Kein Gespür für Vokallängen?
Mit Vokallänge und –kürze sind auch andere Eigenschaften fest verbunden, die die Identifizierung zusätzlich erleichtern. Ich meine, daß sich diese dazugehörigen Eigenschaften deshalb überhaupt erst entwickelt haben. Die Vokalqualität hatte ich in dieser Hinsicht schon angesprochen (kurze Vokale sind anders gefärbt als ihre lange Entsprechung, so jedenfalls im Deutschen). Man kann auch die Silbengelenkhaftigkeit dazurechnen. Dadurch daß man die erste Silbe bei Hammer geschlossen spricht, wird die Vokalkürze noch deutlicher wahrnehmbar. Ich hatte dazu einmal etwas im „Ickler Wörterbuch“-Forum unter „Buchstaben und Laute“ geschrieben. Dagegen wurde eingewendet, daß ich bereits durch die Zerlegung in Einzellaute einen methodischen Fehler begangen habe. Würde man aber einer Versuchsperson das Wort Tinnel diktieren, und diese Person würde, obwohl sie dieses Wort nie zuvor gesehen oder gehört hat, tatsächlich Tinnel schreiben, warum sollte man ihr dann eine lautliche Unterscheidungsfähigleit absprechen? Wir werden zu sorgfältigem Sprechen und Zuhören durch unsere Umwelt gezwungen (waren da nicht die beiden berühmten Beispiele „in Massen“ und „in Maßen“, die exakt im gleichen Kontext vorkommen und sich nur durch Vokallänge unterscheiden?), und beim Schreibenlernen ergibt sich der Zwang zum genauen Zuhören und Vorsprechen (Sich-selbst-Vorsprechen) – zum „Rastern“ der Laute – gleich noch einmal. Skinner begreift den einzelnen Laut als kleinste sprachliche Verhaltenseinheit (auch die Pause zwischen Wörtern könnte man wohl dazu zählen). Ich zitiere ein wenig zur Erklärung vorweg: Operant ist eine durch Konditionierung erworbene Verhaltenseinheit, Echo bedeutet etwa Nachahmung (das Verhalten ähnelt dem stimulierenden Reiz).Was ist die kleinste Einheit des Sprachverhaltens? Es geht hier nicht um die Frage, was die kleinste akustische oder geometrische Einheit ist, mit der wir das Reden oder Schreiben als physische Ereignisse beschreiben. Vielmehr geht es um die kleinste Reaktion, die unter der funktionalen Steuerung einer einzigen Variablen steht. Für die Beantwortung dieser Frage bietet das Echoverhalten einen besonders günstigen Ausgangspunkt, denn hier kann die formale Entsprechung zwischen Reiz und Reaktionsprodukt auf der Ebene der „Sprachlaute“ oder akustischen Eigenschaften aufgewiesen werden.
Man ermuntert das Kind, solche Laute wie ä, sp usw. zu wiederholen. … Das Kind kann Reaktionen vom Umfang einer Silbe, eines Wortes oder sogar eines Satzes als einheitliche Echo-Operanten hervorbringen. Um aber einen neuen Reiz echohaft nachzuahmen, wird es auf das Repertoire einzelner Laute zurückgreifen.
„… , wollen wir dies durch Bekräftigung der Reaktion Alligator in Gegenwart des Alligators tun. Aber wir können nicht warten, bis eine solche Reaktion zufällig einmal auftritt, und das Verfahren der allmählichen Herausformung könnte ebenfalls zu lange dauern. Können wir hingegen die Reaktion als Verbindung kleiner Echo-Einheiten hervorrufen, die zuvor noch nie in dieser Reihenfolge verbunden worden sind …"
Kleinste Echo-Operanten scheinen natürlicherweise funktional zu werden, wenn ausgedehntere Operanten aufgebaut worden sind. Hat das Kind ein Dutzend komplexe sprachliche Reaktionen erworben, die alle mit dem Laut b beginnen, wird es mit Erfolg ein dreizehntes Muster echoen, das ebenfalls mit b beginnt, und damit auch die umfangreichere Reaktion mit b am Anfang. Wenn dies geschieht, müssen wir die funktionale Unabhängigkeit eines Echo-Operanten anerkennen, der nicht größer als b ist.
