung erscheinen. Worauf sie jedoch in diesen Verlagen leider keinen Einfluß haben, ist die Orthographie der Bücher, die aus anderen Sprachen ins Deutsche übersetzt werden. Während die deutschsprachige Literatur fast ausschließlich in der angeblich „veralteten“ Orthographie erscheint, wird die fremdsprachige etwa von Verlagen wie S. Fischer oder Rowohlt in der behördlich verordneten „neuen“ Rechtschreibung publiziert.
Wir bitten Sie, liebe Kollegen, sich uns anzuschließen und uns zu unterstützen. Wir bitten Sie, dem Verlag gegenüber, in dem Ihr nächstes Buch auf deutsch erscheint, auf der bewährten deutschen Orthographie zu bestehen, so wie wir es tun. Ihre Leser werden es Ihnen danken.
Mit freundlichen Grüßen
Horace Engdahl, Hans Magnus Enzensberger, Georges-Arthur Goldschmidt, Günter Grass, Lars Gustafsson, Elfriede Jelinek, György Konrád, Reiner Kunze, Stanislaw Lem, Siegfried Lenz, Claudio Magris, Harry Mulisch, Adolf Muschg, Sten Nadolny, Cees Nooteboom, Patrick Süskind, Martin Walser, Christa Wolf