Wie man der Wahrheit aus dem Weg gehen kann
Ich erlaube mir, einen Kommentar vom Nachrichtenbrett, der aber dort zusammenhanglos herumvagabundiert, hier noch einmal einzustellen:
Wenn ich könnte wie ich wollte, dann würde ich jeden die Reform verteidigenden Ministerpräsidenten nötigen, zu dem heutigen Artikel von Professor Ickler in der FAZ Punkt für Punkt Stellung zu beziehen.
Würden sie dies nämlich tun, müßten sie dann nicht ihre Befürwortung aufgeben und wir hätten die Chose vom Tisch?
Es sind doch alles keineswegs Dummköpfe aber an diesem Punkt wollen sie mit höchster Konsequenz an der Wahrheit vorbeischauen. Dagegen könnten sie argumentieren: Gibt es das denn DIE Wahrheit? Kommt es nicht ganz darauf an, von welcher Seite man die Angelegenheit betrachtet? Ist es denn etwa nicht wahr, daß die Rechtschreibreform vor Jahren an den Schulen eingeführt wurde und „der Zug deshalb abgefahren“ ist?
Natürlich ist das wahr, aber es ist eine sehr platte Wahrheit. Es gibt nämlich eine hierarchische Abstufung der Wirklichkeit, z.B. so: Realität I > Realität II > Realität III.
Zu Realität I gehört, daß wir ein Geoid (angenähert ein Rotationsellipsoid) bewohnen, auf dem Gesetze gelten, die vorgegeben (und nach unseren Maßstäben konstant) sind. Zu Realität II zählen Tatsachen (oder lat. Fakten) da ist etwas getan (oder unterlassen) worden, das für sich (oder in seiner Auswirkung) Konsequenzen hat (und sei es nur die, daß man sich an das Getane erinnert). Realität III ist die Welt der Vorstellungen oder Ideen (die wie wir alle wissen äußerst wirkungsmächtig werden können, z.B. der Weihnachtsmann oder der Kommunismus).
Die Sprachen haben eine starke Affinität zu Realität I: Sie sind auf uns als Gegebenes gekommen; sie beinhalten Gesetzmäßigkeiten, die wir nicht einfach willkürlich ändern können und die über lange Zeiträume gelten (wenngleich sie sich, wie das Leben selbst, weiterentwickeln).
Die Rechtschreibreform ist ein Systembruch. Entstanden aus Realität III (der Vorstellung, es müßten dekretierbare Regeln entwickelt werden können, die die Sprache besonders die geschriebene Sprache für Schüler einfach, klar und wahr machen würden), gehört sie klar der Realität II an und pfuscht (daher naturgemäß erfolglos) an der Sprache herum, die an Realität I angedockt ist.
Das hat das Bundesverfassungsgericht nicht verstanden (fast ist man versucht zu fragen: woher auch?), aber auch der KMK-Riege und den die RSR befürwortenden Ministerpräsidenten kann man so man sie entschuldigen will (oder auch gerade nicht) unterstellen, daß in ihrer Sicht dieser Systembruch eine quasi „unschuldige Tat“ darstelle. Die Gegner der Rechtschreibreform (z.B. insbesondere die Dichter) haben viel besser verstanden (oder spüren es zumindest), daß hier tatsächlich Welten aufeinanderprallen. Die Dichter könnten es vielleicht so ausdrücken, daß sie das Kulturgefäß Sprache, das sie nur für begrenzte Zeit in der Hand halten dürfen (bevor sie es an die nächste Generation weiterreichen), als gegenwärtiges und lebendiges Zeugnis unserer Kultur mit Bewunderung und Ehrfurcht behandeln. (Oder so ähnlich. Da ich kein Dichter bin, geht mir das nicht so locker von der Tastatur.)
Diese Ehrfurcht, diese dienende Funktion (die dabei durchaus auch Stolz kennt), fehlen den Reformern und der sie stützenden Bürokratie leider völlig. Dichter und Sprachwissenschaftler unterscheiden sich darin nicht: beide versuchen nicht, der Sprache etwas aufzuzwingen, sie dienen ihr vielmehr. (Sie untersuchen z.B., ob die Reform der Sprache entspricht oder sie vielleicht gar verletzt. So kann man durchaus überprüfen, was stimmt und was nicht, und sogar das, was gut ist und was nicht so gut ist.) Die Reformer erweisen sich bei einer solchen Prüfung als schlechte Wissenschaftler. Und so sehen auch alle, die ihnen folgen, an der Wahrheit vorbei. (Schlimmer noch: Sie nehmen gar nicht wahr, daß sie es tun.)
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Dr. Wolfgang Scheuermann
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