Wie groß ist die kleinste auf diese Weise erreichbare Einheit? Wenn ein Echo-repertoire Stück für Stück aufgebaut wird, wie es durch pädagogische Bekräftigungen geschieht, dann werden die einander entsprechenden Einheiten je für sich bekräftigt, aber es ist nicht klar, worin das endgültige Repertoire größerer Operanten oder auch nur kleiner pädagogischer Operanten besteht. (Es geht hier nicht um die Dimensionen, die man für die wissenschaftliche Aufzeichnung der Rede benötigt, denn diese können für das wirkliche Sprachverhalten funktionslos sein.) Der Sprachlaut – das „Phonem“ des Sprachwissenschaftlers – ist nicht notwendigerweise die kleinste Einheit. Ein geschickter Stimmenimitator verfügt über eine Art „feinkörniges“ Repertoire, das ihn in die Lage versetzt, neue Lautmuster genau zu echoen. Es erlaubt ihm auch, Intonationen, Akzente und persönliche Eigenheiten der Stimme nachzuahmen, ebenso wie nichtsprachliche Laute: Vogelstimmen und andere Tierlaute oder Maschinengeräusche.
Es ist wichtig, auf welchen Grad von Genauigkeit eine bestimmte bekräftigende Gemeinschaft Wert legt. Im allgemeinen tut der Sprecher nicht mehr, als von ihm verlangt wird. In einer Sprachgemeinschaft, die nicht auf genauer Entsprechung besteht, kann ein Echorepertoire unpräzise bleiben …"
(Skinner, Sprachverhalten, Kap. 4, dort „Der kleinste Echo-Operant“, Übers. Th. Ickler, vielen Dank noch einmal!) Mit der Vokallänge geht im Deutschen auch eine ganz leichte Diphthonguierung einher. Darauf hat uns Detlef Lindenthal schon hingewiesen (Die Schreibung ie macht das noch deutlich). Und ist nicht gerade der sprachgeschichtliche Lautwandel zwischen Langvokal und Diphthong besonders typisch?
Vokallänge und –kürze sind also mehrfach gegen Verwechselung abgesichert! Und selbst wenn sich der Diphthong aus den offenen – „kurzen“ – Vokalqualitäten zusammensetzt, so sollte doch zumindest der Diphthong als Zwielaut wahrnehmbar sein. Die Nähe der Langvokale zum Diphthong (z.B. beim affektierten Sprechen) läßt sich vielleicht sogar besser belegen als dessen eingeschränkte Dehnbarkeit. Zudem folgt dem Diphthong nie ein Silbengelenk.
Es mag nicht immer klar zu entscheiden sein, ob ein Vokal kurz oder lang ist; wie steht es z.B. mit dem a in folgsamer? (Gibt es hier vielleicht ein Silbengelenk?) Für Fremdwörter gelten ohnehin andere Regeln (Kamera). Aber dort, wo es um das Heysesche ss geht, ist es immer völlig unzweifelhaft. Es handelt sich hier immer um betonte Stämme.
Die üblichen phonetischen Transskriptionen geben sicherlich nur die „Oberfläche“ des normalen, unaffektierten, deutlichen aber nicht „überdeutlichen“, „neutralen“ Sprechens wieder. Das ist aber nicht die gesamte Sprachwirklichkeit. Vielleicht kommt unter bestimmten Umständen auch Kind oder Brigg mit stimmhaftem Auslaut vor, ohne daß dies gleich eine Aussprache „nach der Schrift“ wäre. Durch den Besitz des Aussprache-Dudens werden wir nicht zu Phonetikern. Der Umkehrschluß kann aber nicht sein, daß der Sprecher von Aussprache nichts versteht.
|