Verbzusätze; Sollbruchstellen; Redundanz
Zitat: Ursprünglich eingetragen von Stefan Weise
Herzlichen Dank für Ihren ausführlichen Kommentar zu diesem für mich sehr spannenden Problem, Herr Wagner. Gestatten Sie mir einige laienhafte Bemerkungen dazu, der ich mich auf diesem Gebiet wie auf Eis bewege.
Gern geschehen! Im übrigen möchte ich darauf hinweisen, daß auch meine Anmerkungen die eines Laien sind, denn ich habe Physik studiert und beschäftige mich nur nebenbei mit der Rechtschreibreform; ich bin quasi ein Amateurlinguist.
Zitat: Zunächst möchte ich anmerken, dass es durchaus als normal anzusehen ist, wenn etwas, was nicht zusammengeschrieben dasteht, als ein Wort gilt. Das Verb 'aufgeben' in dem Beispielsatz 'Ich gebe nie auf' dürfte ein ganzes Buch voller ähnlicher Beispiele aufblättern. Wäre die Form 'gebe...auf' nicht ein Wort, wäre die Grammatik & vor allem die Frage der GZS um Einiges komplizierter, weil sich dann die Diskussion z.B. nicht mehr um alle Formen des Wortes 'sitzenbleiben' drehen würde, sondern nur noch um die infiniten Formen, wobei die finiten Formen seltsamerweise exakt mit denen einer Wortgruppe 'sitzen bleiben' übereinstimmen (grammatisch natürlich nur, & sofern man überhaupt von Flexionsformen einer Wortgruppe reden darf).
Da die Verbzusätze gerade an anderer Stelle ausführlich besprochen werden, schlage ich vor, daß wir diese Diskussion dort fortsetzen. Es kann aber sein, daß ich noch ein paar Tage für eine Antwort brauche; es gehen mir gerade sehr viele verscheidene Dinge durch den Kopf...
Zitat: Auch, was zuammengeschrieben wird, ist nicht immer ein Wort, wie Univerbierungen wie 'sodass' oder 'näherbringen' meiner Ansicht nach zeigen. Es ist ja gerade der Witz an der ganzen GZS-Diskussion, dass durchaus auch Wortgruppen zusammengeschrieben werden & nicht nur Wörter.
Sehr richtig: Es stimmt, daß Wörter (in dem Sinne von das, was ein Wort bildet) zusammengeschrieben werden; daraus folgt aber nicht, daß alles, was man zusammengeschrieben vorfindet, auch ein Wort ist.
Zitat: Daraus folgt für mich, dass man weder die Zusammenschreibung vom Wortbegriff ableiten, noch die Entscheidung, ob etwas ein Wort ist, auf die Zusammenschreibung gründen kann, wie es aber tatsächlich in der Grammatik häufig geschieht.
Warum sollte man die Zusammenschreibung nicht vom Wortbegriff ableiten können? Möglicherweise kann man sie nicht vollständig (bzw. ausschließlich) vom Wortbegriff ableiten, aber zu großen Teilen kann man das schon. Könnte man das nicht, müßte die Aussage Wörter werden zusammengeschrieben in ihrer Allgemeingültigkeit unhaltbar sein. Das bestreite ich: Wenn man anhand allgemeiner sprachlicher Kriterien (d. h. unabhängig von jeglicher Schriftlichkeit) festgestellt hat, daß in einem gegebenen Satz etwas ein Wort ist, dann wird es auch zusammengeschrieben.
Zitat: Das von Ihnen gebrachte Maas-Zitat An syntaktischen „Sollbruchstellen“ wird ein Spatium gesetzt [...] Wo keine syntaktische „Sollbruchstelle“ vorliegt, wird zusammengeschrieben. scheint mir nicht in eine zirkuläre Begründungspraxis zu münden als vielmehr einen Ausweg aus dem Dilemma darzustellen, wenngleich ich mir im Moment nicht vorstellen kann, wie dieser aussieht. Meines Erachtens liegt nämlich das Gewicht des Satzes auf syntaktisch. Der Schlüssel sind "syntaktische Sollbruchstellen, & meiner Ansicht nach haben die zunächst mal nichts mit der Frage zu tun, ob etwas ein Wort ist oder nicht. Leider kenne ich den Maas-Aufsatz nicht, so dass ich keine Vorstellung davon habe, nach welchem Verfahren denn diese Sollbruchstellen aufgefunden werden können. So vernebelt, wie er bis jetzt dasteht, kommt mir dieser Ansatz jedoch einigermaßen vielversprechend vor.
