Zum Versagen der Politik bei der Rechtschreibreform
Nachdem Kultusminister Zehetmair am 27. Oktober 1995 im bayerischen Landtag seine Regierungserklärung zur Rechtschreibreform abgegeben hatte, trugen die Abgeordneten aller Fraktionen ihre Stellungnahmen vor. Die Stimmung war gelöst, das Protokoll verzeichnet für diesen Abschnitt der Plenarsitzung zwölfmal Heiterkeit. (Bayerischer Landtag · 13. Wahlperiode Plenarprotokoll 13/31 v. 27.10.95 2208)
Die Abgeordnete Radermacher (SPD) sagte u. a.:
Herr Zehetmair, Sie sehen mich und Sie sehen uns in einer trauten Einigkeit mit Ihnen. Das werden wir hoffentlich so schnell nicht wieder erleben. Das wäre uns beiden furchtbar peinlich, das weiß ich. Ich denke aber, es ist notwendig, daß wir jetzt dafür sorgen, daß die Reform durchgeführt wird. Es ist nur ein Reförmchen, aber es ist notwendig, auch im Interesse unserer Kinder. Auch das wollte ich Ihnen noch einmal sagen. (Beifall bei der SPD)
Sie fuhr fort und bezog sich dabei auf eine TED-Umfrage vom Vortag, die 89 Prozent Ablehnung der RSR ergeben hatte:
Stimmung gegen etwas Neues zu machen, ist immer angstbesetzt. Der Umfrage messe ich deshalb keine große Bedeutung bei, weil jeder, der etwas Neues lernen soll, erst einmal sagt, man sollte lieber beim Alten bleiben. Mit dieser Haltung hätten wir aber auch 1901 keine Rechtschreibreform geschafft, und viele Dinge würden noch so geschrieben wie im vorigen Jahrhundert.
Alle Debattenredner offenbarten eine ähnliche Unwissenheit über den Inhalt der RSR sowie über die Geschichte der deutschen Rechtschreibung. Diese Unwissenheit war die Voraussetzung für die Verkennung der Probleme und für die von allen Rednern geäußerte Gewißheit, daß die Reform gut für die Kinder sei, da sie das Schreiben erleichtere.
Zehetmair und sein Staatssekretär Freller erweckten den Eindruck, als hätte der Minister mit seinem Protest gegen 35 Fremdwortschreibungen die Kulturbarbarei verhindert und nun sei alles in Ordnung. Von den viel gravierenderen Folgen der Reform in anderen Bereichen hatte niemand eine Ahnung. Wie wenig Zehetmair auch mit der Materie vertraut war, zeigt sich in seiner Erwartung, die zu gründende Rechtschreibkommission werde auch etwas gegen die Anglizismen und anderen Sprachmüll, der in den letzten Jahren bei uns abgelagert wurde, unternehmen müssen. (Das bayerische Kultusministerium redet übrigens in seinen Kampagnen gegen Drogen die bayerischen Schüler grundsätzlich nur auf englisch an: Be smart, don't start usw.) Man kann in dieser Forderung aber auch schon das Muster künftiger Ablenkungsrhetorik erkennen: Wozu sich über die Rechtschreibreform aufregen, wo es doch viel Wichtigeres gibt, zum Beispiel die Anglizismen. Zehetmairs Äußerungen zur Rechtschreibreform zeigen von Anfang auch Spuren des schlechten Gewissens und böser Ahnungen. Seine Regierungserklärung ist ja gewiß von Ministerialbeamten vorbereitet worden. Von sich auch hätte der Altphilologe Zehetmair wohl kaum die morphologisch korrekte Trennung bespöttelt: Man trennt Psych-ago-ge, aber Psy-cho-lo-ge, päd-ago-gisch, aber pä-do-phil. Wenig später rühmt er sich, Schreibweisen wie Apoteke verhindert zu haben: Wir dürften nicht unser humanistisches Erbe vergessen, das sich auch in den aus den alten Sprachen entlehnten Schreibungen widerspiegelt.
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Th. Ickler
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