Über die von mir angesprochene mögliche Zirkularität muß ich mir selber noch weitergehende Gedanken machen; mir kam es einfach nicht geheuer vor. Hier ein paar Beispiele zu den Sollbruchstellen (Dank dafür an Frau Prof. Dürscheid): An diesen Stellen sind Einschübe (Das Haus ist rot Das Haus dort ist rot), Substitutionen (Das Haus ist rot, Das Auto ist rot) und evtl. Umstellungen (Das Haus ist rot Ist das Haus rot) möglich.
Zitat: Zum zweiten Haken: Ich muss gestehen, dass ich weder das Regelwerk noch die verschiedenen Unfälle, die einem beim Schreiben passieren können, genau genug kenne, um zu entscheiden, ob die beiden von Ihnen angeführten Paragraphen dem in der Vorbemerkung genannten Grundsatz widersprechen oder nicht; meiner beschränkten Ansicht nach scheint dies nicht der Fall zu sein, weshalb man höchstens sagen könnte, diese Zusätze seien redundant.
Die Zusätze sind keineswegs redundant; Gallmann und Sitta haben das ausdrücklich betont. Ich versuche mal eine Erklärung mit Hilfe der Mengenlehre. Die Elemente der zu betrachtenden Menge sollen die folgenden Wörter bzw. Wortgruppen bilden, die ich zusammenfassend als Fälle bezeichne: Nehmen Sie alle Fälle von Wörtern bzw. Wortgruppen, die nach den im Paragraphentext (im Regelwerk eingekästelt) genannten Kriterien unter § 34 fallen, diese bilden die Grundmenge. Unter Dies betrifft wird in drei Punkten spezifiziert, welche Fälle von der Zusammenschreibung betroffen sind; diese drei Fallgruppen bilden die Teilmenge der Zusammenschreibungsfälle. Dann folgt § 34 E3: E3: In den Fällen, die nicht durch § 34(1) bis (3) geregelt sind, schreibt man getrennt. Siehe auch § 34 E4. In dieser Allgemeingültigkeit würde das bedeuten (wenn man zunächst von dem Hinweis auf § 34 E4 absieht; mehr dazu weiter unten), daß man die Grundmenge in zwei disjunkte Teile zerlegt: die Zusammen- und die Getrenntschreibungsfälle. Bis dahin gibt es keine Probleme, denn die Getrenntschreibungsfälle bilden gerade das Komplement zu den Zusammenschreibungen.
Dann aber geht es bei § 34 E3 explizit weiter, und hier fangen die Probleme an: Es folgt ein weiteres Dies betrifft worauf bezieht sich das? Nur auf das Komplement der Zusammenschreibungs-, d. h. auf die bislang nicht erfaßten Fälle oder auf die gesamte Grundmenge? So, wie es dasteht, sollte es sich nur auf die Komplementmenge (Grundmenge ohne Teilmenge der Zusammenschreibungsfälle) beziehen dann bliebe es aber bei der klaren Disjunktheit der Teilmengen, und der Zusatz § 34 E4 wäre überflüssig. Letzterer gilt ja nur für solche Fälle, in denen sowohl Zusammen- als auch Getrenntschreibung möglich ist, denn er bezieht sich explizit auf je eine der Fallgruppen! Das ist einer der Gründe, warum die expliziten Getrenntschreibungskriterien unter § 34 E3 nicht redundant sind. Ein anderer ist, daß sich § 36 E1(1.2) explizit darauf bezieht: E1: In den Fällen, die nicht durch § 36(1) bis (6) geregelt sind, schreibt man
getrennt. Siehe auch § 36 E2. Dies betrifft
(1) Fälle, bei denen das dem Partizip zugrunde liegende Verb vom ersten Bestandteil getrennt geschrieben wird, und zwar
(1.1) entsprechend § 35, zum Beispiel: [...]
(1.2) entsprechend § 34 E3(2) bis (6), zum Beispiel: [...] § 36 E1 ist wegen § 36 E2 nicht redundant.
Aber zurück zu § 34: Man kann also davon ausgehen, daß die unter § 34 E3 genannten Kriterien wiederum auf die gesamte Grundmenge anzuwenden sind, so daß es zu einem Überlapp der Teilmengen der Zusammen- und der Getrenntschreibungsfälle kommen kann. Aber selbst wenn man das nicht tut (und also § 34 E4 für vollkommen irrelevant bzw. überflüssig hält, weil es die darin beschriebenen Fälle nicht gibt), sondern von disjunkten Teilmengen ausgeht, führt die Existenz der zusätzlichen Getrenntschreibungskriterien dazu, daß es Fälle geben kann (und es gibt sie!), die zwar zur Grundmenge gehören, aber weder von einem der Zusammen- noch von einem der Getrenntschreibungskriterien erfaßt werden (Beispiel: immer_grün).
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Jan-Martin Wagner
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